Der konstruktive Moment von Bildung

(Vortrag anlässlich des Fratz Festivals am 21.04.2015)

Wir leben in einer Welt massiver gesellschaftlicher Veränderungen. Unsere Bildung ist aber noch immer an Normen ausgerichtet, die unserer komplexen Welt nicht mehr entsprechen. An unseren Schulen liegt die größte vorhandene Ressource brach: Der individuelle Gestaltungswille zahlreicher Kinder und Jugendlicher verschiedenster sozialer und kultureller Hintergründe. Um sie zu demokratiefähigen, eigenständigen und kreativen Gestalter_innen ihrer und unserer Zukunft auszubilden brauchen wir kreative Menschen. Menschen deren Bezugsgröße noch nie Normen waren – sondern Fragen. Wir brauchen Künstler_innen! Sie können, gemeinsam mit Lehrkräften, den Weg ebnen in ein zukunftsfähiges Bildungssystem, das auf Autonomie und das Potenzial jedes einzelnen Menschen setzt.

Die Intuition ist ein göttliches Geschenk, der denkende Verstand ein treuer Diener.

(Albert Einstein)

Widerstände und Abwehr beim Thema Bildung
Wenn man über Bildung spricht, hat man es mit Widerständen zu tun. Jeder von uns hat eine eigene Leidens- oder Sorgengeschichte zum Thema Schule. Kaum jemand möchte noch von irgend welchen Heilsversprechen, oder gar von neuen »Reformen« wissen.

Sehnsucht nach Veränderung und gleichzeitige Aggression gegen Veränderung
Ich nehme eine große Unzufriedenheit mit unserem Schulsystem wahr – und gleichzeitig eine geradezu gereizte Abwehr gegen jede Form von tatsächlichen Veränderungs-Impulsen.

Intuitives Unwohlsein
Die Gereiztheit, mit der wir auf das Thema Bildung reagieren, hat meiner Ansicht nach mit der intuitiven Furcht vor Fremdbestimmung und Ohnmacht zu tun: Man ist einer Sache ausgeliefert, die man nur bedingt steuern kann. Viele entwickeln die Einstellung: Da muss man einfach irgendwie durch. Ich glaube, dass dieses intuitive Unbehagen eine berechtigte Ursache hat – und dass wir ihr auf den Grund gehen sollten.

These
Meine These lautet, dass an unseren Schulen massenweise Potenzial brach liegt (sowohl bei Jugendlichen als auch bei den Lehrkräften), weil durch die Strukturen die Autonomie und damit die individuellen Ressourcen des einzelnen blockiert sind. Genau da liegt aber unsere größte Chance auf Innovation.

Autonomie
Als Autonomie (altgriechisch αὐτονομία, autonomía, »Eigengesetzlichkeit, Selbstständigkeit«, aus αὐτός, autós, »selbst« und νόμος, nómos, »Gesetz«) bezeichnet man den Zustand der Selbstständigkeit, Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, Selbstverwaltung oder Entscheidungsfreiheit.
Sie ist in der idealistischen Philosophie die Fähigkeit, sich als Wesen der Freiheit zu begreifen und aus dieser Freiheit heraus zu handeln.

Eigensinn
Eigensinn ist ein schönes Wort. Dahinter liegt eine große Kraft. Leider werden heute viel zu wenige darin ermutigt, ihrem Eigensinn zu folgen. Hier beginnt bereits die Ausbremsung möglichen Potenzials. Denn Eigensinn ist der Beginn jeglichen Lern- und Gestaltungsprozesses. Wo er verwehrt wird, ist die größte Motivationsquelle tot: Die intrinsische Motivation. Eigensinn in anderen ermöglichen, kann nur jemand, dem selbst Eigensinn zugestanden wurde. Deswegen müssen auch die Lehrenden ihren Eigensinn entdecken und diesem folgen dürfen. Künstler_innen gesteht man Eigensinn zu. Lehrer_innen nicht. Wenn Lehrer_innen »Künstler_innen« sein dürfen, im Sinne von Gestalter_innen und Erfinder_innen ihres Berufes, könnte Bildung wieder lebendig werden.

Bildung ist derzeit wie Notenlernen ohne Musik
Unser Bildungssystem ist derzeit wie Musikunterricht, in dem man nur Noten lernt, nicht aber Musik hört oder selbst spielt, geschweige denn selbst komponieren darf. Bildung ist bei uns Notenlernen ohne Musik. Den Kindern wird versprochen, dass das »irgendwann später kommt«. Was genau später kommt, bleibt aber im Angesicht der trockenen Notenlehre völlig unvorstellbar. Und auf diese Weise kommt es im Übrigen auch nicht später… Viel wahrscheinlicher ist, dass das ganze Leben dann Notenlernen ohne Musik bleibt.

Der Ursprung des Lern- und Gestaltungswillens
Der Wille, etwas zu lernen und zu gestalten entsteht im Allerpersönlichsten. Er entsteht im ICH. Der Mensch nimmt etwas wahr, ist irritiert und reibt sich an dieser Wahrnehmung, an diesem Gefühl der Unruhe oder diesem Gegenstand.

Daraus entwickelt sich eine persönliche Frage, ein persönliches Interesse. Wer diesem ureigenen Interesse nachgehen darf, begibt sich aus eigener Motivation heraus in einen Zustand des Weiterfragens und Forschens.

Auf diesem Weg entsteht Erfahrungswissen. Daraus resultiert Erkenntnis.

Diese Erkenntnis wird mit einem Begriff, mit einer Deutung versehen.

Der Mensch selektiert aus der riesigen Menge fragmentarischer »Fakten« diejenigen Informationen, die sich aus seiner persönlichen Frage ergeben und generiert daraus individuell Bedeutung.

Daraus entstehen wiederum neue Fragen und so weiter ad infinitum.

Wenn wir diesen Prozess zulassen, entwickeln sich deshalb immer neue Phasen des Forschens, neues Erfahrungswissen, neue Erkenntnisse, die wir immer auch in Bezug zu uns selbst setzen können.

Auf diese Weise kommen wir zu umfangreichem Wissen über uns selbst in der Reibung zur Welt.

