Gedanken zu Rassismus und Diversität

Anlässlich des diesjährigen Theatertreffens der Jugend im Haus der Berliner Festspiele

Auf dem diesjährigen Theatertreffen der Jugend kam es bei der Eröffnungsveranstaltung zu einem Eklat, der allen Beteiligten vor Augen führte, dass wir im Umgang mit Diversität alle noch einiges lernen können (und müssen).

Worum ging es?
Wie in den letzten Jahren auch wurde das diesjährige Theatertreffen der Jugend im Anschluss an einen offiziellen Teil mit einer Trailershow der Jugendlichen eröffnet. Im Vorfeld des Treffens bekommen die Theatergruppen die Aufgabe, die Inszenierung einer anderen eingeladenen Gruppe in einem Trailer vorzustellen. Dazu erhalten sie knappe Informationen, Fotos und die Kontaktdaten der zugelosten Gruppe. Hintergedanke dabei ist, die Jugendlichen bereits vor dem Treffen miteinander in einen Austausch zu bringen. Außerdem können die Jugendlichen im Trailer ihren eigenen theatralen Zugriff und damit sich selbst präsentieren.

Als letzte Gruppe zeigte das rohetheateraus Aachen, eine Theatergruppe eines Berufskollegs für Technik, die Ankündigung der am nächsten Tag laufenden Inszenierung „ONE DAY I WENT TO *IDL” der akademie der autodidakten im Ballhaus Naunynstraße aus Berlin, die von geflüchteten und postmigrantischen Jugendlichen entwickelt wurde.

Der Rassismus-Vorwurf
Die Darstellung der Aachener Gruppe (unter anderem sangen sie „Wer hat Angst vor’m schwarzen Mann“ und verteilten Bananen im Publikum) wurde – verständlicherweise – von der Berliner Preisträger-Gruppe als rassistischer Übergriff wahrgenommen. Selbstverständlich hatten die Aachener diese Verletzung nicht beabsichtigt, dennoch war die Darstellung als rassistisch zu bezeichnen. Die Gruppe der akademie der autodidakten verließ im Anschluss an diesen Trailer protestierend die Eröffnungsveranstaltung und saß anschließend während der gesamten folgenden Eröffnungsvorstellung (das Programm wurde fortgesetzt) draußen vor der Tür, emotional getroffen und gedemütigt.

Dieser Eklat hätte Anlass sein müssen für aufklärende Gespräche und eine notwenige Debatte über Rassismus und den Umgang mit Diversität. Stattdessen aber gerieten die Jugendlichen aufgrund der hilflosen und unzureichenden Handlungen der Erwachsenen in eine emotionale und zunehmend aggressive Auseinandersetzung, die bis zum Ende des Festivals eine konstruktive Debatte über Theaterformen erschwerte bzw. unmöglich machte.

Die Ereignisse führten in ihrer Summe bei mir zu der Entscheidung, von meiner Position als Jurymitglied des Bundeswettbewerbes zurückzutreten.

Da für mich der Umgang mit Diversität eines der zentralen Themen meiner Arbeit ist – wenn nicht sogar DAS zentrale Thema – möchte ich hier meine Gedanken und Ansichten sowohl zu den Ereignissen des Festivals, als auch zu meinem Rücktritt dokumentieren.

Der zunächst folgende Text ist meine allgemeine Stellungnahme zum Thema Diversität und beschäftigt sich mit der Frage, wie wir zukünftig konstruktiver damit umgehen könnten.

Für diejenigen, die noch genauer in die Ereignisse – das Festival konkret betreffend -einsteigen möchten, folgt darunter auch im Wortlaut meine offizielle Rücktrittserklärung und Teile meiner offiziellen Stellungnahme, die sich konkret auf das Theatertreffen der Jugend 2016 beziehen. Beides ist sowohl an die Leitung der Bundeswettbewerbe, als auch an die Jury und das Kuratorium gegangen.

Ich bleibe den Bundeswettbewerben der Berliner Festspiele und insbesondere den Menschen (Leitung, Team und Jury) natürlich weiterhin eng verbunden. Wir haben die Ereignisse und auch meinen Rücktritt bereits ausführlich gemeinsam reflektiert, denn es geht hier nicht um persönliche Kritik im Sinne von Vorwürfen, sondern um den konstruktiven Umgang mit einem gesellschaftspolitischen Thema, das mir besonders nahe ist und mir nach dem Verlauf des Festivals nur umso wichtiger erscheint. Die Gründe für meinen Rücktritt werden aus den folgenden Texten ersichtlich.

