Demokratie

Wir leben in seltsamen Zeiten. Zumindest fühlen sie sich seltsam an für einen Menschen wie mich, der bisher die Demokratie irgendwie für selbstverständlich gehalten hat, wie die Luft zum Atmen. Heute wird Donald Trump als amerikanischer Präsident vereidigt.
Und auch anderswo scheint die Demokratie plötzlich alles andere als selbstverständlich zu sein. Leben wir in Zeiten, zu denen unsere Kinder uns später befragen werden: Warum habt ihr denn nichts getan?

Es könnte eine gute – vielleicht eine dringende – Idee sein, sich ernsthaft Gedanken zu machen, was Demokratie eigentlich ausmacht.

Was ist quasi das Gewebe, die Matrix der Demokratie?
Was müssen wir tun, um sie zu erhalten?

Was können wir tun, um sie für alle Menschen als persönlichen Gewinn spürbar zu machen?
Was können wir tun, um die Ursachen für den „Die-da-oben-Frust“ auszuhebeln?Für mich persönlich fand die erste bewusst spürbare Begegnung mit Demokratie in einer Situation statt, in der man sie wohl am wenigsten erwartet. Sie kam als eine Art sehr überraschende LÖSUNG für ein Problem daher, nämlich in meinem Unterricht an einer Hauptschule in Neukölln.

Das Problem war: Ich fand mich dort plötzlich in einer Situation wieder, in der nicht nur zwei, drei Jugendliche nicht mitmachten, sich verweigerten, sich ausgeschlossen fühlten und rebellierten. Sondern ALLE.

Wenn man mit einer Gruppe von Menschen arbeiten möchte, in der sich ALLE verweigern, wird es schwierig zu behaupten, dass aber EIGENTLICH alles in Ordnung ist.

Autoritär gegenan zu „regieren“ nützte gar nix. Also habe ich es mit Demokratie versucht. Schritt für Schritt. Ich dachte, die Lösung müsste sein, sie ALLE ernsthaft zu beteiligen, ihnen zu beweisen, dass wirklich jede einzelne ihrer individuellen Meinungen und Gedanken von Bedeutung fürs Ganze ist und tatsächlich etwas bewirken kann.

Und da kam mir dann doch der Verdacht, dass Demokratie NICHT selbstverständlich ist… Dass es kein bisschen leicht werden würde. Aber das war der Anfang meines persönlichen Nachdenkens darüber, wie man demokratisch führt und was das überhaupt heißt. Daraus hat sich das gesamte partizipative Konzept entwickelt, nach dem wir jetzt auch bei ACT arbeiten.

Grundsätzlich wurde mir damals klar, dass „demokratisch arbeiten“ zunächst einmal partizipativ arbeiten heißt. Dass es an dieser Stelle aber einen entscheidenden Unterschied zwischen exklusiven und inklusiven Systemen gibt:

Wenn Demokratie funktionieren soll, müssen wir MEHR tun als bisher und exklusive Systeme, die eine Norm ausformulieren, hinterfragen.

In exklusiven Systemen herrschen einige wenige. In inklusiven Systemen werden die einzelnen ermächtigt, das Eigene einzubringen und gleichzeitig Verantwortung zu übernehmen.

Verantwortung übernehmen heißt demokratisch führen können – und wurde bisher nicht ausreichend vermittelt. Es MUSS um die Fähigkeit der DEMOKRATISCHEN FÜHRUNG gehen – denn: Demokratisch folgen hat ganz offensichtlich nicht gereicht:

„Demokratisch folgen“ hat dazu geführt, dass eigentlich niemand weiß, was Demokratie ist und wie man da mit macht. Es hat dazu geführt, dass viele denken, „die da oben“ machen irgendwas, das mit ihnen selbst nichts zu tun hat. „Demokratisch folgen“ hat dazu geführt, dass niemand genug Gründe sieht, wirklich für die Demokratie zu kämpfen. Das ist erschreckend. Denn Demokratie sind wir selber. Wenn wir nichts machen, gibt es gar keine Demokratie.

