Inklusives Wochenende

Am Wochenende habe ich erstmals mit einer Gruppe von Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen mit dem „Theatralen Mischpult“ gearbeitet. Wenn ich das auch vorher schon geahnt habe, so war ich doch überrascht, wie schnell und begeistert sich die Gruppe auf diese Methode einließ.

Allerdings war das in den frühen Morgenstunden noch nicht absehbar. Denn am Morgen der Veranstaltung war ich noch davon ausgegangen, dass ich wie üblich mit einer Gruppe von Theaterlehrer_innen arbeiten würde. Also staunte ich nicht schlecht, als ich beim Frühstücksei erfuhr, dass ich mit einer inklusiven Gruppe – bestehend aus Erwachsenen (den Lehrer_innen) und jungen Erwachsenen mit Behinderungen – arbeiten würde. Offenbar hatte A. mir das im Vorfeld auch mitgeteilt, aber ich hatte wohl nicht richtig zugehört. Jetzt blieb mir kurz das Ei im Halse stecken, denn es waren noch 10 Minuten bis zur Abfahrt und ich fragte mich: Was MACHE ich denn jetzt mit dieser Gruppe?

Lustig, dass ich in der Schrecksekunde des Unerwarteten in ein altes Muster aus längst vergangenen Tagen zurück fiel: In die Angst der Lehrerin vor der unzureichend vorbereiteten Stunde. Denn natürlich war die Antwort ganz einfach: Dasselbe! Ich musste mich selbst kurz daran erinnern, dass ich doch seit ziemlich langer Zeit weiß, dass es „nur“ zwei Dinge braucht um guten Unterricht zu geben:

Ein komplexes, dabei aber völlig klares, transparentes methodisches Koordinatensystem, (innerhalb dessen verschiedenste, individuelle Lernzugänge und vor allem Entdeckungen möglich sind) – und die Erkenntnis, dass ich nicht alles kontrollieren – sondern alles ermöglichen muss. Und das Koordinatensystem – in Form des Theatralen Mischpults – hatte ich ja dabei. Dann kam es jetzt also „nur“ auf meine innere Haltung der flexiblen Ermöglicherin an…

Diese innere Haltung hatte ich ja bereits vor vielen Jahren erlernt:

Schon vor über 10 Jahren habe ich – noch in Schleswig Holstein – ein Jahr lang mit einer Gruppe von Mädchen mit Down-Syndrom gearbeitet. Mein Schulleiter war damals der Meinung, das könnte ich. Ich war entsetzt und protestierte, dass ich auf diesem Feld keinerlei Erfahrung hätte. Er war davon sehr unbeeindruckt und entgegnete mir: Dann wird es ja Zeit.

Damals brauchte ich ein halbes Jahr (!), bis es mir gelang, konstruktiv und mit Freude mit den Mädchen zu arbeiten. Ich dachte immer, ich müsste ihnen was beibringen, bereitete mich stundenlang vor, nur um dann Stunde um Stunde zu erleben, wie sie bockig, bzw. apathisch am Rand saßen und mich mit all meinen Plänen auflaufen ließen. Irgendwann verlor ich die Nerven, setzte mich in eine Ecke und gab auf. Da setzten sie sich plötzlich in Bewegung, nahmen neben mir auf dem Boden Platz und strichen mir tröstend über die Schulter. Als ich irgendwann fragte: Was machen wir denn jetzt? wussten sie das sehr genau. Sie gingen zum CD-Spieler, legten ihre Cds auf und fingen an zu tanzen. Das war der Anfang einer extrem schönen und beeindruckenden Zusammenarbeit.

Im Grunde waren sie es, die mir gezeigt haben, dass Lernen und Lehren ein gegenseitiger Prozess ist und dass es Quatsch ist, in einen Raum zu kommen, anzukündigen: „So, ich habe hier was vorbereitet“, und ein Programm abzuspulen. Ihnen ist es letztendlich zu verdanken, dass ich später in Neukölln eine Idee davon hatte, was vielleicht helfen könnte…

Insofern war ich an diesem Wochenende besser vorbereitet. Denn die Erfindung eines methodischen Koordinatensystems – des Theatralen Mischpults – beruht genau auf dieser Erkenntnis:

Man kann nicht ein Gedankenkonstrukt errichten, es anderen minutiös aufzwängen und dann alle Abweichungen davon als „Nicht korrekt“ bewerten. Das erzeugt auf allen Seiten Frust und die Lernleistung bleibt auf abstruse Weise eingeschränkt.