Stellungnahme von Maike Plath im Rahmen der Kuratoriums-Sitzung (Berliner Festspiele) am 04. Juli 2016:

„Another way to say this: to work toward an inclusive institution is to listen to those for whom the institution is not inclusive.
Equality is not a credential. Equality is a task. It is what we have to do, because we are not there yet.“

(Sara Ahmed, „feminist killjoy“, http://www.gold.ac.uk/media-communications/staff/ahmed/
Sara Ahmed is the director of a new Centre for Feminist Research (CFR) at Goldsmiths. You can find further information about the CFR here.)

Gesellschaftspolitische Relevanz und übergeordnete Ebene für ein Jugendtheaterfestival, das sich als Ort von Austausch, Begegnung und Qualitätsdiskurs versteht:

Wir leben in Zeiten, in denen zunehmend populistische und radikale Positionen Gehör finden und das Vertrauen in die Grundwerte eines demokratischen Miteinanders schwinden.

Wie können die positiven Werte eines demokratischen und aufgeklärten Miteinanders für Heranwachsende spürbar werden und sie zu selbstbestimmtem Handeln und Denken ermächtigen – in Zeiten zunehmend radikaler Meinungen und Ansichten und zunehmenden Konflikten und Krisen in der Welt?

Der Bundeswettbewerb Theatertreffen der Jugend:
Ziel ist es, bei den Jugendlichen einen eigenen, selbstbestimmten Qualitätsdiskurs über die Kunstform Theater anzuregen, ihre Haltungen und Themen sichtbar zu machen und die jungen Akteure in eigenwilligen, individuellen Perspektiven und entsprechenden selbstbestimmten künstlerischen Ausdrucksformen zu bestärken, in einen konstruktiven Dialog darüber zu bringen – basierend auf gegenseitigem Verstehen und gegenseitiger Wertschätzung.

Die Ausgangssituation der Jugendlichenist nicht mehr so, wie wir das vielleicht früher noch selbst in der Schule erlebt haben und auch nicht mehr so, wie vielleicht noch vor 10-15 Jahren: Überwiegend „weiße deutsche“ Jugendliche, die mehr oder weniger ähnliche Alltagsabläufe leben, mit denselben Kinderbüchern aufwachsen, mit denselben Fernsehsendungen, mit ähnlichen Weihnachtsfesten, ähnlicher Musik, ähnlichem Essen und ähnlichen Gewohnheiten.

Heute prallen in jeder Gruppe unterschiedlichste Lebensentwürfe, kulturelle u.a. Hintergründe, Traditionen, Erinnerungen, Meinungen, Erfahrungen und Glaubensrichtungen aufeinander.

Im Gegensatz zur Situation vor ca 15 Jahren ist heute zusätzlich die ständige Präsenz und der Informations- und Meinungsaustausch im Netz (Selbstverständlichkeit des Smartphones) völlig alltäglich.

Diese Entwicklungen machen – spätestens jetzt – einen aufgeklärten und mündigen Umgang mit Diversität dringend erforderlich – und ebenso eine Sensibilisierung für Rassismus im Alltag.

Diversität ist längst eine Realität.

Diversität ist der Schlüssel für jeglichen Fortschritt: VIELFALTist bereichernd für alle. (Das Gegenteil davon ist EINFALT). Inklusion ist eines der zentralen Themen unserer Zeit.

Radikalisierung des politischen Diskurses:

Trotz der immer wieder bewiesenen Vorteile wird Diversität in unserer derzeitigen Gesellschaft zunehmend als Bedrohung wahrgenommen. Wachsende Abgrenzungstendenzen und Verbreitung von Hass sind die Folge.

Die Frage ist nicht, OB wir Diversität wollen, sondern WIE wir damit umgehen und ob es uns möglich ist, Diversität produktiv für ALLE Beteiligten zu machen und dabei demokratisch zu denken und zu handeln.

Solange wir NICHTS oder nichts Wesentliches TUN, um Diversität zu ermöglichen und demokratisch zu gestalten, wird dieses Thema von ANDEREN instrumentalisiert und führt dann zu Radikalisierungen: Einer Verstärkung rassistischer Haltungen auf der einen Seite und auf der anderen Seite, in bestimmten Gruppierungen, auch zu ideologischen Verhärtungen (Richtig-und-Falsch-Behauptungen, Polititical Correctness).

