Die Matrix der Demokratie

Wir leben in Zeiten, in denen zunehmend populistische und radikale Positionen Gehör finden und das Vertrauen in die Grundwerte eines demokratischen Miteinanders schwinden.

„Wohin die Verschärfung des gesellschaftlichen Klimas führen kann, die Verrohung des Umgangs, die Radikalisierung des politischen Diskurses, das wurde vor einer Woche im nordenglischen Birstall sichtbar. Auf offener Straße tötete ein Mann die 41-jährige Labour-Abgeordnete Jo Cox mit Messerstichen und Schüssen. Cox’ Mörder hatten ihre politischen Überzeugungen nicht gepasst, ihr Werben für Humanität gegenüber Flüchtlingen, ihr Kampf gegen den Brexit. „Britain First!“, brüllte der Mann, als er auf Cox schoss. – Man muss kein Schwarzmaler sein, um sich in diesen Tagen Sorgen um die Demokratie zu machen – nicht nur in Großbritannien. In der Weimarer Republik jedenfalls,dem ersten demokratischen Experiment in Deutschland, gehörte ungezügelter Hass auf politisch Andersdenkende ebenso zum Alltag wie die Einschüchterung von Politikern und Morde an Amtsträgern. Es dauerte nicht lange, dann hatte dieser Hass auch die Demokratie zerstört.“

(Spiegel Nr. 26 vom 25.06.2016, S. 26)

Diversität ist der Schlüssel für jeglichen Fortschritt – Vielfalt ist bereichernd für alle.
Aber Diversität wird in unserer derzeitigen Gesellschaft zunehmend als Bedrohung wahrgenommen. Wachsende Abgrenzungstendenzen und Verbreitung von Hass sind die Folge.

Aber: Wem nützt es, die Unterschiede und das Trennende zwischen uns zu betonen? Was passiert, wenn sich Xenophobie und Nationalismus weiter verstärken? Wollen wir alle wieder gegeneinander antreten? Wo führt das hin?

Das ist eine rhetorische Frage. Jeder weiß, wohin das führt. Wir brauchen uns nur die Geschichte anzuschauen. Es ist eine Illusion zu glauben, dass – wenn jeder sich in Stellung gegen den vermeintlichen Gegner bringt – sich das Eigene daraufhin MEHR entfalten kann.

Das Eigene hat dann in letzter Konsequenz GAR KEINE Relevanz mehr. Alle Konflikte und Kriege dieser Welt zeigen ganz deutlich, dass das Individuelle, Menschliche zu allererst geopfert wird. Gewalt, Hass und Krieg zerstören so grundsätzlich alles Lebenswerte, alles Individuelle, dass noch Generationen danach geschädigt sind.

Eine der dringlichsten Aufgaben derzeit ist es daher, demokratisches Denken und Handeln in Zeiten und Situationen von wachsender Diversität wieder als etwas Lohnenswertes und Positives spürbar zu machen. Diversität nicht nur auszuhalten sondern lustvoll selbstwirksam mitzugestalten, muss zentrales Ziel all unserer Bemühungen sein. Denn es gibt dazu keine wirkliche Alternative.

Wie geht die komplexe, kleinteilige Matrix der Demokratie? Können wir noch Demokratie? Wo fangen wir an?

Es fängt überall dort an, wo verschiedene Menschen zusammen kommen – für uns bei ACT heißt das konkret: In jedem Klassenzimmer, bei jedem Theaterprojekt.

Die Ausgangssituation ist nicht mehr so, wie wir das vielleicht früher noch selbst in der Schule erlebt haben: Nur weiße deutsche Jugendliche, die mehr oder weniger ähnliche Alltagsabläufe leben, mit denselben Kinderbüchern aufwachsen, mit denselben Fernsehsendungen, mit ähnlichen Weihnachtsfesten, ähnlicher Musik, ähnlichem Essen und ähnlichen Gewohnheiten – und ohne Internet und ohne Handys…

Heute prallen in jeder Gruppe unterschiedlichste Lebensentwürfe, Traditionen, Erinnerungen, Meinungen, Erfahrungen und Glaubensrichtungen aufeinander.

Wozu führt das, wenn ich eine Gruppe junger Menschen vor mir habe und sie in ihren Ängsten, Unterschieden und Abgrenzungswünschen bestärke – bzw. NICHTS dagegen tue? Klar – sie gehen alle aufeinander los: Ey du Hure! Du schwule Sau! Das ist „haram“! „Dreckige Muslimenschweine!“ „Nazi!“… und so weiter und so weiter…

Hass zu verbreiten ist so unglaublich einfach und geht so wahnsinnig schnell. Hass verbreitet sich in Sekunden. Und richtet jahrelangen, wenn nicht längeren, Schaden an.