Die verschiedenen Begrifflichkeiten und Deutungen, die wir vornehmen sind immer in einem Entwicklungs-Zustand und wieder veränderbar – auf der Grundlage neuer Erkenntnisse. So könnte man den Prozess lebenslangen Lernens beschreiben.

Das ist selbstwirksame Bildung. Schon Sokrates hat diesen Weg der Erkenntnis beschrieben. Daraus resultierte für ihn der berühmte Satz »Ich weiß, dass ich nichts weiß«. Denn wir wissen alle, dass ein Fakt nur so lange ein Fakt ist, bis er widerlegt ist. Wir haben auch mal geglaubt, dass die Erde eine Scheibe ist. Aber jeder von uns weiß, dass wir mit 14 die Welt anders wahrgenommen und andere Dinge für Fakten hielten als beispielsweise mit 40 Jahren.

Wir selbst und das, was wir für unsere Identität halten, basiert auf der Summe dessen, was wir wahrnehmen und erkennen. Wir ordnen die Fakten der Welt immer wieder neu an, sie sind ständig in Bewegung und führen zu immer neuen, komplexeren Deutungen. Je mehr wir zum persönlichen Fragen und Forschen angeregt werden, desto begieriger sind wir darauf, Neues zu erfahren und desto umfangreicher und komplexer wird unser Wissen.

Aus der Summe all dieser Erfahrungen und Bedeutungszuschreibungen, die wir vornehmen, entsteht das Konstrukt unserer Biografie. Je autonomer wir diesen Wachstumsprozess gestalten dürfen, desto selbstbestimmter erleben wir uns in dieser Welt und desto größer wird unsere Kompetenz, diese Welt mit zu gestalten und zu verändern.

Genau das wird in den Lehrplänen gefordert: Individuelles, selbstwirksames Lernen. Jeder braucht seinen eigenen individuellen Zugang, seinen eigenen Weg. Das wäre Inklusion.

Derzeit läuft es aber sowohl in unseren Schulen als auch insgesamt in unserer Gesellschaft fremdbestimmt ab: Das ICH darf keine persönliche Frage formulieren, sondern es wird mit bereits ausformulierten Begrifflichkeiten und Deutungen konfrontiert, die es sich »rauf schaffen« soll, die es zu erreichen gilt.

Ein Lerninhalt (im Grunde ein toter Begriff) wird festgelegt und das ICH muss sich quasi künstlich und quasi mit Gewalt dahin bewegen, egal, ob es einen Bezug zu sich selbst herstellen kann, oder nicht.

In der Schule wird ein Lerninhalt, ein Lernziel vorgegeben und der Schüler weiß: Wenn ich mir das nicht »rauf schaffe«, bekomme ich eine schlechte Note. Es wird so getan, als gäbe es ein ideales Lernziel und das wird dann mit der Note 1 bewertet. Alle Differenzen dazu werden als »weniger gut«, als defizitär bewertet.

So geht es auch den Lehrkräften. Sie dürfen nicht aus der Freude und dem Expertenwissen ihres Faches heraus (von ihrem eigenen ICH ausgehend) eigene Wege und Möglichkeiten entwickeln und anbieten, die ihrer beruflichen Aufgabe Sinn geben könnten.

Sie dürfen nicht überlegen: Wie möchte ich meinen Unterricht gestalten, damit meine Schüler eigene Zugänge zu diesem spannenden Fach oder Themenfeld finden – sondern sie wissen von Anfang an: Ich muss den Unterricht so gestalten, dass ich die Ergebnisse der Schüler auf einer Skala bewerten kann.

Das löst natürlich sofort Enge und Furcht aus: Die Lehrkraft hat Angst, dass alles ausartet und man es nicht mehr »einfangen«, also nicht mehr bewerten kann. Also muss die Lehrkraft ebenfalls auf den engen, fremdbestimmten Bahnen der Vorgaben und des bereits Ausformulierten bleiben. Die Lehrkraft MUSS also die Autonomie, den Eigensinn ihrer Schüler_innen unterbinden.

So geht es uns allen in unserer durchökonomisierten Gesellschaft: Wir »wissen«, wie das Ideal aussehen soll – und verbringen dann unser Leben mit der frustrierten Verwunderung darüber, warum ausgerechnet wir selber das nie schaffen:

Unser ICH darf nicht selbst über die eigenen Fragen zu eigenen Deutungen kommen, sondern muss sich zu den Idealen hinhieven und schleppen und ziehen – und nie kommen wir an.

Da sehen wir das Bild der erfolgreichen, gebildeten, weißen, schlanken Frau, die eine Familie, eine glückliche Ehe und einen Beruf meistern kann. Da sehen wir das perfekte Bild der gelungenen Beziehung, der gelungenen Liebe, des gelungenen Lebensentwurfes. Jemand, der sich scheiden lässt, ist gescheitert. Jemand, der alleinerziehend ist, ist gescheitert. Jemand, der Single ist, ist gescheitert. Jemand, der kein Abitur hat, ist gescheitert. Jemand, der dick ist, ist gescheitert. Jemand, der keine akademische Bildungsbiografie vorweisen kann, ist gescheitert. Diese Aufzählung ließe sich unendlich fortsetzen.
Das Schlimmste aber ist: Wenn wir glauben, ein Ideal erreicht zu haben (welches auch immer… Abitur, akademische Laufbahn, Hetero-Ehe, Kinder, Karriere, Haus, Hof und Hund) – stellen wir fest, dass wir uns immer noch nicht ideal fühlen… immer noch nicht glücklich…

Weil es nichts mit uns zu tun hat. Sondern mit einem fremd-definierten Ziel, zu dem wir uns mit Gewalt hingehievt haben. Weil wir die wahre Stimme unseres ICHs immer weggedrückt haben. Dies darf ich nicht denken, und das darf ich nicht fühlen, und dies darf ich nicht sagen und das nicht tun. Denn im Hinblick auf die Ökonomisierung unseres ICHS nehmen wir alles Abweichende vom »Ideal« als defizitär wahr – und fühlen uns schlecht.

Der allergrößte Witz besteht aber darin, dass wir all diese Anstrengungen vollbringen, weil wir ökonomisch erfolgreich sein wollen. Unsere Kinder sollen es später »gut haben« und deswegen müssen sie durch diese riesige Anpassungsmühle geschoben und gezerrt werden – mit welchem Ergebnis?