Demokratie braucht selbständig denkende und handelnde Menschen, die sich verantwortlich fühlen. Man könnte auch sagen, es braucht Menschen, die keine Opfer sind. Menschen, die sich nicht selbst bemitleiden, sondern anpacken. Die agieren, statt zu reagieren – auch und gerade dann, wenn es schwierig wird und die Umstände schlecht sind.

Es braucht jetzt Menschen, die – auch entgegen aller Wahrscheinlichkeit – glauben, dass ihre Ideen in der Welt realisierbar sind und die nicht aufgeben, Lösungen zu suchen, ihre Ideen umzusetzen. Menschen, die glauben, dass die Welt veränderbar ist und dass sie selbst die Fähigkeit dazu haben.

Unsere Schulen bringen solche Persönlichkeiten nicht hervor. In den Schulen haben wir aber auch seit langem auf Anpassung gesetzt. Auf „demokratisch folgen“. Schule ist noch immer ein exklusives System. Ein System, in dem niemand was macht, wenn „es nicht erlaubt ist“…

Dabei ist Demokratie so überraschend spannend, wenn sie – durch die einzelnen Menschen! – wirklich funktioniert: Was ich im ganz Kleinen da in Neukölln schon heraus fand, war: Wenn ich es schaffe, dass sie wirklich alle mit ihrem jeweils Eigenem beteiligt sind, dann laufen sie zur Hochform auf. Dann werden ganz andere Leistungen möglich. Dann wird Vielfalt – also ihre gesamte Unterschiedlichkeit – als Reichtum sichtbar.

Um ein solches produktives, inklusives Setting zu erschaffen, braucht es ein Hinterfragen und Umdenken der Machtverhältnisse, einen Perspektivwechsel und verantwortungsvolle DEMOKRATISCHE FÜHRUNG. Denn Demokratie entsteht nicht von selbst.

Demokratische Führung heißt: Jemand (also erstmal die Lehrkraft, die Kursleitung) muss konsequent mit dem demokratischen Führen anfangen und die Gesetzmäßigkeiten dieser Form von Führung komplett transparent machen, damit sie zunehmend von anderen übernommen werden kann.

Demokratische Führung heißt: WISSEN, WIE ich Verantwortung für mich selbst und für andere übernehmen kann und ES ZU TUN. Mit dieser Fähigkeit werden wir NICHT geboren. Aber man kann sie erlernen. Und das ist persönlich erfüllend.

DESWEGEN war es auch die Lösung bei den Schüler_innen in Neukölln. Es war ein persönlich spürbarer Mehrwert für sie – ansonsten hätte ich sie damit auch nie erreichen können. Denn was die Lehrer wollten oder ob sie schlechte Noten hatten, das interessierte sie überhaupt nicht mehr.

Es war also ausgerechnet eine demokratische Arbeitskultur, die die Jugendlichen, die sich abgehängt und gedemütigt gefühlt hatten, wieder zu Höchstleistungen, Optimismus und Verantwortungsgefühl brachten.

Aus diesen langjährigen Erfahrungen habe ich mit genommen, dass Demokratie nur dann positiv spürbar wird (und eben nicht als langwierige, unverständliche Komplexität!), wenn ALLE demokratisch führen können im Sinne von:

Wissen, wie ich für andere und für ein gemeinsames Anliegen die Verantwortung übernehmen kann. Das zu erreichen muss unsere wichtigste Aufgabe in diesen Zeiten sein! Und sie geht weit über das Feld Bildung hinaus. Aber sie ist machbar!

Wenn wir unsere Demokratie erhalten wollen, müssen wir dafür sorgen, dass so viele Menschen wie möglich zu wirklicher Autonomie ermutigt werden und das komplexe Gewebe von Demokratie als HANDLUNGSSPIELRAUM zu nutzen verstehen – kurz: DASS SIE DEMOKRATISCH FÜHREN LERNEN.