Zahar und Fatme

An einem Montag Morgen im April stehe ich um 6.30 Uhr mit zwei 14-jährigen arabischen Schönheiten vor der Schule und trage innerlich einen schwierigen Kampf mit mir aus. Zahar und Fatme stehen mit hübschen Kopftüchern und farblich genau abgestimmten Klamotten aufgeputzt vor mir und „schwören, dass sie sich nie wieder im Theaterunterricht schlecht benehmen“. „Ich schwör, Frau Plath, wallah, ich mach jetzt immer mit“, versichert Zahar und ihre beeindruckenden, großen Augen schwimmen in Tränen. Fatme nickt dazu und presst ihre pinke Handtasche mit den Strass-Steinen fest an ihren Körper. Ich frage mich, ob das jetzt wieder eine perfekte Inszenierung ist, oder ob ich ihnen glauben soll. Nach mehreren Monaten der ständigen Auseinandersetzung sind wir an einem Punkt angekommen, an dem ich sie von den Theateraufführungen im Mai ausschließen will, obwohl das für den Rest der Gruppe erhebliche Szenen- und Textumstellungen bedeuten wird und ich nicht mehr weiß, ob wir dann überhaupt noch rechtzeitig fertig werden. Aber Zahar und Fatme haben jegliches Maß an Geduld bei mir überschritten, ich glaube einfach nicht mehr, dass sie es ernst meinen mit ihren Beteuerungen. Denn genau dieses Spielchen beherrschen sie perfekt: Das Bitten, Betteln und Schmachten, wenn sie sich mit einer klaren Ansage konfrontiert sehen, die nicht in ihrem Sinne ist. Genau dieses Schauspiel haben sie unzählige Male zu Hause geübt, wann immer der Vater oder der ältere Bruder ihnen etwas verbietet. Und in ihren Familien wird vieles verboten und vieles bestraft. Und deshalb wird viel gelogen und viel verheimlicht – und grandioses, dramatisches Theater gespielt, wenn etwas gegen den Willen der Autoritätsperson durchgesetzt werden soll. Wenn es darum geht, ein Machtspielchen zu gewinnen.

In diesem Falle bin ich nun die Autoritätsperson. Ich habe am Freitag Nachmittag die beiden Mädchen vor eine letzte Entscheidung gestellt: Entweder ihr seid am Montag Morgen um 6.30 Uhr vor der Schule und überzeugt mich dort davon, dass ich mich von nun an zu 100 Prozent auf euch verlassen kann – ohne Ausnahme – oder aber ihr werdet aus der Theatergruppe ausgeschlossen und für den Rest des Schuljahres in einer anderen Klasse arbeiten.

Das Problem ist: Die vielen kleinen Grausamkeiten gegen die anderen SchülerInnen der Klasse gehen fast immer von Zahar aus. Aber sobald ich sie dafür zur Rede stelle, springt Fatme ihr zur Seite und verteidigt sie. Nach außen ist es Zahar, die alles bewusst zerstört und in fast sadistischer Weise einzelne Kinder vor sich hertreibt mit ihren Erpressungen, Schmeicheleien und unerträglichen Demütigungen, aber Fatme unterstützt das alles und verbreitet auf stillere, aber genauso effektive Weise den Psycho-Terror in der Gruppe. (Übrigens haben sogar die Jungen Angst vor Zahar – überraschenderweise ganz besonders die arabischen Jungen).

Ich bin also schon einigermaßen erstaunt, als ich am Montag um 6.15 Uhr aus dem Bus steige und die beiden Mädchen vor der Schule stehen sehe. Offenbar haben sie sich vorgenommen zu kämpfen. Aber jetzt habe stecke ich in diesem Dilemma: Ich kenne diese Unterwerfungsgesten schon zu gut, um ihnen trauen zu können. Also lasse ich mich zu absoluter Ehrlichkeit hinreißen und schildere den Mädchen ganz genau, warum ich inzwischen an ihnen zweifle. Ich rufe ihnen die zahllosen Situationen ins Gedächtnis, in denen sie mich belogen und ausgetrickst haben, in denen sie die Theatergruppe haben hängen lassen und einfach nicht gekommen sind, ich beschreibe ihnen ihr Verhalten den anderen gegenüber ganz genau: Zahar und Fatme, ihr verbreitet ununterbrochen Böses in der Gruppe, ihr spielt alle gegeneinander aus und verbreitet Gerüchte, die total verletzend sind. Ihr haltet euch an keine Abmachung, ihr stört die Proben durch euer ständiges Gekicher und durch eure beleidigenden, herabsetzenden Bemerkungen den anderen gegenüber. Es geht so nicht mehr weiter. Wie soll ich euch noch glauben?