Ausgerechnet ökonomisch machen wir genau damit alles falsch. Denn zukünftig brauchen wir kreative, eigenwillige, selbstbewusste Persönlichkeiten – keine Menschen, die in bestehenden Systemen gehorchen und sich anpassen. Um die Herausforderungen unserer gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaft zu meistern, brauchen wir Menschen, die mit Diversität und dem Fremden innovativ und offen umgehen können. Und: In unserer zukünftigen Welt wird Kreieren zum Erfolgsfaktor – nicht dienstleisten und nicht produzieren.

Überall, wo man an Schulen das Pflichtprogramm unterbricht und »Verbotenes« macht, wird man sehr schnell mit den zahlreichen Potenzialen, Ideen und Talenten der Schüler_innen – und der Lehrkräfte »geflutet«. Wir haben also eigentlich alle Ressourcen da. Wir haben kein Problem. Wir machen es uns selbst.

Wir haben uns ein Zwangssystem gebaut, das niemandem dient – und der Wirtschaft schon gar nicht. Wir erziehen Funktionierer heran, die aber im zukünftigen System nicht mehr funktionieren können. Ökonomisch ist was anderes.

Nur der Geist, nur die Fähigkeit des Menschen zur Imagination ist unendlich. Der Geist kann immer wieder Neues hervor bringen, wo die gesetzte Norm schon wieder veraltet und damit nicht mehr adäquat ist.

Diesen konstruktiven Moment von Bildung können wir aber nur nutzen, wenn der Mensch die Fähigkeit und die Lust zur Imagination behält. Diese wiederum hat ihren Ursprung im Eigensinn. Deshalb müssen wir umdenken:

Veränderung

»Es ist leicht, zu sagen, Veränderung sei unmöglich- bis man zugibt, dass in Wahrheit die Zeiten, in denen wir leben, unmöglich sind.«

(Rachel Kushner – frei nach Alain Badiou)

Naivität oder Notwendigkeit?
Dass unser Bildungssystem viel besser und gerechter sein könnte, ist keine Frage. Dennoch wird man immer mit diesem, in gereiztem Ton vorgetragenen, Argument »totgeschlagen«, das sei doch naiv. Ja? Ist das naiv? Oder ist das notwenig? Dass es notwendig ist, dafür spricht, dass 1. die wirtschaftliche und demografische Entwicklung andere Formen des Denkens erfordert und zweitens das Thema Migration ein Umdenken in Richtung Diversität und Vielfalt erfordert.

Konstruktivistische Didaktik

Beispiel: Wir können beim Thema »Nachrichten« die Aufgaben in einem Lehrbuch oder mithilfe von Arbeitsbögen abarbeiten (fragen-entwickelnder Ansatz). Dabei müssten wir theoretisch 27 verschiedene Arbeitsbögen für 27 verschiedene Schüler_innen bereit stellen. Das ist absurd – insbesondere dann, wenn wir die Ergebnisse anschließend auch noch innerhalb unseres derzeitigen Systems »individuell« bewerten müssen.

Wir können mit den Schüler_innen auch eine Nachrichten-Redaktion besuchen, mit den Redakteuren vor Ort sprechen und die Abläufe in der Redaktion von den Jugendlichen beobachten und beschreiben und tolle Ergebnis-Plakate darüber gestalten lassen (reformpädagogischer Ansatz).

Wir können aber auch die Schüler_innen selbst eine eigene Nachrichtensendung realisieren lassen. Das wäre konstruktiver Unterricht (konstruktivistischer Ansatz). Wenn die Schüler_innen dabei untereinander Wissen austauschen und ein gemeinsames Plateau an Informationen und Vorgehensweisen entwickeln und darüber zunehmend anspruchsvoll miteinander kommunizieren, dann arbeiten alle auch nach einem konnektivistischen Ansatz (vernetzend und verbindend).

Die Lehrkraft wird bei einem solchen Ansatz keineswegs überflüssig. Ganz im Gegenteil. Damit eine solche Unterrichtsform funktioniert, müssen Lehrer_innen ihr Fach, ihr Thema beherrschen und lieben und versierte Beziehungs- und Kommunikationsexpert_innen sein, um die Schüler_innen individuell motivieren, begleiten und herausfordern zu können. Denn um zu lernen und sich weiter zu entwickeln braucht jedes Kind individuelle Anreize, Reibung, verantwortungsvolle Ansprache und immer neue Herausforderung. Dafür braucht es die vertrauensvolle Beziehung zu einem verantwortungsvollen Menschen – einer Lehrkraft, die im Sinne eines_r Mentors_in agiert.

Wenn Inklusion an Schulen zukünftig gelingen soll, brauchen wir Lehrkräfte als kreative Lernbegleiter_innen mit oben beschriebenen Kompetenzen und konstruktivistische, partizipative Unterrichtskonzepte – im Sinne von experimentellen »Spielwiesen«.

Kontrast zwischen Schule und der Welt 2015
Wir wissen also längst, dass konstruktives Lernen ganz und gar andere Bedingungen erfordert, als sie derzeit in unserem Schulsystem die Norm sind. Es ist insbesondere der Kontrast zwischen Schule und der real existierenden Welt da draußen, der uns zumindest skeptisch machen sollte:

Die Generation, die unsere Zukunft gestalten wird, verbringt die entscheidenden Jahre ihrer Jugend in einem System, das sich auf Denkmustern des letzten Jahrhunderts gründet.

Schule vor hundert Jahren
Wenn wir unsere Gesellschaft heute mit der von 1914 (vor hundert Jahren) vergleichen, dann wird offensichtlich, dass sich alle gesellschaftlich relevanten Bereiche massiv verändert haben: Medizin, Technik, Kommunikation. In krassem Gegensatz dazu steht unser Bildungssystem: Die Schulen sehen heute im Wesentlichen noch so aus wie 1914. Klassenräume, Stühle und vorne ein Pult. Unterricht nach Fächern in 45- bzw. 90-Minuten-Formaten, Pausenklingel. Abgesehen von ein paar Computern und der Ablösung der Tafel durch das Smartboard hat sich wenig verändert im Vergleich beispielsweise zur Entwicklung von der Grammophonplatte zu iTunes.