Eine Gruppe verschiedenster Menschen aber dahin zu bringen, dass sie einander verstehen, wertschätzen und GEMEINSAM etwas KONSTRUKTIVES tun, ist dagegen so unfassbar schwer.

Und scheinbar so unspektakulär. Denn wenn etwas gut läuft, bemerkt es keiner. Bestes Beispiel: Nach jedem gelungen Projekt, hören wir bei ACT: Ja, wenn ich SOLCHE Jugendlichen gehabt hätte, die sind ja SO eine verschworene Gemeinschaft, ja DANN ist es ja einfach! (Das ist eine Reaktion, die mich nach Jahren noch immer sprachlos macht. Was glauben die Leute, wo wir uns unsere Jugendlichen „backen“?)

Es sind im Großen und Ganzen IMMER dieselben Ausgangsbedingungen, wenn verschiedene Menschen aufeinander treffen. Das weiß ich nach 20 Jahren Jugendtheaterarbeit. Es gab dort niemals Auswahlverfahren, keine „Castings“.

Es gibt die Jugendlichen, so wie wir sie vorfinden – muslimisch, christlich, nicht gläubig, schwul, lesbisch, hetero, mit verschiedensten kulturellen, ethnischen und sozialen Hintergründen. Und am Anfang sitzen sie da und sind verunsichert, im Zweifel GEGENEINANDER eingestellt, manchmal auch hilflos und wütend aufeinander.

Bestehende Feindbilder zu bestärken – oder zu ignorieren – , wäre das ALLEREINFACHSTE.

Sie zu einer liebevollen, verschworenen Gemeinschaft zu machen, die optimistisch ist, ihre Welt GEIMEINSAM zum Positiven hin verändern zu können, ist das ALLERSCHWERSTE.

Die derzeit so beliebte POLITICAL CORRECTNESS hilft hier überhaupt nicht weiter. Meiner jahrelangen Erfahrung nach ist sie – ganz im Gegenteil- ein Angriff auf das Leben an sich.

Political Correctness erzeugt Begrifflichkeiten, die alles veroberflächlichen und neue, künstliche Grenzen errichten. Im besten Fall. Im schlechtesten Fall erzeugt sie unnötige neue Verletzungen und Konflikte. Die Political Correctness dieser Tage behauptet einen Kampf für mehr Gerechtigkeit und Diversität. Tatsächlich aber erreicht sie das Gegenteil.

Diversität wird nur dann bereichernd für alle Beteiligten, wenn wir tagtäglich trainieren, die Menschen DIFFERENZIERT und INDIVIDUELL zu betrachten. Es geht um das Kennenlernen und Ausloten der Zwischenräume – jenseits von bestehenden Begrifflichkeiten und Beschriftungen.

Wer einwendet, das sei aber in großen Teilen der Welt – und in unserer Gesellschaft – eben nicht die Realität, dem kann ich nur entgegenen: Ach wirklich?

Wollen wir deswegen aufhören, uns darum zu bemühen??

Bestehende Diskriminierung und Rassismus kann niemals bekämft werden, wenn genau das abgrenzende und vorverurteilende Denken, das immer wieder zu Rassismus führt und geführt hat, einfach nur in anderer Form wiederholt und an die vermeintlichen Täter_innen zurück gespielt wird.

Noch niemals ist ein begangenes Unrecht dadurch aus der Welt geschafft worden, dass es mit anderen Vorzeichen wiederholt wurde. Eine Demütigung verlangt immer wieder neu nach Kompensation durch Gegendemütigung. Wenn dieser Kreislauf nicht durchbrochen wird, werden Demütigungen immer wieder neu weitergegeben – mit allen fatalen Folgen, die das hat.

Erlebte Demütigung und Ausgrenzung können niemals über erneute Demütigung und Ausgrenzung der Schuldigen behoben oder gar geheilt werden. Es geht dann einfach nur immer weiter.

Dabei gibt es nicht nur eine einzige Form der Kompensation für erlittene Demütigung, es gibt zwei:

Entweder kompensieren wir die eigene Demütigung, in dem wir wiederum andere demütigen. Das nennt man auch Rache.