Political correctness: Die derzeit in den USA aber auch in deutschen Großstädten um sich greifende und zunehmend ideologische POLITICAL CORRECTNESS hilft hier überhaupt nicht weiter. Meiner jahrelangen Erfahrung nach ist sie in ihrer ideologischen Form – ganz im Gegenteil – ein Angriff auf das Leben an sich.

Political Correctness erzeugt Begrifflichkeiten, die alles veroberflächlichen, extrem vereinfachen und verfälschen – und neue, künstliche Grenzen errichten. Im besten Fall.

Im schlechtesten Fall erzeugt sie unnötige neue Verletzungen, Demütigungen und Konflikte.

Die Political Correctness dieser Tage behauptet einen Kampf für mehr Gerechtigkeit und Diversität. Tatsächlich aber erreicht sie das Gegenteil:

In dem richtigen Bestreben rassistische Diskriminierung (nach Ethnie) sichtbar zu machen und zu bekämpfen entsteht eine neue Diskriminierung nach „Klasse“ bzw. sozialer Schicht:

Wer nicht ausreichend gebildet und/oder vom Diskurs-Stand der korrekten Begrifflichkeiten überfordert ist, hat keine Stimme und erfährt neuerliche Diskriminierung und Demütigung.

Bestehende Diskriminierung nach Ethnie und/oder sozialer Zugehörigkeit kann niemals bekämft werden, wenn genau das abgrenzende und vorverurteilende Denken, das immer wieder zu Diskriminierung führt und geführt hat, einfach nur in anderer Form wiederholt und an die vermeintlichen Täter_innen bzw. an „Ungebildete“ zurück gespielt wird.

Noch niemals ist ein begangenes Unrecht dadurch aus der Welt geschafft worden, dass es mit anderen Vorzeichen wiederholt wurde. Eine Demütigung verlangt immer wieder neu nach Kompensation durch Gegendemütigung. Wenn dieser Kreislauf nicht durchbrochen wird, werden Demütigungen immer wieder neu weitergegeben – mit allen fatalen Folgen, die das hat.

Was eine Demütigung IST, kann nur von denjenigen definiert werden, die eine Demütigung erfahren bzw. empfinden, NICHT von denen, die sie verursachen. (Dies gilt allerdings grundsätzlich und nicht nur für ausgewählte Gruppierungen).

Konstruktiver Umgang mit Diversität
Diskriminierung kann nur dann überwunden und Diversität nur dann bereichernd für alle Beteiligten werden, wenn wir tagtäglich trainieren, die Menschen DIFFERENZIERT und INDIVIDUELL zu betrachten.

Es geht um das Kennenlernen und Ausloten der Zwischenräume – jenseits von bestehenden Begrifflichkeiten und Beschriftungen.

Jegliche Form von Ideologisierung („-ismen“ und „Richtig-und-Falsch“-Behauptungen) führt zu einer Radikalisierung des Diskurses und gefährdet unsere demokratischen Grundwerte, wie es derzeit durch das Aufkeimen von Populismus und Nationalismus bereits deutlich spürbar wird.

Autonomie und Mündigkeit:
Um Rassismus und jegliche Form von Diskriminierung wirksam und langfristig zu bekämpfen, müssen (alle) Menschen unterschiedlichster Herkunft und Hautfarbe zu Mündigkeit und Autonomie ermutigt werden. Dies ist ein hochkomplexer Prozess, der nicht einfach von allein passiert.

Es muss darum gehen, zu begreifen, dass wir nur ein kleiner Teil einer langen Geschichte sind und dass jeder einzelne von uns die Möglichkeit haben muss, diese Geschichte zu verändern, individuell zu handeln und autonom zu werden.

Die komplexe Herausforderung dieses Weges liegt darin, sehr unterschiedlichen Menschen IHRE GEMEINSAMKEITEN aufzuzeigen und sie gleichzeitig in ihrer jeweiligen INDIVIDUELLEN AUTONOMIE zu bestärken.

Es muss darum gehen die Fähigkeit zur Differenzierung auszubilden und Wege und Wahrnehmungen ZWISCHEN verschiedensten Realitäten zu ermöglichen, sichtbar zu machen und die Veränderbarkeit der jeweils eigenen Position zu bestärken.

Dies ist die einzige Möglichkeit, Diversität zu leben und für alle produktiv werden zu lassen. Die Grundvoraussetzung dafür ist:

Demokratisch gemeinschaftlich zu agieren – und NICHT gegeneinander.

