Mein neues Leben als Freiberufliche hat nun also begonnen. Zunächst einmal mit Zähneklappern über die Erkenntnis, wie schwer es sein wird, zukünftig 1400 Euro netto im Monat zusammen zu bekommen. Zahlreiche Stunden beim Steuerberater haben mir den Rest Illusionen genommen, dass es „einfach irgendwie so gehen wird“. Es wird verdammt schwer werden. Aber ich wollte es so. Und ich weiß genau, was ich tue.
Da ich jetzt keine Rücksicht mehr darauf nehmen muss, ob „man als Beamte ‚sowas‘ sagen oder erzählen darf“, beginnt mein erster Blog als Selbstständige mit einem ersten Eintrag darüber, warum ich keine Lehrerin mehr sein wollte, obwohl ich so wahnsinnig gerne Lehrerin bin und es nach wie vor für einen Traumberuf halte. Wer das für einen Widerspruch hält, mag in Zukunft diesen Blog lesen. Vielleicht wird die Sache mit der Zeit verständlicher.
Fuad (14 Jahre)
Ich habe eine Freistunde und gehe nach oben in den dritten Stock, um mit unserer Sozial-Pädagogin Annika zu plaudern. Unterwegs treffe ich auf dem Schulflur Fuad, der sich vor den (abgeschlossenen) Toilettentüren herum drückt und meinem Blick ausweicht, als ich ihm entgegen komme.
„Hallo Fuad, was machst du denn hier?“ frage ich.
Fuad kickt lässig und scheinbar gelangweilt mit einem Fuß gegen die Wand.
„Bin mal wieder raus geflogen, Frau Plath.“
„Oh man, Fuad, warum das denn?“
„Wallah, Frau Plath – diese ganze Schule ist verrostet.“
(Ich muss lachen:) „Was soll das denn heißen, Fuad?“
„Wallah, isch ficke diese Schule!“
„Oh je… was ist denn passiert?“
„Kennst du Frau M.? Isch ficke diese Lehrerin! Wallah! Sie hat keine Ehre, diese Frau!“
„Fuad – jetzt hör mal auf. Erzähl mal ordentlich. Was ist denn passiert?“
„Isch habe gesagt: Wallah – setz ma deine Maske ab, Frau M. – und da hat sie misch rausgeschmissen.“
„Na, das kann ich ja fast gar nicht glauben. Das war alles? Was hast du denn damit gemeint?“
„Siehst du! Keiner glaubt mir! Wallah! Isch ficke diese Schule!“
„Fuad! Das ist doch Quatsch. Jetzt bleib mal ruhig und erzähl mal ordentlich, was los ist.“
Fuad kickt gegen die Wand und schweigt.
Ich lege vorsichtig eine Hand auf seinen Arm. „Fuad…“
„Fass misch nisch an!“
Ich ziehe die Hand zurück und warte.
Fuad kickt weiter mit dem Fuß gegen die Wand.
Ich warte circa zwei Minuten.
„Fuad, du bist jetzt albern. Ich kann dir ja gar nicht glauben, wenn ich gar nicht verstehe, was passiert ist. Jetzt gib dir mal ein bisschen Mühe. Vielleicht verstehe ich es ja doch.“
„Wallah, Scheiß-Lehrer. Ihr seid alle verrostet!“ (Die Wand bekommt es ab).
Weitere zwei Minuten verstreichen.
Fuad hört auf zu kicken und wendet sich mir zu.
„Frau M. hat gesagt, isch bin ein Versager und hat freundlisch geguckt. Isch habe gesagt: Setz ma deine Maske ab, Frau M.! Da hat sie geschrien: Raus, Fuad! Das wird ein Nachspiel haben! Ich informiere deine Eltern! – Da bin isch raus. Mehr war nisch. Jetzt krieg isch Klassenkonferenz. Dann flieg isch von Schule. Mein Bruder schlägt misch tot…“ (Seine Augen füllen sich mit Tränen. Er fängt wieder an, gegen die Wand zu kicken).
Fuad weint. (Bis eben gerade sah er aus, wie ein „kleiner Gangster“ (das ist ja auch die beabsichtigte Wirkung des sehr bewussten Stylings). Jetzt ist er ein schluchzendes Elend mit Tränenspuren im Gesicht, dem die Nase läuft und der kaum sprechen kann.