Worauf die Schulen vor hundert Jahren vorbereiten sollten, war ein Funktionieren in den gegebenen gesellschaftlichen Strukturen. Pünktlichkeit, Fleiß und vor allem Gehorsam waren zentrale Ziele der Erziehung. Begriffe wie Selbständiges Denken, Autonomie und Selbstermächtigung spielten im Schulkontext überhaupt keine Rolle. Ganz im Gegenteil: Die Jugendlichen sollten lernen, sich anzupassen und zu funktionieren – nicht die Welt zu hinterfragen.

Herausforderung Vielfalt
Wie sollen wir mit der immer weiter zunehmenden Heterogenität an unseren Schulen umgehen?

Lehrkräfte sollen differenziert unterrichten und individuell fördern. Solange sie aber ein genormtes Referenzsystem im Kopf haben (müssen), nehmen sie alles, was davon abweicht, notwendigerweise als störend bzw. defizitär wahr.

Durch diesen Widerspruch geraten die Lehrkräfte in eine völlig fatale Lage: Selbst, wenn sie individuell fördern wollten und könnten, dürfen sie es nicht, weil sie nach außen immer die „Gerechtigkeit“ ihrer Notengebung transparent machen müssen – das heißt: Sie müssen zu jedem Zeitpunkt Deutungen festlegen und wie viele Credit Points man für welche Leistung erhält.

Damit ist der gesamte, oben beschriebene Ansatz obsolet.

An diesem Widerspruch erkranken auch die Schüler_innen. Wer merkt, dass er nicht wirklich ehrlich aufgefordert ist, mit seinen individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen zu partizipieren, der rebelliert – oder geht in die innere Emigration. Ist ja sowieso egal.

An diesem Widerspruch kranken nicht nur unsere Schulen, sondern unser gesamtes System. Wer nicht klar kommt, wer sich nicht anpassen kann oder will, wird defizitär bewertet, was einen Teufelskreis in Gang setzt. Denn wer immer als »irgendwie noch nicht ganz richtig« bewertet wird, glaubt irgendwann selbst, er wäre »nicht ganz richtig« – wird entweder krank oder klinkt sich aus und empfindet sich nicht länger als Teil unserer Gesellschaft. All das, was eigentlich produktiv sein könnte, all die Möglichkeiten, wie jemand unsere Gesellschaft mit gestalten könnte, sind blockiert.

Sinn und Aufgabe von Bildung
»Bildung bedeutet, sich in der Tiefe mit Inhalten zu beschäftigen, sie in Beziehung zu sich selbst und der eigenen Situation in dieser Welt zu setzen, und auf diese Weise die Fähigkeit zu erlangen, eigenständig Fragen zu formulieren. Eine der wichtigsten Aufgaben von Bildung ist es, Jugendliche zu einem kritischen Bewusstsein zu befähigen. Die Fähigkeit beispielsweise, Fakten von Meinungen zu unterscheiden, ist unverzichtbar in einer zunehmend fragmentarisierten und digitalisierten Lebenswelt, in der eindeutige Bedeutungszuschreibungen unmöglich sind. In einer Zeit, in der Wissen jedem und überall zugänglich ist, wird nicht die Anhäufung von Wissen zur Zukunftsressource, sondern der bewusste und kritische Umgang mit der Flut an Informationen und vermeintlichen Fakten.

Abstrusitäten der Schule werden allgemein für NORMAL gehalten.
Die Art und Weise aber, wie diese individuelle Persönlichkeitsentwicklung initiiert und dann weiter befördert werden soll, steht in unseren heutigen Schulen in einem wunderlichen Kontrast zur beabsichtigten Zielsetzung. Und die Mehrheit hält es für normal, dass man Noten geben muss. Dabei liegt genau hier der grandiose Denkfehler. Alles wäre möglich, bzw.: Alles ist schon da. Und in dem Moment, wo wir uns das Notensystem einmal komplett weg denken, wird deutlich, was alles möglich wäre… Aber:

Automobile und Pferdekutschen
Noch immer geht eine Mehrheit der Lehrer, Schüler und Eltern davon aus, dass es sinnvoll und »normal« ist, dass sich 25 Jugendliche einer Altersgruppe in verabredeten und genau getakteten Zeitabschnitten mit mehr oder weniger denselben Inhalten beschäftigen und dass alles nach Noten bewertet werden muss.

Das entspricht in etwa dem Irrtum der Mehrheitsgesellschaft, als die Automobile erfunden wurden. Damals reagierte man auf diese Erfindung zu allererst mit einer großen Aufregung und mit der Durchsetzung eines Verbotes: Automobile durften nicht auf den Straßen fahren, weil man fürchtete (zu Recht übrigens), dass die Automobile die Pferde scheu machen würden…

Gesellschaftspolitische Relevanz für Autonomie in der Bildung
Den Eigensinn der Kinder zu stärken ist auch aus einem gesellschaftlichen Grund eine unserer dringendsten Aufgaben. Denn:
Nur wer selbst im Eigenen bestärkt wurde, kann das Fremde aushalten und produktiv aufnehmen – wenn wir die positiven Kräfte einer freien, demokratischen Welt erhalten wollen, müssen wir unsere Kinder zur Fähigkeit erziehen, Diversität auszuhalten.

Man muss die Welt vom Unterschied aus erfahren, auf der Grundlage eines sicheren Gefühls der eigenen Identität. Dann erst ist es uns auch möglich, die eigene Identität immer wieder neu zu verhandeln und weiter zu entwickeln.

Indem wir die Welt aus der Perspektive des Unterschieds betrachten und auf gewisse Weise damit hervorbringen, erkennen wir eine Wahrheit, die dem einzelnen Individuum, das die Welt nur aus seiner eigenen Perspektive betrachtet, verborgen bleibt. (Alain Badiou)

Eines der drängendsten Probleme unserer Zeit ist das Thema Migration. Auf der andere Seite der Demografiewandel. Beides könnte sich günstig beeinflussen. Das aber hängt von unserer gesellschaftlichen Fähigkeit ab, mit Diversity umzugehen.
Es geht nicht darum, wie viele Menschen von A nach B wandern, sondern darum, wie viel Diversität unsere Gesellschaft aushält. (Spiegel, Nr. 12, 14.03.2015, »2030 – Es kommen härtere Jahre«, Seite 27)
Derzeit gelingt uns das nur sehr bedingt. Nach Slavoj Zizek ist unsere Demokratie durch einen zunehmenden Relativismus bedroht. Die Demokratie wird nicht mehr lebendig gelebt. Anderes und Fremdes wird irgendwie »toleriert«, aber im Sinne einer gleichgültigen Duldung. Es fehlt eine wirklich lebendige und streitbare Auseinandersetzung, die sich auf das Fremde wirklich einlässt und dabei auch die Möglichkeit einbezieht, sich selbst zu ändern.