Die zweite Form der Kompensation ist:

Zu begreifen, dass wir nur ein kleiner Teil einer langen Geschichte sind und dass jeder einzelne von uns die Möglichkeit hat, diese Geschichte zu verändern, individuell zu handeln und autonom zu werden.

Diese zweite Form der Kompensation ist – zugegeben – unfassbar viel schwerer – und sowohl strukturell als auch persönlich eine riesige Herausforderung. Aber sie ist der einzige Weg, den Teufelskreis zu durchbrechen.

Wenn wir das Problem der Diskriminierung global betrachten, können wir zynisch werden – oder gleich aufgeben. Wenn wir aber da anfangen, wo wir als einzelne direkt im Alltag etwas tun können – dann ist das ein erster Schritt, der niemals ohne Folgen bleibt.

Bei den Jugendlichen, die uns tagtäglich begegnen können WIR zum Beispiel anfangen, den Kreislauf zu durchbrechen.

Die komplexe Herausforderung liegt darin, sehr unterschiedlichen Menschen IHRE GEMEINSAMKEITEN aufzuzeigen und sie gleichzeitig in ihrer jeweiligen INDIVIDUELLEN AUTONOMIE zu bestärken.

Es muss darum gehen die Fähigkeit zur Differenzierung auszubilden und Wege und Wahrnehmungen ZWISCHEN verschiedensten Realitäten zu ermöglichen, sichtbar zu machen und die Veränderbarkeit der jeweils eigenen Position zu bestärken.

Dies ist die einzige Möglichkeit, Diversität zu leben und für alle produktiv werden zu lassen. Die Grundvoraussetzung dafür ist: Demokratisch gemeinschaftlich zu agieren – und NICHT gegeneinander.

Und wir initiieren solche Prozesse der Begegnung niemals durch Demütigung – sondern mit einer inneren Haltung der Demut.

Die Grundbedingungen für ein demokratisches Miteinander müssen immer wieder neu hart erkämpft werden. Zu Beginn ist JEDE heterogene Gruppe an Menschen erstmal skeptisch und den anderen gegenüber voreingenommen. Ängste, Vorurteile und bisher erlebte schlechte Erfahrungen bringt jede_r einzelne mit.

Mut, Offenheit und Optimismus entstehen in Gruppen nie von allein.

Inklusive Prozesse initiieren sich nie von allein.

Der einzelne Mensch würde sich immer erstmal lieber abgrenzen und glaubt an seine Vorurteile.

Um wirklich inklusive Prozesse zu initiieren braucht es eine konsequent und unermüdlich (vor-) gelebte Kultur der gegenseitigen Wertschätzung.

Das geht weit über „Pädagogik“ hinaus – es ist in Wahrheit eine sehr komplexe und gesellschaftlich relevante lebenslange Aufgabe, die eine starke und gleichzeitig demütige innere Haltung erfordert.

Wie begegnen wir bei ACT dieser komplexen Herausforderung? Wie ermöglichen und leben wir Diversität?

1 Durch ein konkretes Konzept der Partizipation (Konzept des Partizipativen Theaterunterrichts) und durch eine beständige und professionell geschulte KOMMUNIKATION UND INNERE HALTUNG DER BEGEGNUNG statt der Abgrenzung (Konzept der Beziehungsgestaltung).

2 Durch die Bestärkung von Autonomie und Mündigkeit jedes einzelnen jungen Menschen und durch das Auffinden und Bestärken des jeweils eigenen, individuellen Potenzials.

3 Durch das beständige Aufzeigen von Gemeinsamkeiten und die Formulierung gemeinsamer Ziele, die nur erreicht werden können, wenn alle VERSCHIEDEN bleiben dürfen und sollen.

Der gesamte Bereich der wertschätzenden, demokratischen und differenzierten Beziehungs- und Kommunikationsgestaltung ist für uns so zentral, dass wir dafür einen Namen haben:

Es ist der RESONANZBODEN von ACT.

Was ist ein Resonanzboden?
Spielt jemand auf dem Klavier, werden – je nach Musikstück – verschiedenste Saiten in gemeinsame Schwingung versetzt. Durch das Zusammenschwingen der Saiten entstehen vielfältigste, verschiedenste (!) Musikstücke. Der Resonanzboden verstärkt dabei das gemeinsame Schwingen der verschiedenen Saiten und sorgt dafür, dass der Klang nach außen hörbar wird. Durch den Resonanzboden wird das Zusammenschwingen verschiedenster Saiten als Musik wahrnehmbar. (ACT e.V.)

Maike Plath, 29. Juni 2016