Mut, Offenheit und Optimismus entstehen in Gruppen nie von allein.

Inklusive Prozesse initiieren sich nie von allein.

Der einzelne Mensch würde sich immer erstmal lieber abgrenzen und glaubt an seine Vorurteile.

Um wirklich inklusive, demokratische Prozesse zu initiieren braucht es eine konsequent und unermüdlich (vor-) gelebte Kultur der gegenseitigen Wertschätzung und eine professionelle und krisenfeste Kommunikation.

Das geht weit über „Pädagogik“ hinaus – es ist in Wahrheit eine sehr komplexe und gesellschaftlich relevante lebenslange Aufgabe, die eine starke und gleichzeitig demütige innere Haltung erfordert:

Demut statt Demütigung.

Maike Plath, 05. August 2016

 

Konsequenzen für das Theatertreffen der Jugend

Ich persönlich bin der Ansicht, dass sich einiges in der Besetzung der Jury und den Strukturen des Festivals ändern sollte, da ein Raum, der nicht – oder noch zu wenig – bewusst in Richtung hin zu mehr Diversität gestaltet wird, von anderen „gestaltet“ wird, wie es beim diesjährigen ttj leider zu erleben war. (Siehe auch unten: Rücktritts-Erklärung Maike Plath).

Die Vorkommnisse auf dem diesjährigen Festival verstehe ich als Warnsignal, dass wir einer grundsätzlichen Debatte, die sich mit den Themen Diversität und Inklusion beschäftigt, nicht genügend Raum gegeben haben. Diese Debatte schließt die Themen Rassismus und Critical Whiteness mit ein.

„Weiße Räume“
Die Kritik des „weißen Raumes“, wie sie von Seiten des Ballhauses Naunynstraße geäußert wurde (explizit am Haus der Berliner Festspiele) ist in Teilen berechtigt.

Mein Standpunkt:

Statt Political correctness Debatten (critical whiteness, Rassismus) zu führen, müssen – grundsätzlich – Menschen gehört werden, die NICHT weiß sind, bzw. sich in bestimmten Kontexten und Strukturen des Hauses „Berliner Festspiele“ NICHT inkludiert fühlen, bisher NICHT ausreichend gehört werden und basierend auch auf DIESEN Aussagen muss ein Raum geschaffen werden, in dem Diversität begrüßt wird bzw. der Normalzustand ist – siehe auch Zitat oben.

Das heißt auch: ZUHÖREN. VERSTEHEN. OFFEN SEIN. DIE EIGENE PERSPEKTIVE ERWEITERN UND DARAN GEMEINSAM WACHSEN. Deutlich signalisieren, dass auch „alles anders sein kann“, dass jeder Mensch gehört und ernst genommen wird und dass der Raum von ALLEN gestaltet wird.

Diversität und Mündigkeit:
Fragen, die ich mir dazu stelle:

Begünstigt der Raum „Berliner Festspiele“ Mündigkeit? Oder eher patriarchale bzw. paternalistische Strukturen? (Paternalismus versus Mündigkeit)

Wer hat auf dem Platz eine Stimme? (Jugendliche versus Erwachsene? „POC`s“ (people of colour) versus „Weiße“? Frauen versus Männer? Abweichende Haltungen und Meinungen versus „institutionell gewünschte“ Haltungen und Meinungen? Entsteht ein demokratischer Raum der Vielfalt oder eine Tendenz zur Anpassung? An welchen Zielsetzungen sind die gesetzten Abläufe ausgerichtet?)

Konkrete Konsequenzen:

Professionelle Kommunikation (Mediation):

Wenn es einen Krisenfall gibt, bzw. es Gesprächsbedarf gibt: Hier werden Erwachsene benötigt, die VERANTWORTUNG übernehmen – im Sinne eines VORHER gemeinsam formulierten Anliegens und vor allem: einer HALTUNG des Festivals (zum Beispiel: „Mehr Diversität wagen?“ ) – und die im Sinne dieser Festival-Haltung professionell moderieren und vermitteln können (Stichwort Mediation!) im Sinne einer KOMMUNIKATION DER BEGEGNUNG.

Das passiert NICHT von alleine! Die Kultur des „Festes“ muss vom Gastgeber durchdacht und vorgelebt werden. Wir haben bisher zu wenig darüber nachgedacht, WIE die Jury oder andere erwachsene Akteure die Kommunikation und die Beziehungsgestaltung auf dem Platz konstruktiv steuern können – und müssen.