Zitat Slavoj Zizek:

»Es gibt Dinge, die unmöglich zu ertragen sind, ›l’impossible-a-supporter‹, wie Jaques Lacan es genannt hat. (…) Toleranz ist dafür keine Lösung. Was wir brauchen, ist eine übergeordnete Leitkultur, die regelt, auf welche Weise die Subkulturen interagieren. Der Multikulturalismus mit seinem wechselseitigen Respekt für die Empfindlichkeiten des anderen funktioniert nicht mehr, wenn es zu diesem ›impossible-a-supporter‹ kommt. Strenge Muslime finden unsere blasphemischen Bilder und unseren rücksichtslosen Humor, die für uns einen Teil unserer Freiheit ausmachen, unmöglich zu ertragen. Genauso finden westliche Liberale Praktiken wie die erzwungene Eheschließung oder das Wegsperren der Frau, die Teil des gelebten Islam sind, unmöglich zu ertragen. (Oder Witze über den Holocaust) … Deshalb sage ich als Linker: Wir müssen für unsere eigene Leitkultur kämpfen. Die europäische Leitkultur ist der Universalismus der Aufklärung, in dem die Individuen sich zu sich selbst als universell verhalten. Das heißt, sie müssen fähig sein, von ihrer Besonderheit abzusehen, ihre partikulare soziale, religiöse oder ethnische Position zu übergehen. Es reicht nicht, einander zu tolerieren. Wir müssen unsere eigene kulturelle Identität als etwas Kontingentes, als etwas Zufälliges, etwas Veränderbares erfahren können. (…) Unsere Identität besteht aus mehreren Identitäten, die nacheinander und nebeneinander existieren können. (…) Die einzige Möglichkeit zur Autonomie ist die Entwurzelung, das Herausreißen aus dem Anpassungszwang der Gemeinschaft. (…) Der Fortschritt der westlichen Demokratie besteht darin, den Raum der Universalität nach und nach zu erweitern und damit auch die Wahlmöglichkeiten zwischen meinen kontingenten Entscheidungen zu vervielfältigen. (…) wir müssen uns bemühen, uns die Fragen neu zu stellen, über die gesellschaftlichen Bedingungen für das Ausüben persönlicher Freiheitsrechte zu reflektieren. (…) Das ist unser Kampf heute, Wikileaks eingeschlossen – diesen öffentlichen Raum lebendig zu halten. (…) Der Zusammenstoß der Kulturen sollte nicht durch einen gefühlten globalen Humanismus überwunden werden, sondern durch die übergreifende Solidarität mit den Kämpfenden innerhalb jeder Kultur. Unser Kampf für Emanzipation (und Autonomie) sollte mit dem Kampf gegen die Kasten in Indien, mit dem Widerstand der Arbeiter in China verbunden werden. Alles hängt hiervon ab: Der Kampf für die Palästinenser und gegen den Antisemitismus, Wikileaks und Pussy Riot, alle sind sie Teil desselben Kampfes. Wenn nicht, können wir uns einfach alle umbringen.«

(Spiegel, Nr. 12, 14.03.2015, »Unsere Trägheit ist die größte Gefahr«, S. 134)

Wir aber haben uns angewöhnt, alles immerzu zu relativieren, und klare »alarmierende« Standpunkte zu vermeiden. Wir streiten uns nicht mehr. Wir winken ab und machen es uns in unseren »Sandburgen« gemütlich. Währenddessen wachsen um uns herum die Krisenherde dieser Welt.

Das erinnert ein bisschen an die Situation in der Fernsehserie »Game of Thrones«: Während wir uns in den kleinen Problemchen unseres Latte-macchiato-Alltags verheddern, rückt von draußen ein tatsächliches Problem heran, das wir alle nicht so ganz wahrnehmen: »Winter is coming«.

»Warum empfinden wir Europäer unsere missliche Lage als eine ausgewachsene Krise? Ich glaube, weil wir spüren, dass es nicht nur um Kapitalismus ja oder nein geht, sondern um die Zukunft unserer westlichen Demokratie. Am Horizont zieht etwas Dunkles herauf, die ersten Windstürme haben uns schon erreicht.«

(Slavoj Zizek, »Unsere Trägheit ist die größte Gefahr«, Spiegel Nr. 12/ 14.03.2015, S. 131)

Weil wir kein Bewusstsein für uns selbst und unsere wirklich eigenen Überzeugungen und Bedürfnisse entwickeln können und uns stets über äußere Bilder definieren, ist das ICH nicht stark genug, um das Irritierende und Fremde auszuhalten. Es findet eine zunehmende Abschottung gegen die »Probleme da draußen« statt, ein Rückzug ins Private, der aber die Probleme unserer Demokratie insgesamt verstärkt.
Vilém Flusser bezeichnet den „entsetzten Zustand“ der Migration als Quelle der Kreativität. In diesem Sinne müssen wir alle wieder aus unserer relativierenden Gleichgültigkeit heraus und selbst »emigrieren« – in die Perspektiven und Lebenswelten der anderen.
Die Gedanken von Vilém Flusser zur »Freiheit der Migranten« könnten in diesem Zusammenhang hilfreich sein:

Nur jemand, der aus seiner (gedanklichen) Heimat vertrieben wurde, bzw. sie freiwillig verlassen hat, kann die Fähigkeit entwickeln, kreativ bzw. schöpferisch mit seiner gegenwärtigen Situation umzugehen.

