Gedanken zur Kulturellen Bildung

Die letzten Tage an der Schule. In diesem letzten vergangenen Halbjahr nahm die Klasse an einem außerschulischen künstlerischen Projekt teil. Wir haben uns in dieser Woche entschieden, dieses Projekt abzubrechen. Ich weiß, was das für die beteiligten KünstlerInnen bedeutet: Es kommt einer kleinen Katastrophe nahe. Ich habe so etwas noch nie gemacht. Und dennoch glaube ich, dass es richtig war. Im Folgenden möchte ich meine grundsätzlichen Gedanken zu diesem und anderen Projekten der Kulturellen Bildung beschreiben. Ich setze vorweg ein Zitat von Harald Welzer (aus: »Selbst denken – Eine Anleitung zum Widerstand«, S. Fischer Verlag 2013, S. 226–228):

»Jede und jeder hat auch die Möglichkeit, über die Themen zu sprechen, die ihr oder ihm wichtig sind, und genauso besteht in einem Rechtsstaat jederzeit die Möglichkeit zu benennen, was nicht in Ordnung ist. Kurz: Es existiert eine unendliche Menge von Möglichkeiten, es sich selbst und anderen unbequem zu machen. Das ist allerdings leicht gesagt, aber schwer getan. Man verletzt nämlich soziale Erwartungen, wenn man nicht einverstanden ist. (…) Denn das Erwartbare fordert keine Erklärung, das Abweichende muss begründet werden. (…) Auch wenn es faktisch nach allen rationalen Kriterien nichts kostet, seiner eigenen Überzeugung zu folgen, sind die sozialen Kosten dafür oft erstaunlich hoch, und allzu oft eben zu hoch, um sie zu entrichten. (…)«

Ich begründe nun das Abweichende wie folgt:

Liebe … (…)

Es tut uns sehr leid, dass wir das Projekt mit Ihnen abbrechen mussten. Es ist für uns kein leichter Schritt gewesen. Dennoch bin ich weiterhin überzeugt davon, dass es für die Klasse in dieser Weise nicht mehr tragbar war. Ich möchte hier unsere Entscheidung begründen, um verständlich zu machen, dass es hier nicht um das Verteilen von »Schuld« geht, sondern eher um eine grundsätzliche Haltung zu künstlerischen Projekten mit Kindern und Jugendlichen:

Gedanken zur Zusammenarbeit von KünstlerInnen mit Schulen

Projekte mit KünstlerInnen werden in der Öffentlichkeit oft mit großem Tam Tam als Erfolgsgeschichten präsentiert (sogenannte »Hochglanzprojekte«). Dabei werden problematische Aspekte dieser Arbeit häufig verschwiegen – wie zum Beispiel die Frage nach dem Anteil der Partizipation der Jugendlichen und somit der Nachhaltigkeit eines solchen Projekts.

In Projektanträgen vielfach und überdeutlich beschworen, spielt der Aspekt der Partizipation und der Nachhaltigkeit (inwieweit werden die SchülerInnen – tatsächlich! – in künstlerische Prozesse einbezogen) in Wahrheit kaum eine Rolle, was oft gar nicht möglich ist, wenn man die Prozessbedingungen genauer unter die Lupe nimmt.

Bevor eine eigenständige, künstlerische Auseinandersetzung überhaupt statt finden kann, müssen offenbar immer häufiger zunächst überhaupt die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, wie zum Beispiel Sozialverhalten, Konzentrationsfähigkeit, Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zwischen allen Beteiligten, Empathie-Vermögen, Anerkennung von Regeln, usw. (Dies mag in einigen SchülerInnen-Gruppen mal mehr, mal weniger der Fall der sein – häufig besteht hier ein Zusammenhang zum sozialen Hintergrund der Beteiligten: Je ähnlicher der soziale Hintergrund zwischen Leitung und Jugendlichen, desto eher können wir von Grundlagen in den oben genannten Feldern ausgehen. Je mehr aber der soziale Hintergrund zwischen Anleitenden und Jugendlichen differiert, desto komplexer und professioneller muss pädagogisch und methodisch darauf Rücksicht genommen werden.)

Künstler, die häufig in einer relativ kurzen Zeit gezwungen sind, präsentable Ergebnisse in der Öffentlichkeit zu präsentieren, können aber auf die Entwicklungsschritte der Jugendlichen oft kaum Rücksicht nehmen, so dass dann nur ein künstlerisches Konzept von außen »übergestülpt« werden kann, das dann viel Lob und Applaus einbringt, mit dem Anspruch der Partizipation aber nichts zu tun hat. Oft werden Jugendliche hier ausschließlich für die Interessen anderer instrumentalisiert.