Zum Aspekt der gelebten Diversität:

Wenn sich jemand gedemütigt fühlt, MUSS das Vorrang haben: STÖRUNGEN HABEN VORRANG. Die Gäste stehen im Mittelpunkt. Beispiel: Sie können nicht – gedemütigt – draußen vor Tür stehen, während das Programm fortgesetzt wird.

Wer sich NICHT inkludiert fühlt, muss gehört werden.

Es geht nicht, dass abweichendes oder unerwartetes Verhalten dazu führt, dass diese Menschen zu „Störern“ oder „Spinnern“ abgewertet werden. Erst im zweiten Schritt ist auch der Rassismus Vorwurf aufzuarbeiten – aber im Sinne der jugendlichen Gäste und so, dass sie es alle verstehen und selbstbestimmt teilnehmen können. Und vor allem in einem konstruktiven verbindenden Sinne.

Fazit: Der Dialog zwischen den Jugendlichen muss professionell geführt werden, im Sinne einer wertschätzenden Kultur, die Diversität begrüßt.

Das mag früher „von selbst“ gegangen sein, aber gegenwärtig erleben wir überall Konflikte, insbesondere, wenn sehr unterschiedliche Menschen aufeinander treffen.

Der gesamte Bereich der (demokratischen) Kommunikation und Beziehungsgestaltung muss professionell gesteuert werden. Das ist harte, kleinteilige Arbeit.

Kritik an der Besetzung der Jury:

Die Jury ist bisher komplett „weiß“.

Diversität wurde bisher nur von wenigen Jurymitgliedern ausdrücklich argumentativ gestützt. Die Dringlichkeit des Themas Diversität und was wir konkret tun müssen, um in konstruktiver Weise Diversität zu begünstigen und inklusive Räume zu erschaffen ist noch zu wenig ausdrückliche Priorität.

Transparenz
Es braucht dringend eine Kultur der (öffentlichen) Transparenz über die Haltung und die Ziele des Festivals. Diese müssen sich auch in der Besetzung des Personals (Jury, Kuratorium) widerspiegeln. Wer ist – auf die Haltung und die Zielsetzung des Festivals bezogen – in der Jury und im Kuratorium?

Zusammenfassung:

Auf dem Festival müssen Vielfalt und Diversität überall abgebildet werden, sichtbar sein.

Es müssen Grundbedingungen für einen Raum geschaffen werden, der Diversität begünstigt.

Dies ist harte, konkrete Arbeit und geht über schriftliche Stellungnahmen, „Alibi-Aktionen“ und Lippenbekenntnisse weit hinaus.

Wie die Räume und Abläufe zukünftig gestaltet werden müssen, sollte von einem Team mehrerer Menschen erarbeitet werden, die selbst bereits nach Diversität-begünstigenden Strukturen denken und handeln.

Das ttj muss ein Ort sein, an dem alle LUST haben, sich zu zeigen, zu sprechen und zu agieren und an dem es kein „Richtig“ und kein „Falsch“ gibt, sondern wo es um das bereichernde Glück geht, die Zwischenräume auszuloten, zu differenzierten Sichtweisen zu gelangen und gemeinsam etwas Neues zu erschaffen.

Maike Plath, 04. Juli 2016

 

Offizielle Rücktrittserklärung am 10. Juni 2016:

Liebe Jury,

Ich habe mich nach dem diesjährigen Theatertreffen der Jugend entschieden von meiner Aufgabe als Jurymitglied zurück zu treten.
Diesen Schritt möchte ich im Folgenden begründen.

Das Theatertreffen der Jugend begann in diesem Jahr mit einem rassistisch interpretierbaren Eklat bei der Eröffnung, dessen (Nicht-) Aufarbeitung die Hilflosigkeit aller verantwortlichen erwachsenen Personen offen legte – mich als Teil der Jury eingeschlossen. Im Wesentlichen ging es dann in der folgenden Festivalwoche meiner Ansicht nach um einen Mangel an Verantwortung, in einer Situation, in der es dringend professionelle Kommunikation und Beziehungsgestaltung im Sinne der Jugendlichen gebraucht hätte.

Sinn und Zweck des Theatertreffens der Jugend ist es, einen Qualitätsdiskurs über die Kunstform Theater anzuregen, Haltungen und Themen der Jugendlichen sichtbar zu machen und die jungen Akteure in eigenwilligen, individuellen Perspektiven und entsprechenden selbstbestimmten künstlerischen Ausdrucksformen zu bestärken und in einen konstruktiven Dialog darüber zu bringen.