Stattdessen muss man eine anspruchsvolle Spielwiese kreativer Lernmöglichkeiten erfinden, verschiedenste Möglichkeiten des Umgangs damit aufzeigen, die Schüler_innen einladen, damit zu spielen – und dann auf alles gefasst sein.

In der konstruktivistischen Didaktik entspricht dieses „Erfinden einer methodischen Spielwiese“ der Erschaffung des „konstruktiven Moments im Unterricht“ (Kersten Reich). Wie kann ich es schaffen, dass meine Schüler_innen nicht nur „erraten wollen, was ich will“, bzw. bloß etwas rekonstruieren, sondern selbst etwas konstruieren? (Siehe hierzu auch Kersten Reich zur „Konstruktivistischen Didaktik“, Vortrag auf Youtube: „Vielschichtig vielsichtig“).

Insofern ist es die „Ausrüstung“, die zählt, wenn man sich auf ungewisses Terrain begibt. Nicht der eigene, abgezirkelte Plan für den Unterricht.

Meine „Ausrüstung“ besteht in diesem Fall aus den präzisen Spielregeln des partizipativen, theatralen Mischpults (andere methodische Startrampen dieser Art sind in allen Fächern denkbar) – und aus der inneren Haltung der Ermöglicherin. Beides zusammen bildet die Grundvoraussetzung für die Schüler_innen etwas eigenes konstruieren zu können und darüber eine tatsächliche und nachhaltige (!) Lernerfahrung zu machen. Sind diese beiden Komponenten gegeben, kann kommen, was will. Dann wird es auf jeden Fall KONSTRUKTIV.

Ich habe das erst kapiert, als ich zum ersten Mal begriffen habe, dass ich im Grunde NICHTS wirklich weiß. Und dass alles andere eine Illusion ist.

Worum es wirklich geht, ist eine gemeinsame Sprache zu finden und in der Kommunikation Bedeutungsschnittmengen herzustellen – um dann gemeinsam – auf der Basis verabredeter Orientierungs-Koordinaten – etwas Neues heraus zu finden.

Natürlich spielt dabei das Erfahrungs-Wissen aller Beteiligten (auch mein eigenes) mit hinein – aber man erkennt, dass die kleine Wissens-Ecke (frei nach Trivial Persuit), die man vielleicht vermitteln wollte, ein bisschen lächerlich ist – im Vergleich zu dem, was tatsächlich an Lernprozessen möglich ist.

Doch zurück zum vergangenen Wochenende: In der Gruppe waren Menschen mit Down Syndrom, sowie mit anderen körperlichen und/oder geistigen Behinderungen vertreten. Und weil ich so sozialisiert bin, wie ich sozialisiert bin, war ich – trotz Ausrüstung – vorher aufgeregt und fragte mich: Was wird passieren? Wie reagieren die auf mich? Und kann ich das überhaupt?

Ich komme in den Raum und da sitzt ein junger Mann im Rollstuhl, der seine Arme nur spastisch und sehr eingeschränkt bewegen kann. Er hält den Kopf schief, blickt mir erwartungsvoll entgegen. Ich denke „Oh, Gott, was werde ich machen?“ und reiche ihm die Hand. Es dauert ein wenig, aber in seinem Gesicht entsteht ein Lächeln und er reicht mir ein wenig zitternd seine verkrümmte Hand. Er strahlt. Sofort umringen mich die anderen, lächeln scheu, ein anderer lacht ganz laut und streicht mir über die Schulter.

Ich glaube, hier hatte ich genau dieses Fremdheitsgefühl, das wir immer so angestrengt vermeiden. Wir wollen nicht hilflos, nicht unwissend sein – dabei ist genau dieses Gefühl der Anfang von allem – wenn wir den Mut haben, es auszuhalten – und neugierig zu sein.

Die Menschen, denen ich hier begegne, sind große Meister darin, dieses Gefühl auszuhalten und eine Einladung auszusprechen. Sie alle haben Ausgrenzung und Demütigung erlebt. Je weniger offensichtlich ihre Behinderung ist, desto mehr – denn dann waren sie oft in „normalen“ Unterrichts-Kontexten gewesen, in denen es um vorbereitete „Wissens-Ecken“ und entsprechende Bewertungsraster ging, in denen alle anderen ihnen vermeintlich voraus waren. Dort erlebten sie Herabsetzungen bis hin zum Mobbing.

