Inklusion

Inklusion bedeutet nicht die Integration von Menschen mit Beeinträchtigungen in das bestehende, normierte Schulsystem. Inklusion hat nichts mit Integration in irgendein System zu tun, sondern bedeutet das Gegenteil: Nämlich, dass nicht von einem »richtigen« (normierten) System aus gedacht wird, sondern von der real existierenden Vielfalt – weit über »Menschen mit Beeinträchtigungen« hinaus. Vielfalt anzuerkennen heißt: von jedem einzelnen Menschen auszugehen und von seinen ganz eigenen Stärken – und nicht von einer Beschriftung, die ihn einer speziellen Gruppe zuordnet. Wo Beschriftungen stattfinden (»Das sind die I-Kinder und das sind die muslimischen Kinder und das sind die verhaltensauffälligen Kinder« usw.) und wo Noten der Maßstab von Bewertung sind, kann Inklusion nicht wirklich stattfinden.

Erläuterung: In unserem Bildungssystem zeigen sich bei der Umsetzung von Inklusion zunehmende Schwierigkeiten. Diese basieren auf unterschiedlichen Vorstellungen, was Inklusion bedeutet.

Inklusion bedeutet nicht die Integration von Abweichenden in ein normiertes System. Inklusion bedeutet, sich von einem als Norm gesetzten Maßstab zu verabschieden und stattdessen Vielfalt als „Normalzustand“ einer Gesellschaft zu begreifen.

Inklusion kann nur gelingen, wenn konzeptionell von der Vielfalt ausgegangen wird. Das heißt: Wenn selbstverständlich ist, dass grundsätzlich alle Menschen sehr verschiedene Ausgangsvoraussetzungen mitbringen und keinerlei Vergleichbarkeit angestrebt wird.

Derzeit besteht aber in Schule und Gesellschaft eine gedankliche Norm fort. In den Köpfen gibt es das, was “normal” ist, und das, was davon abweicht. Auf dieser Grundlage wird versucht, “gerechte” und „gleiche“ Bedingungen herzustellen, indem man alle “Abweichenden“ verschiedenen Kategorien zuordnet, sie in entsprechende Gruppen einteilt und für diese Gruppen besondere Regeln und Bedingungen ausarbeitet und auf sie anwendet, um ihnen zu “helfen” innerhalb der Norm einen Platz zu finden:

Die „I-Kinder”, die Kinder „mit Migrationshintergrund”, die “Em-Soz.“-Kinder, die “ADHS-Kinder, die Kinder mit “Förderbedarf“ (und diese in weiter unterteilten spezifischen Gruppen), und so weiter und so fort. Und für jede dieser Gruppen sollen besondere Bedingungen geschaffen und zusätzliches Personal bereitgestellt werden, mit dem Ziel, die „Abweichenden“ in ein normiertes System zu integrieren, indem man versucht ihren „Besonderheiten gerecht zu werden“, die aber unausgesprochen mehrheitlich als Defizite wahrgenommen werden.

Dies ist das Gegenteil von Inklusion und führt zunehmend zur totalen Überforderung aller Beteiligten, zu nicht hinnehmbaren Kompromissen, die auf Kosten der Kinder gehen und zum Zusammenbruch der bestehenden Schulstrukturen.

Das Scheitern hat folgende Gründe:

Erstens, weil die Menschen, die ein und derselben Gruppe zugeordnet werden, in der Folge schwerpunktmäßig nur noch über die Beschriftung wahrgenommen werden, mit der man die entsprechende Gruppe versehen hat.

Es ist aber absurd, zu glauben, dass beispielsweise alle Menschen, die gehörlos sind, gleich sind. Sie sind sich noch nicht einmal ansatzweise ähnlich. Oder alle Menschen mit einer „Rechtschreibschwäche“… Oder alle Menschen, die im Rollstuhl sitzen… oder aus Kriegsgebieten geflüchtet sind… Es handelt sich hier überall um grundsätzlich völlig verschiedene Menschen mit völlig verschiedenen Persönlichkeiten, Biografien, Bedürfnissen, Potentialen.

Die Beschriftung der „Abweichenden“ führt daher nicht zu individuell größerem Bildungserfolg, sondern ganz im Gegenteil dazu, dass diese Menschen von anderen Menschen überhaupt erst als defizitär wahrgenommen werden. Der Fokus der Wahrnehmung liegt auf dem spezifischen Merkmal, das die Menschen der entsprechenden Gruppe zuordnet. Es wird durch die Beschriftung nun erst recht der Aspekt der Abweichung von der Norm wahrgenommen. Exklusives Denken wird verschärft, statt dass Vielfalt als etwas Positives wahrgenommen wird.

Zweitens führt diese Vorgehensweise in ein Dilemma der Unendlichkeit: Wie viele „Auffälligkeiten“ und „Abweichungen“ und dementsprechend beschriftete Gruppen wollen wir noch ausfindig machen und wie viele Förderlehrpläne wollen wir noch schreiben? Irgendwann werden wir feststellen, dass von 27 Kindern 27 „abweichen“. Denn kein Kind ist so wie ein anderes. Kein Mensch ist wie ein anderer. Und unsere Welt ist inzwischen grundsätzlich divers und ähnelt in keiner Weise mehr der Gesellschaft, in der die bestehende Auffassung von Bildung in Kategorien und Standards entstanden ist.

Das Benennen von „Abweichungen“ und in der Folge die Bestrebungen, für jeden „Sonderstatus“ spezifische Lernbedingungen und entsprechende Bewertungsmaßstäbe zu finden, führt in den Schulen zu einer immer größeren Überforderung. Die beabsichtigten „differenzierten Lernbedingungen“ und das Personal, das dafür benötigt wird, kann – offensichtlich – nicht ausreichend bereitgestellt werden.

Die Situation, die daraus entsteht, ist für alle Beteiligten unbefriedigend bis untragbar: Sie führt dazu, dass eine wachsende Anzahl an jungen Menschen in den Schulen entweder überfordert oder unterfordert ist, aber kaum jemand gemäß seinen Bedürfnissen und Potentialen individuell gefördert werden kann.

Nicht wenige Eltern, Lehrkräfte und Politiker sprechen bereits davon, dass „Inklusion gescheitert sei“. Dabei wurde tatsächliche Inklusion noch nicht einmal versucht.

Denn der Grundgedanke, von einem „Normal-Zustand“ oder einem Standard auszugehen, verhindert gerade die innovative Idee und Wirkkraft von Inklusion.

Es braucht also einen grundlegenden Perspektivwechsel und konkrete Konzepte, die von der Vielfalt ausgehen, keine Beschriftungen und Zuordnungen vornehmen und stattdessen die Verschiedenheit der Potentiale des Menschen konstruktiv verstärken.

Das von mir entwickelte Mischpult-Prinzip ist ein konstruktiver Vorschlag für ein Konzept, das von der Vielfalt ausgeht. Siehe Mischpult und Mischpult-Prinzip