Nach Vilém Flusser ist Migration eine kreative Situation. Die Exilsituation ist als Herausforderung für schöpferische Handlung zu sehen:

»Der Vertriebene ist aus seiner gewohnten Umgebung herausgerissen worden (oder hat sich daraus herausgerissen). Gewohnheit ist eine Decke, welche den Sachverhalt zudeckt. In der gewohnten Umgebung werden nur Veränderungen, nicht aber Permanenzen wahrgenommen. Wer wohnt, für den sind nur Veränderungen informativ, und alles Permanente sind für ihn Redundanzen. Im Exil ist alles ungewöhnlich. Das Exil ist ein Ozean von chaotischen Informationen. Der Mangel an Redundanzen dort erlaubt nicht, diesen Informationsschwall als sinnvolle Botschaften zu empfangen. Das Exil ist, da ungewöhnlich, unbewohnbar. Man muss, um dort wohnen zu können, die umherschwirrenden Informationen zu sinnvollen Botschaften erst verarbeiten, man muss diese Daten »prozessieren«. Das ist eine Frage des Überlebens: leistet man die Aufgabe der Datenverarbeitung nicht, dann wird man von den Wellen des Exils verschlungen. Daten verarbeiten ist synonym mit Schaffen. Der Vertriebene muss kreativ sein, will er nicht verkommen.«

(aus: »Von der Freiheit des Migranten«, Vilém Flusser, S. 103ff).

Im Zeitalter der Globalisierung reicht es nicht mehr, sich auf Altbewährtes, Altbekanntes zu verlassen und nur das Eigene, Vertraute für richtig zu halten. Die konstruktive Auseinandersetzung mit dem Fremden ist zwingend notwendig geworden, um mit den schnellen Entwicklungen unserer Zeit Schritt halten zu können und nicht auf einer »Insel der Ahnungslosen« zurückzubleiben.

Den Grad an (mentaler) »Wachheit« und selbstbestimmter Teilhabe an dieser Welt könnten wir dadurch steigern, dass wir dem Fremden mit (wertungsfreier, vor allem vorurteilsfreier) Neugier gegenüber stehen.
Dies gelingt uns in weiten Teilen leider nicht.

Woran liegt das? Nach Vilém Flusser ist die »Gewohnheit eine Wolldecke, die Ecken abrundet und Geräusche dämpft«. Nur derjenige, der seine »Heimat« verlassen hat oder aus ihr vertrieben wurde, kann in den scheinbaren Wichtigkeiten der kulturellen Heimat das Banale, nämlich das Austauschbare, erkennen und zu einer konstruktiveren, weil offeneren Weltsicht gelangen. Der Abschied vom »Richtigkeitsanspruch« des vertraut gewordenen, kulturell verabredeten Gedankenguts ist schmerzhaft. Daher spricht Flusser von einem »entsetzten« Zustand. Nur, wer vorher gesessen hat, kann »entsetzt« werden. Entsetzen ist kein angenehmer Zustand. Aber er führt zu einer neuen, erweiterten Sicht der Dinge. Nur derjenige, der »entsetzt« ist, kann sehen, wo und wie die anderen sitzen.

Deshalb brauchen wir eine klare Vorstellung davon, wer wir sind und was wir wollen – damit wir eine lebendige Auseinandersetzung mit dem Fremden aushalten, daran wachsen und diese Erfahrung immer wieder neu bei anderen initiieren können.

Wirtschaftliche Gründe
Schlussendlich ist es auch unsere wirtschaftliche Entwicklung, die ein Umdenken dringend erforderlich macht.

Dazu ein paar Ausführungen aus dem Spiegel, Nr. 12 vom 14.3.2015, S. 23–32):

»Die Digitalisierung ist dabei, das Leben umzuwälzen. Wie die Wirtschaft funktioniert, womit wir unseren Lebensunterhalt verdienen, wie wir zusammenleben, wie wir denken, lernen und fühlen – all das ist einem epochalen Wandel unterworfen. (…)

Daten werden wichtiger als Dinge.

Deutschlands aktuelle Wirtschaftsstärke basiert großteils auf Wirtschaftsstrukturen, die aus dem späten 19. Jahrhundert stammen: Autos, Maschinen, Chemie, Elektro. Doch in Zukunft wird es weniger ums Produzieren gehen.

Kreieren wird als Erfolgsfaktor in der durchdigitalisierten Wirtschaftswelt wichtiger als produzieren.«

Die Ängste vieler Eltern, dass ihre Kinder später keine Chance auf ein erfolgreiches, erfüllendes Berufsleben haben werden, ist völlig unbegründet im Hinblick auf unsere wirtschaftliche und demografische Entwicklung:

Schon in zehn Jahren wird es aufgrund des demografischen Wandels mehr Jobs geben. Und es werden immer neue Jobs entstehen, für die wir dringend Leute brauchen. Es wird eher schwierig werden, den Bedarf überhaupt zu decken. Vor allem aber wird es zunehmend Menschen brauchen, die umfassend gebildet sind und selbständig und kreativ denken und agieren können. Auch deshalb müssen wir unser Bildungssystem dringend in Richtung individuelles Lernen und Autonomie umstellen.

Kreative Lernlabore
Es besteht ein riesiger Bedarf an »echtem« Lernen. Damit ist gemeint, dass man analog – in real statt findenden Beziehungskontexten- zusammen in der Gruppe etwas erlebt, etwas versucht, etwas erarbeitet, diskutiert, probiert, erfindet, sich erprobt. Mit unvorhersehbarem Ergebnis. Denn solche (Lern-) Erfahrungen können Jugendliche in ihrem Alltag nur sehr bedingt selbst herstellen.

Es kann nicht länger um ein standardisiertes Wissen gehen, sondern um ein Wissen, das sich nur durch eigene Erfahrungen generieren lässt. Und das auf diese Weise zu selbständigem Denken führt. Genau das interessiert Jugendliche sofort.

Ausgangspunkt von Lernprozessen müssen eigene, persönliche Interessen und Fragen der Jugendlichen sein, denn von ihrer individuellen Geschichte ausgehend, erschließen sie sich die Welt. Nur im Spannungsverhältnis zwischen dem eigenen Privaten und dem Äußeren entsteht eine Erkenntnis über den möglichen eigenen »Sinn« in dieser Welt und über mögliche eigene Lebensentwürfe.«

Statt Noten und Vorgaben für Bewertungsraster brauchen wir kreative Lern-Labore

Wie kann das gehen?