Die Art, wie sie alle (!) mir als der „Neuen“, der „Fremden“ begegnen, spricht Bände. Schon in diesem Moment der ersten Begegnung kämpfe ich mit einem Gefühl der Beschämung. Denn ich rede davon, Gastgeberin sein zu wollen und Einladungen auszusprechen – aber hier begegne ich den wahren Expert_innen auf diesem Feld. Und was geht mir durch den Kopf? Ich denke: Oh, dieser junge Mann, der mich so offen anstrahlt und so nah an mich herantritt, der riecht aber streng… und weiche ein wenig zurück…

Ich erfahre von den beiden Theaterlehrerinnen, die mit dieser Gruppe arbeiten, dass er betreut wohnt, aber nur wenige Stunden in der Woche eine konkrete Betreuung hat. Er lebt relativ selbständig, aber mit der Körperpflege klappt es noch nicht immer so gut. Deshalb bringen seine Theaterlehrerinnen hier immer frische Socken und ein Deospray für ihn mit. Und ermutigen ihn, noch häufiger zu duschen. Es wird besser, aber es klappt nicht immer. Egal, hier wird er angenommen, wie er ist.

Zu Beginn wird Tee und Cola getrunken, gelacht und gescherzt – und draußen noch eine geraucht. Dann geht es los.

Es herrscht eine ganz erstaunliche Aufmerksamkeit, alle scheinen alles zu bemerken, auch wenn alle unterschiedlich reagieren. Ich merke schnell, dass ich nicht so langsam und betulich reden muss – so als würde ich mit „Behinderten“ reden. (Wieder bin ich über mich selbst beschämt). Es herrscht eine Präsenz und eine Spannung, die auf ganz verschiedenen Ebenen spürbar ist. Meine neuen Spieler_innen nehmen nicht nur meine Worte wahr, sondern auch meine Mimik und Gestik und wie ich mich durch den Raum bewege. Sie reagieren auf jede Kleinigekeit, auf jedes Signal.

Das Theatrale Mischpult hat noch niemals jemand so schnell verstanden wie diese Spielerinnen.

Und: Das ist keineswegs Koketterie. Kein einziger Gymnasial-Studienrat in meinen Theater-Workshops hat jemals das Theatrale Mischpult in seinen verschiedensten Möglichkeiten und Dimensionen so schnell erfasst, wie meine Teilnehmenden heute. Da kann man jetzt drüber lachen – oder aber in Demut verfallen. Am besten beides…

Wie selbstverständlich stehen oder sitzen die Teilnehmenden am Mikro, kombinieren die verschiedenen Spuren mit einer Leichtigkeit und einer Freude, wie ich es noch nie erlebt habe. Ich komme kaum nach, ihre neuen Ideen und Bewegungsvorschläge auf neue Karten zu schreiben.

Manchmal kann man sie nicht verstehen, manchmal dauert es etwas, bis das Mikro auf die Höhe des Rollstuhlfahrers runtergeschraubt ist, mal müssen sie Wörter erklären, die wir nicht kennen, weil sie gerade erst erfunden wurden – und manchmal geht es nicht weiter, weil sich alle wegschmeißen vor Lachen.

Und dabei bleibt es nicht. Auch beim Erfinden von Texten und Umsetzen in Szenen, auch bei der Zusammenarbeit in Gruppen scheint alles viel leichter als sonst. Jeder braucht eine andere Form von Assistenz und Aufmerksamkeit – aber das wissen alle – und insgesamt herrscht eine gemeinsame Energie und Zielgerichtheit, wie ich sie nur sehr selten erlebt habe.

Aus verschiedensten Möglichkeiten und Perspektiven heraus richten alle ihren Willen und ihr gesamtes Interesse auf das, was gerade gegenwärtig im Raum geschieht, auf den jeweils anderen und auf das, was im Kleinsten signalisiert und kommuniziert wird.

Es entsteht eine riesige Texte-Sammlung in der Schreibwerkstatt, wir spielen und reden und erfinden und lachen und machen Pause und essen zusammen und spielen weiter – und die Zeit fliegt vorbei.

Als sie in einer Übung eine nach der anderen ernst ans Mikro treten und ihre Ansichten zu „Glück“, „Ausgrenzung“ , „Ohnmacht“, „Liebe“, „Enttäuschung“, „Zukunftsträume“, …, ins Publikum sprechen, muss ich den Blick abwenden und mich extrem zusammen reißen – das kann doch nicht wahr sein, dass ich jetzt hier als Workshopleiterin heulen muss?? Erleichtert stelle ich dann fest, dass es den anderen auch so geht. Rote, nasse Augen überall – aber kein Hauch von Hysterie – Tränchen weg drücken und weiter geht’s… Und dann wird auch wieder gelacht.

Warum wir alle solche Erfahrungen machen sollten und warum das weit über die Schule hinaus relevant sein wird

Die Erlebnisse dieser zwei Tage haben mich zutiefst beeindruckt und zwar im Blick auf das Thema, das mich schon in den letzten Blogeinträgen beschäftigt hat: Inklusion.