Es folgt ganz großes arabisches Theater. Eigentlich fehlt nur noch die herzzerreißende Musik dazu. Schluchzend berichtet Zahar von ihrem strengen Vater und von all den Demütigungen, denen sie zu Hause ausgesetzt ist, davon, dass sie den ganzen Haushalt machen und sich um die kleineren Geschwister kümmern muss und nichts darf – gar nichts. Und dass ihre Brüder immer so gemein zu ihr sind und sie allen Dreck machen lassen und sie nicht ernst nehmen, usw. usw. Das alles lässt mich nicht kalt. Ich weiß ja, dass vieles davon stimmt. Und dann sieht mir Zahar direkt in die Augen und sagt: „Zu Hause bin ich nix, Frau Plath, ich bin so wie Müll für meine Familie, und deswegen ist manchmal etwas Böses in mir, das kommt plötzlich raus und dann bin ich so gemein zu den anderen, aber eigentlich will ich das gar nicht. Wallah, ich weiß, dass Sie recht haben, dass ich eigentlich ein gutes Herz habe. Ich will auch nicht mehr so gemein sein, ich will Ihnen beweisen, dass ich ein guter Mensch bin, wallah Frau Plath, ich schwör: Wenn Sie mir noch eine Chance geben, dann zeige ich Ihnen, dass ich ein guter Mensch bin. Bitte, bitte, Frau Plath, noch eine Chance! Sie werden nicht bereuen, ich geb’ alles!“

Fatme steht mit tränenverschleierten Augen daneben und nickt, „Ja, Frau Plath, das stimmt, das hat mir Zahar auch zu Hause schon gesagt. Sie hat das ganze Wochenende geweint, sie will ihnen zeigen, dass sie ein guter Mensch ist. Und ich will das auch. Bitte geben Sie uns noch eine Chance!“

Was soll man da sagen? Ich nehme die weinenden Mädchen in den Arm, sie drücken mich ganz fest und schluchzen und ich denke: Wer bin ich, wenn ich sie jetzt nicht wieder aufnehme?

Doch wir haben noch ein anderes Problem: Der Rest der Gruppe hat kein Vertrauen mehr in Zahar und Fatme. Sie waren erleichtert, als sie am Freitag davon ausgehen konnten, dass sie Zahar und Fatme bis zur Theateraufführung nicht mehr aushalten müssten. Nun ist die ganz große Frage, ob ihre Motivation nicht endgültig schwindet, wenn Zahar und Fatme zurück kehren.

Ich schildere den Mädchen das Problem und verlange von ihnen, dass sie es selbst lösen. So gehen wir zwar um acht Uhr gemeinsam in die Klasse, dann aber schildere ich kurz, was seit 6.30 Uhr passiert ist und gebe den SchülerInnen die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, ob sie Zahar und Fatme wieder aufnehmen wollen, oder nicht. Alle setzen sich in einen Stuhlkreis, ich übergebe Khaled die Gesprächsleitung und verlasse den Raum mit der Bitte, mich wieder rein zu holen, wenn sie zu einer Entscheidung gekommen sind. Draußen vor der Tür höre ich ihr Geschrei und zwinge mich, nicht einzugreifen.

Nach 20 Minuten öffnet Khaled die Tür, ich betrete den Raum und sehe viele verheulte Gesichter, aber offenbar haben sie sich wieder versöhnt: Zahar und Fatme dürfen wieder an den Theaterproben teilnehmen. Die ganze Klasse hat einstimmig dafür gestimmt.

Die nächsten Wochen verlaufen harmonisch und ich atme auf. Die Klasse kommt gut voran, das Theaterstück steht in großen Teilen, und Fatme und Zahar verhalten sich vorbildlich.

In dieser Produktion „Arab Queen & Thilo Sarrazin“ übernehmen Zahar und Fatme große Teile des Stückes. Denn auch das gehört zu den Wunderlichkeiten dieser Situation: Obwohl Zahar und Fatme sich unfassbar verletzend und hämisch verhalten und innerhalb eines Tages die Arbeit von Wochen zunichte machen können, besitzen sie auch das absolute Potenzial für die gegenteilige Rolle: Die der Klassen-Mutti. Wenn sie sich in den Kopf gesetzt haben, „ein guter Mensch zu sein“, laufen sie in ihrer Hilfsbereitschaft und ihrem Organisations-Talent zur Hochform auf. Zahar und Fatme kennen den Text aller anderen SchülerInnen, sie wissen genau, wer wann dran ist und welches Requisit wo gebraucht wird. Sie spielen ihre Rollen vorbildlich und mit großer Überzeugung und können alle anderen mitreißen. Genau das ist es: Sie können die gesamte Gruppe führen und beeinflussen – zum Guten wie zum Schlechten. Jetzt aber sieht es ganz so aus, als hätten sie sich für die gute Seite entscheiden.