(Es reicht beispielsweise nicht aus, ein künstlerisches Konzept zu entwerfen und die Jugendlichen dann zu »Ausführenden« der Idee des Künstlers zu machen. Besonders fragwürdiges Beispiel: Ein klassisches Stück wird mit SchülerInnen eingeübt und andere SchülerInnen müssen auf Kommando des Künstlers Bewegungen dazu ausführen. Die Gestaltungsvorschläge der Jugendlichen sind dabei nur störend. Sie sollen möglichst schnell und effizient das umsetzen, was der Künstler sich vorgestellt hat. Die Persönlichkeit des Jugendlichen kann in einer solchen Konzeption nur als störend empfunden werden. Wird das Ganze dann noch mit autoritärem Ton und wenig Geduld und Einfühlungsvermögen des Künstlers für die Kinder praktiziert, entstehen bei diesen zwangsläufig innere Widerstände und Trotzreaktionen oder – noch schlimmer! – das Bestreben »gehorsam zu sein«, um dafür Lob zu ernten und alles Eigene hinten an zu stellen. Letzteres führt dazu, dass die Kinder ihre eigenen Ideen zunehmend für minderwertig halten und sich kein eigenes Urteil, keine eigene Idee mehr zutrauen.)

Hier sprechen Jugendliche dann eben nicht »mit eigener Stimme«, hier haben sie sich nicht eigenständig mit künstlerischen Formen auseinandergesetzt und ihre eigene Form, ihre eigenen Inhalte gefunden (wie es in Projekten der Kulturellen Bildung zu Recht eingefordert wird). Da dies bei einer öffentlichen Theatervorstellung dem ahnungslosen Betrachter nicht sofort ins Auge fällt, werden diese Missstände häufig übersehen.

Das aber kann nicht ernsthaft als »Kulturelle Bildung« verkauft werden. Das Wort »Kulturelle Bildung« beinhaltet und verspricht etwas anderes. Sieht man sich aber derzeit die Bedingungen sowohl der Künstler als auch der Theaterlehrer in kulturellen Projekten genauer an, muss man feststellen, dass dieses Versprechen, dass dieser Anspruch in einigen Projekten überhaupt nicht erfüllt werden kann.

Um Jugendliche zu selbstständigen künstlerischen Arbeitsprozessen zu befähigen, braucht es bei weitem mehr als ein abgeschlossenes künstlerisches Studium oder eine Vita als erfolgreicher Künstler. Allein schon deshalb, weil diesen Jugendlichen oft jegliche Grundvoraussetzungen für eine solche Arbeit fehlen.

Theaterunterricht mit Jugendlichen erfordert heute neue und differenziertere (künstlerische und pädagogische) Konzepte und mehr Freiräume, um mit extrem heterogenen Gruppen zu gleichwertig qualitativen Ergebnissen zu kommen.

Eine Trennung zwischen den Positionen »Künstler« und »Pädagoge« ist dabei nicht mehr zielführend.

Projekte, in denen „Künstler“ ihre eigenen Ideen mit Jugendlichen umsetzen wollen, sich dabei aber aus jeglichen pädagogischen Reflexionen heraushalten wollen und die LehrerInnen nur als »Dompteure« brauchen, die ihnen die Kinder gefügig machen sollen, entlarven eine grauenhaft veraltete Vorstellung von Erziehung – und werden den Potenzialen aller Beteiligten in keiner Weise gerecht. Sowohl SchülerInnen als auch PädagogInnen werden in einem solchen Konzept zu Statisten degradiert.

Um eine erfüllende Kooperation mit Künstlern zu ermöglichen, sollten wir uns folgende Fragen stellen:

Was ist der Unterschied zwischen einem Pädagogen und einem Künstler?
Kann ein Künstler gleichzeitig ein Pädagoge sein? (Ich kenne einige).
Kann ein Pädagoge gleichzeitig ein Künstler sein? (Ich kenne einige).
Stehen sich Künstler und Pädagogen mit aufrichtigem gegenseitigen Respekt und Wertschätzung gegenüber oder denkt der eine, »der andere müsste für die Zusammenarbeit dankbar sein«? (Überheblichkeit)
Wer übernimmt innerhalb der Kooperation welche Aufgaben?
Welche Grundvereinbarungen müssen getroffen werden, damit die Kommunikation zwischen Pädagogen und Künstlern fruchtbar ist?

Dazu folgende Beobachtungen:

Es gibt Künstler, die überhaupt keine Pädagogen sind. Und weil sie überhaupt keine Pädagogen sind, fehlt ihnen auch jegliche Sensibilität, dafür, was ihnen bei der Arbeit mit den Jugendlichen fehlt. Dies macht sie gegenüber den Pädagogen, die ihnen eigentlich helfen könnten, oft beratungsresistent. (Ein professioneller pädagogischer Prozess erfordert mehr, als die Jugendlichen kurzfristig zu disziplinieren, siehe oben.) Diese Künstler mögen Profis auf dem Gebiet der »Kunst« sein, nicht aber im Umgang mit Jugendlichen.