Der Ausgangspunkt für eine Perspektiv-Veränderung bei den Erwachsenen in unseren Schulen muss eine Exilsituation sein: eine Störung, ein Ent-Setzen, im Sinne einer Konfrontation mit dem Fremden. Diese muss aber gleichzeitig durch das Ermöglichen echter Autonomie sofort auch die angenehme Attraktion mit sich bringen: Die Möglichkeit, selbst zu denken und zu gestalten.

Diese Entwicklung kann von Künstler_innen von außen angestoßen werden, wenn diese umfassend auf die Situation vorbereitet sind. Wir brauchen die künstlerische Perspektive, die von der Frage ausgeht, um die erstarrten Strukturen und Denkmuster von innen heraus zu verändern.

Dafür müssen die Künstler_innen ausgebildet werden, damit sie an den Schulen nicht einfach nur »ihre eigene Sandburg« aufbauen. Es muss um die Auseinandersetzung und die Initiierung einer Kommunikation der Begegnung gehen, in der jeder da beginnen kann, wo er ist und was ihn oder sie gerade bewegt.

Dieser Impuls geht von den Künstler_innen aus, die sowohl die Irritation als auch – nach einer entsprechenden Ausbildung- die Kultur des inklusiven Denkens und Handelns mitbringen – und so zum Ausgangspunkt einer sich weiter »ansteckenden Gesundung« werden.

Was im Großen geschehen soll, muss im Kleinen anfangen – bei der Auseinandersetzung von Mensch zu Mensch und bei der eigenen persönlichen Frage.

Von der künstlerischen Perspektive geht es aus, über die bewusste Kultur der gelebten Inklusion wird das Prinzip des individuellen Kreierens immer weiter verbreitet. Die Lehrer_innen können auf diese Weise – genauso wie die Jugendlichen – den/die Künstler_in in sich entdecken – im Sinne einer eigensinnigen Gestaltung von Welt.

Unser konkretes Konzept: Act! Führe Regie über dein Leben
Nach 17 Jahren Schuldienst habe ich meine Tätigkeit als Lehrerin aufgegeben und bin nun im Vorstand von Mitspielgelegenheit e.V. um dort eine nachhaltige Veränderung unseres Bildungssystems mit zu entwickeln und auf den Weg zu bringen.

Ausgangspunkt aller Überlegungen ist die gelebte Erfahrung, dass die Erfindung »kreativer Startrampen« jenseits schulischer Vorgaben eine riesige Flut an verborgenen Potenzialen zum Vorschein bringt. All diese Potenziale können in unserem derzeitigen Schulsystem nicht abgebildet, und in der Konsequenz auch nicht entdeckt werden.

Mitspielgelegenheit ist ein Verein von Künstler_innen, die ursprünglich Theaterprojekte an Schulen durchführen. Bald wird Mitspielgelegenheit zu Act!. Damit geht ein neues gesellschaftspolitisches Konzept einher:

Ausgebildete Künstler_innen bringen die Act! Kultur an innovationsfreudige Schulen, die sich auf den Weg machen wollen. Langfristig bedeutet die Umstellung der Schulen auf eine inklusive, innovative und partizipative Lernkultur gleichzeitig auch den Abschied von den Noten. Dies wird auch den Lehrkräften den Raum ermöglichen, wieder zu Erfinder_innen ihres Berufes zu werden und eigene partizipative »Startrampen« aus ihren Fächern heraus zu entwickeln.

Ausgangspunkt dieser Entwicklung ist die künstlerische Perspektive, die vom eigenen Erlebens- und Erfahrungspunkt aus eigene Fragen formuliert, aus denen sich ganz eigene Lern- und Gestaltungsvorhaben ableiten.

Diese individuellen Lern- und Gestaltungsvorhaben finden zahlreiche Entwicklungsmöglichkeiten durch partizipative »Startrampen« (welche zunächst von Künstler_innen, später dann auch von Lehrkräften für ihre Fächer) entwickelt werden.

Um konstruktiven, inklusiven Unterricht gestalten zu können bedarf es

  1. eines partizipativen, methodischen Ansatzes im Sinne einer vielfältigen »Spielwiese« oder »Startrampe« und
  2. einer stärkeorientierten, wertschätzenden Kultur, die durch eine professionelle Beziehungs- und Kommunikationsgestaltung der Künstler_in etabliert und dann (im besten Fall) von allen anderen weitergelebt wird.

Auf der Basis der fragenden, künstlerischen Perspektive erfinden Künstler_innen als erste partizipative »Startrampen« für individuelle Lern-Startpunkte – nach dem Prinzip des »Theatralen Mischpults«.

Partizipative »Startrampen«
Was ist eine partizipative Startrampe? Vom Grundprinzip geht es darum, den Reflexionsweg, der beispielsweise zur Erfindung der Noten geführt hat, wieder zurück zu verfolgen an seinen Anfang. Denn die Noten in der Musik sind das Ergebnis einer Vielzahl an Erkenntnissen, Erfahrungen und Fragen. Welche Erkenntnisse und Fragen, welches Wissen war es, das zur Erfindung der Noten geführt hat? Und wie können wir diesen Prozess wieder erlebbar machen?

Nehmen wir das Beispiel des »Theatralen Mischpults«:
Das Wissen und die Koordinaten zur Kunstform Theater wurden in viele kleine Einzelteile fragmentarisiert – in Form von Karten. Welches ist die kleinstmögliche Einzel-Information zur Kunstform Theater? Woraus besteht Theater? Was macht eine theatrale Handlung aus? Welche Koordinaten bzw. Ebenen sind wirksam, wenn ein Spieler etwas tut und ein Zuschauer dies betrachtet? Welches ist der kleinstmögliche zu fassende Qualitätsbaustein von Theater?

Der Erfinder von partizipativen Startrampem muss sich überlegen: Inwieweit kann ich eine komplexe Information, über die ich selbst bereits verfüge, zurück verfolgen an ihren Ursprung? Wo hat der Reflexionsprozess ursprünglich begonnen? Welche Frage war vielleicht der Beginn aller Überlegungen, die zum Schluss zu dieser Information, bzw. zu diesem Begriff geführt haben? Und wie kann ich diese Information in kleinstmögliche Einzelteile zerlegen: Einzelne Bausteine, die wir nebeneinander legen können – und die wiederum ganz neu kombiniert werden könnten?