Ich nehme ihn in den Arm. Er krampft und schluchzt. Ich halte ihn ein bisschen und sage leise:
„Wir kriegen das wieder hin, Fuad. Du fliegst nicht von der Schule.“
Er klammert sich an mich und heult. „Diese ganze Schule ist verrostet! – Frau M. macht immer diese Maske! Isch ficke diese Maske!“
Nach ein paar Minuten hat Fuad sich beruhigt. Wir gehen zusammen nach oben zu Annika. Annika macht Tee für uns und Kakao für Fuad und wir reden darüber, was Fuad machen kann, damit es wieder gut wird mit Frau M.
Fuad schreibt einen Brief an Frau M., in dem er sich entschuldigt.
Zwei Wochen später gibt es eine Klassenkonferenz. Da Fuad an meinem Theaterunterricht teilnimmt, bin ich eingeladen. (In den zwei Wochen zwischen meiner Begegnung mit Fuad auf dem Schulflur und der Konferenz hat Fuad „Hausverbot“ und muss seine Aufgaben zu Hause erledigen (was natürlich nur begrenzt sinnvoll ist).
Dann ist der Tag der Klassenkonferenz. Frau M. begrüßt die Gäste (die Mutter von Fuad, ein Übersetzer, die Schulleitung, alle unterrichtenden Kolleg_innen, der Schülersprecher, Fuad sind anwesend).
Frau M. trägt 12 Minuten lang die „Verhaltensauffälligkeiten“ von Fuad anhand eines vorbereiteten Papiers vor und plädiert für einen „Schulwechsel“, damit er „dort einen Neuanfang machen kann“. Anschließend tragen fünf andere Kolleg_innen nacheinander vor, warum Fuad „im Unterricht nicht mehr tragbar ist“. Meine Einwände und Berichte von Fuads Verhalten im Theaterunterricht werden kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen und abgetan („Dass Fuad ein guter Schauspieler ist, kann ich mir vorstellen, ha ha…“; „Ja, im Theaterunterricht kann man ja auch die Sau raus lassen, das wundert mich nicht, dass Fuad da erfolgreich ist…“, „Ja, aber man muss nun wirklich mal die Verhältnismäßigkeit sehen: Wenn ich sehe, dass Fuad im Theaterunterricht eine 2 hat, dann kommen mir schon so meine Zweifel, ha ha…“, „Es ist ja schön und gut, dass Fuad sich angeblich im Theaterunterricht besser benehmen kann, aber in dieser Runde kann das niemand bestätigen, und wir müssen ja schon berücksichtigen, wie die Realität aussieht…“ usw.)
Der Übersetzer übersetzt. Fuads Mutter weint die gesamte Zeit vor sich hin.
Fuad starrt vor sich auf den Boden.
Zum Schluss fragt Frau M. „So, Fuad, hast du irgendwas dazu zu sagen?“
Fuad starrt auf seine Turnschuhe und kämpft sichtlich mit den Tränen. „Es tut mir leid. Isch habe nur gesagt, Frau M. soll ihre Maske absetzen.“
Frau M.: „Man hat jetzt aber nicht den Eindruck, dass es dir leid tut, Fuad.“
Fuad schweigt.
Frau M. (schulterzuckend und lächelnd in die Runde): „Ja. Sie sehen ja selbst. Ich denke, der Fall ist erledigt.“
Fuad reißt den Kopf hoch und brüllt: „Sie haben eine Maske auf, Frau M. – und Sie haben keine Ehre, wallah!“
Fuad springt auf und rennt aus dem Raum. Die Mutter bricht zusammen. Der Übersetzer versucht zu beruhigen und zu trösten.
Frau M.: „Ja, Fuad ist ja nun schon rausgegangen. Sie haben das ja nun selbst gehört. Dann können wir nun zur Entscheidung kommen, denke ich. Ich muss Sie, Frau Sowieso (Fuads Mutter) und Sie (Übersetzer) und dich (Schülersprecher) nun bitten, den Raum zu verlassen. Wir holen Sie dann wieder rein, wenn wir zu einer Entscheidung gekommen sind. Dankeschön.“
Die Kolleg_innen und die Schulleitung stimmen 6:1 für den Ausschluss Fuads von der Schule. Fuad hört das „Urteil“ nicht mehr, weil er rausgerannt ist und nicht mehr aufzufinden ist.
Ein Jahr später höre ich, dass Fuad inzwischen in einer „Fördermaßnahme“ gelandet ist.
Zwei einhalb Jahre später höre ich, dass er ohne Hauptschulabschluss die Schule verlassen hat.
Gute Nacht. Schlafen Sie gut.