Beispiel: Der Künstler verfällt in eine destruktive, angespannte und autoritäre »Konzertmeister-Haltung«, die allen Beteiligten das Gefühl vermittelt, man könne ihn in seiner ganzen Genialität nicht ansprechen, ohne massiv zu stören bzw. den Ablauf zu gefährden. Eine solche Haltung verhindert jegliche konstruktive Kommunikation und steht einem partizipativen, künstlerischen Prozess diametral entgegen). Ein so »tickender« Künstler weigert sich, selbstkritisch über Reibungen und Konflikte im Prozess zu reflektieren und sich seine Haltung den Jugendlichen gegenüber bewusst zu machen. Er verfällt beispielsweise in Formen der »Schwarzen Pädagogik«, brüllt die Schüler an oder reagiert auf jeden Konflikt mit den Jugendlichen mit persönlicher Befindlichkeit (»Der hat mich beleidigt. Jetzt kann ich mit dem nicht mehr arbeiten.« oder: »Die sagt, sie kommt gar nicht zu den Vorstellungen – ist die noch bei Trost? Dann darf die jetzt nicht mehr mitmachen…«) Er schwankt zwischen autoritärem Befehlston und Anbiederei bei den SchülerInnen hin und her: Das, was wahrscheinlich jeder am Anfang ohne jegliche Erfahrung in einer pädagogisch herausfordernden Situation machen würde. Entscheidend für eine produktive Zusammenarbeit mit anderen ist, ob er dieses Defizit überhaupt bereit ist zu erkennen.

Dies wäre nämlich die Voraussetzung für eine konstruktive und erfolgversprechende Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen »KünstlerInnen« und »PädagogInnen« (mit allen Schnittmengen, die beide möglicherweise haben).

Es passiert äußerst selten, dass irgendwo ganz von selbst alle Beteiligten »wie eine Familie«, »demokratisch« zusammen arbeiten und alles friedlich und gleichberechtigt gemeinsam entscheiden. Dies ist nur möglich, wenn alle sehr offen miteinander kommunizieren und sich ihrer Fähigkeiten, ihrer Schwächen und ihrer Positionen innerhalb des Prozesses bewusst sind. Wo immer man arbeitet, braucht jeder seinen Platz und seinen Verantwortungsbereich. Und jeder muss auf seinem Gebiet ein Profi sein und sich auch den anderen gegenüber dementsprechend professionell (d.h. unter anderem auch wertschätzend und respektvoll) verhalten.

Hilfreich wären Gespräche darüber im Vorfeld, in denen alle Beteiligten ihre Erwartungen und Zielsetzungen formulieren können und gemeinsam eine Strategie gefunden werden kann.

Wenn wir uns diese Aspekte einer Zusammenarbeit im Vorfeld bewusst machen, sie offen ansprechen und verantwortungsbewusst damit umgehen, ist eine langfristige Kooperation mit Künstlern eine sehr wertvolle Bereicherung für jede Schule.

Ich selbst habe in meiner bisherigen langjährigen Zusammenarbeit mit KünstlerInnen nur einmal ähnlich unglückliche konzeptionelle Bedingungen wie wir sie nun aktuell erlebt haben. Damals habe ich mich nicht getraut, den für die Jugendlichen demütigenden Prozess abzubrechen, weil ich glaubte, dass ich »das den beteiligten KünstlerInnen nicht antun könnte«, die ja auf das Geld und den Erfolg angewiesen sind, um zu überleben. Ich habe es immer bereut. Denn in allen Projekten der Kulturellen Bildung geht es ausschließlich um die Jugendlichen und um deren Förderung und Wertschätzung. Was in den Anträgen behauptet wird, muss auch ernst gemeint sein. Wenn das dazu führt, dass KünstlerInnen sich durch die engen Zeitformate und die mangelnde Bezahlung auf der einen Seite und dem enormen Anspruch auf der anderen Seite überfordert fühlen, so ist das der Ausgangspunkt für eine kritische Befragung der derzeit herrschenden Projekt-Kultur in der Kulturellen Bildung. Hier gibt es noch einiges zu optimieren und zu erkämpfen. Zusammenschlüsse und politische Aktionen könnten hier eventuell die Bedingungen für KünstlerInnen in dieser Stadt verbessern. Hierzu gibt es beispielsweise derzeit Bestrebungen und Aktionen im Bereich der Freien Szene.

Die Jugendlichen aber dürfen nicht die Leidtragenden sein. Es kann nicht sein, dass nach außen Erfolge behauptet werden, die nach innen keine sind – und das ausgerechnet zu Lasten der Kinder.

Es sind nämlich die Kinder und Jugendlichen, die am meisten durch Kulturelle Bildung profitieren könnten – wenn wir ernst nehmen, was wir behaupten, damit erreichen zu wollen. Die Kinder und Jugendlichen haben aber keine Lobby und keine Stimme. Wenn wir uns nicht trauen, an berechtigten Stellen ihre Interessen zu vertreten und Missstände konsequent zu benennen – auch gegen die Interessen anderer – dann wird es niemand tun.

Ich hoffe, Sie können unseren Schritt verstehen.

Kollegiale und herzliche Grüße von
Maike Plath