Bis zum Tag der Hauptprobe – zwei Tage vor der Premiere.

Die Hauptprobe ist für den Mittwoch Morgen um zehn Uhr angesetzt. Am nächsten Tag – dem Donnerstag – wird es nur noch die Generalprobe geben und am selben Abend dann um 20 Uhr die Premiere.

Es ist zehn Uhr und alle sind da. Nur nicht Zahar und Fatme. Wir warten. Es wird 10.15 Uhr, 10.30 Uhr, 10.45 Uhr. Keine Spur von Zahar und Fatme. Auf ihren Handys sind sie nicht erreichbar. Ich sehe förmlich, wie in den Gesichtern der anderen der Mut und das Vertrauen schwindet. „Wenn die jetzt nicht kommen, schaffen wir es nicht mehr, Frau Plath“, sagt Meltem. Die Energie, die Freude, die Aufregung schwindet aus ihren Gesichtern und ihren Körpern wie die Luft aus einem angestochenen Fahrradreifen.

Ich spüre, wie die Wut in mir hochkommt. Wut und Verzweiflung, dass ich diesen Mädchen vertraut habe und damit offenbar alle anderen verraten und verkauft habe. Die gesamte Arbeit eines ganzen Jahres für nichts?

Um kurz vor halb 12 (!) – die Klasse befindet sich in einem Zustand der inneren Auflösung- öffnet sich die Aula-Tür und Zahar und Fatme schieben sich gemächlich hinein. Langsam schlendern sie durch die Mitte des Raumes und grinsen triumphierend. Es ist, als hätte sich über Nacht wieder „die böse Seite“ von Zahar Bahn gebrochen: Sie kichert, als sie meinen Blick sieht und sagt: „Jetzt regen Sie sich mal nicht auf, Frau Plath. Es gibt auch noch was Wichtigeres im Leben als Theater“. Dann verstellt sie die Stimme und quäkt: „Theater, Theater, Theater – immer Theater, Frau Plath! Ich will auch mal richtigen Unterricht machen, nicht immer nur diesen Scheiß. Fatme und ich machen nicht mehr mit. Wir gehen jetzt zur Schulleiterin und beschweren uns, dass wir immer nur Theater machen. Wir wollen mal richtigen Deutsch-Unterricht. Das sagen auch meine Eltern. Wir lernen ja hier gar nichts!“ Sie schaut mich an. Grinsen.

Ich weiß nicht, ob ich schon mal so schnell von meinem Stuhl hochgekommen bin. Im Bruchteil einer Sekunde bin ich bei den beiden, packe sie links und rechts am Arm und „gehe sehr schnell“ mit ihnen hinaus vor die Tür. Als ich die Tür von außen schließe und in ihre Gesichter sehe, erkenne ich die überraschte Empörung. Und es geht auch gleich los: Zahar krakeelt: „Sie haben mir weh getan! Das dürfen Sie gar nicht! Das sag ich meinen Eltern, dass sie mich am Arm gerissen haben! Das ist Gewalt…“ Doch sie hält inne, als sie meinen Blick sieht.

Und dann gebe ich mir das innerliche ok, richtig wütend zu sein… Ich weiß, dass ich danach gar nicht besonders laut gesprochen habe, aber ich glaube, dass ich noch nie in meinem Leben so ungebremst meine Wut gezeigt habe. Ich muss fürchterlich ausgesehen haben, denn beide starrten mich mit offenem Mund an und wagten nicht, sich zu bewegen, geschweige denn, einen Mucks von sich zu geben. Ich sagte ihnen in ganz klaren Worten, was ich menschlich von ihnen hielt. Am Ende dieses ersten Teils meiner Rede sahen sie elend aus.

Dann kam der zweite Teil. Ich sagte in etwa Folgendes: „Ihr habt jetzt genau zwei Möglichkeiten: Erstens: Ihr verschwindet sofort aus meinem Blickfeld und zwar für den Rest dieses Schuljahres. Ich werde dafür sorgen, dass ihr in einer anderen Klasse Unterricht macht. Hier braucht ihr euch nicht mehr blicken zu lassen. Und auch insgesamt möchte ich euch nicht mehr sehen. Bei mir habt ihr eure Ehre verspielt.“

Während ich Luft hole für die zweite Möglichkeit, haucht Fatme mit weit aufgerissenen Augen: „Und was ist die andere Möglichkeit?“