Das Aufsplitten der »Faktoren«, die Theater ausmachen und die transparente Visualisierung all dieser Einzelbausteine, ermöglicht einem Menschen, der noch nichts darüber weiß, einen eigenen, individuellen Einstieg. Er kann irgendwo anfangen und sich mit einem „Baustein“ beschäftigen – bis sich aus der Beschäftigung damit eine Frage oder eine Neugier entwickelt, die zur Suche nach einem weiteren Baustein, einem weiteren Fragment führt.
Da die Anzahl der Kombinationsmöglichkeiten unendlich ist, kann jeder Mensch ganz und gar eigene, individuelle Wege wählen und darüber persönliche Erfahrungen und in der Konsequenz Erkenntnisse gewinnen. Da er immer der nächsten, sich logisch entwickelnden, EIGENEN Frage folgen kann, ergibt dieser Prozess für ihn Sinn und der Erkenntniszuwachs wird als beglückend empfunden. Je mehr der Mensch auf diese Weise erfährt, desto mehr möchte er wissen. (!)

Eine partizipative Startrampe zu bauen bedeutet also, etwas zu erfinden, das die Fragen zu einem Themenfeld wieder neu ermöglicht – und unendlich viele Zugänge dazu ermöglicht. Das heißt auch, dass dieser Prozess ergebnisoffen ist. Vielleicht (wahrscheinlich!) findet ein Kind beispielsweise beim Experimentieren mit den Einzel-Fragmenten zur Kunstform Theater eine theatrale Form, die es noch nie gegeben hat…

Dieses Prinzip der Fragmentarisierung und »Zur-Verfügung-Stellung« von bestehendem Wissen, bzw. bestehenden Begriffen, kann immer wieder zu neuem Wissen und zu neuen Begriffen führen. Das bestehende »Wissen« kann überwunden werden. Diese Tatsache ist die Quelle jeglicher Motivation. Und sie ist der Kern jedes gelungenen Bildungsprozesses: Ich muss nicht irgendwelches Wissen anhäufen, dass ich vielleicht auch wieder vergesse und das mich nicht so sehr interessiert – sondern ich erlebe Schritt für Schritt, dass ich mehr von der Welt verstehe und dass ich Neues entdecken und sogar Neues erfinden und gestalten kann.

Weiterbildungsprogramm »LernKünste«
Im Weiterbildungsprogramm »LernKünste« entwickeln wir derzeit in Kooperation mit der Alice Salomon Hochschule und gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung die Grundlagen für ein solches Ausbildungskonzept.

Einerseits geht es darin um eine lebendige Kultur des Ermöglichens von Potenzialen, die vom einzelnen Menschen ausgeht und das Ziel verfolgt, Räume der gegenseitigen Wertschätzung und eine Kommunikation der Begegnung zu etablieren.

Andererseits geht es um die Erprobung und Reflexion des partizipativen Prinzips am Beispiel des »Theatralen Mischpults«. Dieses dient als Grundprinzip, um auf dieser methodisch-didaktischen Grundlage eigene kreative und partizipative »Startrampen« zu erfinden.

Diese verschiedenen Ansätze »partizipativer Spielwiesen« und die Act!-Kultur des Ermöglichens werden von den Künstler_innen in die Schulen gebracht und werden dort von den Lehrkräften und allen Beteiligten der Schule weiter gelebt.

So entsteht eine Kultur der Vielfalt, die von den Potenzialen des einzelnen ausgeht und immer weitere persönliche Wege des Wachstums ermöglicht. All das wird immer als Gesamt-Konzept gedacht, das heißt: Auch die Lehrkräfte starten mit der Entwicklung eigener partizipativer Spielwiesen genau dort, wo ihre innere Unruhe bzw. ihr persönliches Potenzial liegt.

Die partizipativ gestalteten künstlerischen Prozesse werden so für alle Lehrkräfte Anregung und Ausgangspunkt für die Entwicklung eigener partizipativer Unterrichtskonzepte auch in anderen Fächern.

Auf der Basis dieses Prinzips lassen sich zahlreiche partizipative Konzepte in allen anderen Fachbereichen entwickeln.

Über einen partizipativen, methodischen Ansatz (methodische Startrampe) auf der einen und einer lebendigen, wertschätzenden Kultur der Vielfalt auf der anderen Seite kann ein neuer sozialer Raum der Begegnung etabliert werden, in dem die ansonsten geltenden rollenspezischen Verhaltensmuster abgelegt und neue Rollen (und immer wieder neue, wahre Identitäten) erschaffen werden.

Die Lehrkraft agiert in diesem Kommunikationsraum nach dem sokratischen Prinzip der »Meister-Schüler-Beziehung«:

»Der Meister lernt vom Schüler und wird durch diese Beziehung verwandelt in einem Prozess, der sich im Idealfall in einen Austausch verwandelt. Das Schenken geschieht wechselseitig, wie in den Labyrinthen der Liebe. Es geht also nicht um einen Wissenstransfer, sondern um den Lernprozess selbst, der zu neuen Erkenntnissen führt. Nichtwissen heißt bei Sokrates lebenslanges Fragen, lebenslanges Lernen, jenseits unveränderlicher Gewissheiten. Genau das ist heute erforderlich in einem medialen Environment, in dem Informationen so verwirrend zahlreich zirkulieren und so schnell veralten, wie nie zuvor.«

(Christine Eichel, Deutschland deine Lehrer, Blessing Verlag, S. 44, 45)

Auf diese Weise entsteht ein Konzept von Bildung, das jedem einzelnen Menschen ermöglicht, die eigene Frage, den eigenen biografischen Anknüpfungs- und Interessepunkt zu finden und von dort einen wirkmächtigen, individuellen Bildungsprozess in Gang zu setzen.

Wir müssen uns deshalb keine allzu großen Sorgen machen: Es gibt bereits ein System, das der unfassbaren Komplexität der Welt vollkommen gewachsen ist: Das ist der Mensch selbst, mit seiner unendlichen Fähigkeit zur Imagination – wenn er seine Potenziale erkennen und entwickeln kann.