Wir müssen im Zusammenhang mit Inklusion nicht von Menschen mit Behinderung sprechen. Es geht NICHT darum, Menschen mit Behinderung in unser normiertes, exklusives Schulsystem zu inkludieren.

Aber wir brauchen die persönliche Begegnung mit behinderten Menschen, damit wir überhaupt erfassen können, was an unserem normierten, exklusiven Schulsystem nicht stimmt.

Es sind nicht die Menschen mit Behinderung, denen geholfen werden muss. Sondern uns anderen muss geholfen werden – etwas Grundsätzliches zu verstehen.

Wenn wir mit Menschen arbeiten, die sich unserem normierten Denken komplett entziehen, entsteht ein Raum für folgende Fragen:

Was wird möglich,

  • wenn wir ein methodisches System anbieten, das allen (!) Teilnehmenden Anknüpfungspunkte für eigene, individuelle Gestaltung bietet?
  • wenn wir es wirklich mal sein lassen können, zu bewerten?
  • wenn wir Mitleid gegen Demut und Respekt eintauschen
  • wenn wir unsere gesamten Fähigkeiten und all unsere Energie und Präsenz auf die Geburtshilfe selbständiger Ideen und Gedanken all unserer Schüler_innen verwenden?

Dann erfahren wir, dass diese Form von Unterricht zwar sehr viel Konzentration, Kraft und Aufmerksamkeit erfordert – aber dabei extrem erfüllend ist: Weil die ganze Zeit, ununterbrochen, spürbar (!) Erkenntnisse und Lernfortschritte statt finden.

Wenn man das erlebt, fragt man sich, warum überhaupt noch irgendwo ANDERER Unterricht statt findet. Das ist mit einer solchen Erfahrung überhaupt nicht mehr zu begreifen.

Ich zitiere jetzt mit einem Augenzwinkern einen berühmten Satz: Ich habe einen Traum.

Ich habe einen Traum von Lehrkräften, die auf Schüler-Gruppen stoßen, in denen alle Jugendlichen so dermaßen verschieden sind – Alter, Kultur, Sprache, Geschlecht, Herkunft, körperliche, geistige, soziale Voraussetzungen – dass jede Lehrkraft in der ersten Sekunde begreift, dass hier jegliche Hoffnung auf Vergleichbarkeit völlig vergeblich ist.

Wir müssen aufhören, Menschen nach Beschriftungen zu klassifizieren und in verschiedene Gruppen einzuteilen. Wir müssen alle gemeinsam unterrichten.

Erst dann wird die erleichternde und konstruktive Kraft eines tatsächlich inklusiven Unterrichts erfahrbar. Erst dann können wir uns im Rückblick auf den alten, exklusiven Unterricht erstaunt die Augen reiben und uns fragen, warum wir das große Potenzial inklusiven Denkens und Handelns nicht schon viel früher begriffen haben.

Dabei wird es wirklich Zeit.

Denn ich glaube, dass das Thema Inklusion nicht nur im Kontext Bildung von entscheidender Relevanz ist:

Wie unsere Gesellschaft mit den aktuellen Problemen und Ängsten fertig wird (Islamophobie, Pegida, Asylpolitik, sich radikalisierende Jugendliche, Konservatismus versus Liberalismus und Herausforderungen der globalen Welt) und in welchem Maße sie diese Probleme demokratisch, aufgeklärt und zukunftsgerichtet bewältigen kann, wird davon abhängen, wie sehr die Mehrheit unserer Gesellschaft in der Lage ist, ein exklusives Gedanken-System gegen ein inklusives einzutauschen. Das ist die Aufgabe, die es zu bewältigen gilt.

Der Schlüssel zu all diesen gesellschaftlichen Problemen lautet: Inklusion. Und Inklusion ist viel einfacher, als man denkt.

Es ist in Wahrheit EINFACHER, erfüllender und sinnvoller, jedem Menschen eine andere Form des Lernens, Denkens und Wachsens zu ermöglichen, wenn dies auf der Ebene gegenseitigen Respekts und Wertschätzung geschieht.

Jeder Mensch, der das erfahren hat, hat weniger Gründe für Angst, Abgrenzung und Gewalt.

Jeder Mensch, der Wertschätzung für das Eigene erlebt hat, kann auch Wertschätzung für das Andere empfinden. Das wäre schon mal ein Anfang.

Und wir kommen sowieso nicht drum herum:

Vielfalt ist unsere Zukunft.

Das Gegenteil von Vielfalt ist Einfalt.