„Die andere Möglichkeit ist die: Ihr kämpft um eure Ehre. Und zwar so: Ihr geht jetzt mit mir wieder rein und macht alles wieder gut, was ihr den anderen angetan habt: Ihr helft der ganzen Klasse, das gesamte Theaterstück ohne euch spielen zu können. Ja, das habt ihr richtig verstanden: Ihr probt mit denen heute so lange, bis die das gesamte Stück ohne euch beide aufführen können. Alle Änderungen, alle Texte, alles, was gemacht werden muss, damit das Stück reibungslos ohne euch beide über die Bühne geht. Und wenn ich eine Klage höre, einen Mucks, einen bösen Blick, dann tritt sofort Möglichkeit 1 in Kraft. Und das ist die einzige Möglichkeit, wie ihr es schaffen könnt, mir wieder unter die Augen zu treten. Die einzige.“

Ich mache eine Pause und warte. Dann frage ich: „Also, was ist?“

Fatme sagt sofort : „Möglichkeit zwei, wir machen Möglichkeit zwei….“ Ich sehe Zahar an, „Und du?“ Zahar nickt zögernd und murmelt: „Aber das ist doch unfair…“ Ich unterbreche sie sofort: „Ach so? Alles klar. Dann also Tschüss…“ Zahar wirft mir einen entsetzten Blick zu, „Nein, nein, ich mach doch mit. Ich mach auch Möglichkeit zwei…“

Wir gehen also zu dritt wieder in die Aula. Die beiden setzen sich zögerlich in die erste Stuhlreihe vor die Bühne und ziehen eine Flunsch. Sofort bin ich bei ihnen, hocke mich vor sie hin und sage leise: „Ah- ihr zieht jetzt so ein Gesicht?? Dann gleich raus! Raus!“

Sofort verschwindet der beleidigte Ausdruck und es kommt ein erschrockenes: „Nein, nein – bitte Frau Plath, wir bleiben hier!“

Und so beginnen wir die längste Probe, die wir je hatten. In den ersten zehn Minuten muss ich die Mädchen noch zwei Mal darauf hinweisen, dass jegliches Gemaule oder Schmollen nicht unserer Abmachung entspricht. Sie sind vollkommen überrascht und offensichtlich erschüttert über meine Wut und fangen an, sich ernsthaft zu bemühen. Tatsächlich schaffen sie es. Mit unglaublicher Geduld schreiben sie Texte und Szenen um, organisieren, wer welche Parts übernimmt, sprechen den anderen die Texte solange vor, bis sie sitzen, organisieren das gesamte Stück so um, dass ihre beiden Rollen vollständig von anderen übernommen werden. Nach vier Stunden gelingt der Klasse ein erster Durchlauf ohne Zahar und Fatme. Alle klatschen. Auch Zahar und Fatme.

Natürlich kommt dann die unweigerliche Frage: Dürfen wir denn jetzt wieder mitmachen?

Obwohl meine Wut beim Zuschauen dieses kleinen Wunders vollständig verraucht ist, bleibe ich hart. „Nein“, sage ich und ernte erneut einen fassungslosen Blick, „das entscheiden wir morgen. Die Klasse kann jetzt auch alleine aufführen, das heißt: Wir brauchen euch nicht. Und heute möchte ich gar nichts mehr entscheiden. Ich danke euch aber für euren Einsatz heute. Das war wirklich gut. Das war der erste Schritt dahin, dass ich euch wieder in die Augen schauen kann. Aber um das Vertrauen der Klasse und auch mein Vertrauen zurück zu gewinnen, müsst ihr schon noch mehr bieten.“

So verabschiedeten wir uns also und gingen auseinander. Am nächsten Tag Premiere…

Zahar und Fatme haben am nächsten Tag die Generalprobe geleitet und dann auch bei der Premiere mitgespielt. Die Klasse „fand es schöner, wenn sie dabei sind“. Tatsächlich gingen sie nach diesem Katastrophentag alle sehr liebevoll und fürsorglich miteinander um. Die ganze Situation fühlte sich so an, als „sei ein Knoten geplatzt“.

Ich weiß, dass ich eine ähnlich nachhaltige Verhaltensänderung durch kein soziales Training der Welt erreicht hätte. Mit einem eigenen Theaterstück tatsächlich in die Öffentlichkeit zu gehen, setzt Energien frei, die anderswo in der Intensität nicht erreicht werden können. Nirgends sonst wäre der soziale Druck auf die beiden Mädchen, „ihre Ehre nicht zu verspielen“ so hoch, wie nach einem solch intensiven, gemeinschaftlichen Prozess, der unablässig auf ein einziges, großes, gemeinsames Ziel gerichtet ist. An dieser Stelle mit einem möglichen Ausschluss konfrontiert zu werden, lässt offenbar selbst die „Hartgesottenen“ nicht kalt. Hier bleibt die Forderung, tatsächlich Verantwortung zu übernehmen, nicht nur ein theoretischer Appell sondern wird zu einer, aus den gelebten Erfahrungen zwangsläufig resultierenden, sozialen Notwendigkeit.