Der Trailer der Aachener Gruppe hätte Anlass sein können bzw. müssen, auf dem Festival eine (berechtige und notwendige!) Debatte über alltäglichen und strukturellen Rassismus in unserer Gesellschaft zu führen. Dies hätte mit Perspektive auf die Bedürfnisse und Ausgangslagen der Jugendlichen geschehen müssen.

Was im weiteren Verlauf des Festivals passierte, war dann aber das Gegenteil von Aufarbeitung, Aufklärung, Begegnungswillen und verantwortungsvoller Begleitung der Jugendlichen. Die Erwachsenen vertraten nicht in erster Linie die Interessen der ihnen anvertrauten Jugendlichen, sondern hatten offenbar vor allem persönliche Interessen oder ihre politische Agenda im Blick. Es wurde nicht unterschieden zwischen politischer Aktion und Bildungsauftrag.

Grundsätzlich: Meiner Ansicht nach können Jugendliche erst dann zu verantwortungsvollen politischen Akteuren werden, wenn sie ermächtigt werden, die Kontexte, in denen sie sich bewegen zu verstehen, Ursache und Wirkung von entsprechenden Handlungen einzuschätzen, und entsprechende Strategien selbst zu entwickeln, zu reflektieren, zu durchschauen.

Dafür braucht es – zunächst einmal – einen geschützten Raum des gegenseitigen Vertrauens und der Wertschätzung. Einen solchen Raum zu etablieren und zu schützen ist Aufgabe aller verantwortlichen, erwachsenen Personen im Kontext Bildung. Ein solcher Raum hätte das ttj sein können und müssen.

Statt dessen fanden immer wieder Situationen statt, die die Jugendlichen als demütigend erleben mussten.
Bereits am allerersten Tag gingen in meiner Wahrnehmung im Umgang mit dem rassistischen „Unfall“ alle Ebenen durcheinander und in der Folge vieles schief. Besorgt um die Außenwirkung wurde das offizielle Programm fortgesetzt, obwohl eine gesamte Gruppe – Preisträger_innen des Festivals – schwer gedemütigt und emotional außer sich draußen vor der Tür saßen und sich nicht mehr erwünscht fühlen konnten.

Auch im weiteren Verlauf war nicht klar, auf welcher Grundlage Entscheidungen getroffen wurden: Zu Repräsentationszwecken nach außen oder um die eigene politische Agenda voran zu bringen oder oder… Auf jeden Fall schien der eigentliche Auftrag des Festivals und das Befinden der eingeladenen Gäste – der jugendlichen Preisträger_innen – eine nachgeordnete Rolle zu spielen.

Statt von den Perspektiven, Eindrücken, verletzten Gefühlen und erlittenen Verunsicherungen der Jugendlichen auszugehen, begann dann eine Art politischer Aktionismus – basierend auf dem Diskursstand der Critical Whiteness Debatte, der einen hohen Kenntnisstand und politische Mündigkeit voraus setzte, um darin selbstbestimmt und autonom argumentieren zu können.

Mit Blick auf die Rassismus-Debatte befanden sich die Jugendlichen auf völlig unterschiedlichen Reflexions-und Wissensniveaus. Viele waren diesem Thema gegenüber überfordert und konnten nicht ansatzweise differenziert, mündig und selbstbestimmt darauf reagieren. Diese Unkenntnis ist nicht den Jugendlichen vorzuwerfen, sondern den verantwortlichen Lehrkräften und/oder Spielleitungen bzw. allen anderen Erwachsenen – auch mir als Jurymitglied – die an dieser Stelle einen Bildungsauftrag übernommen haben.

Wie auf diesem Festival leider zu beobachten war, wurden zu viele Jugendliche durch den Mangel an verantwortungsvoller Begleitung Opfer von Manipulation, Paternalismus, Fremdbestimmung und Entmündigung. Gefühle von Angst, Orientierungslosigkeit und insbesondere von Demütigung konnten sich einfach Bahn brechen. Niemand schien sich wirklich verantwortlich zu fühlen, den einmal begonnen Kreislauf aus Demütigung und Gegen-Demütigung zu unterbrechen – weil alle, die es hätten tun können mit ihrer eigenen Agenda beschäftigt waren.

Dabei wurde auch deutlich, dass es unverantwortlich ist, die (berechtigte) politische Intention (Kampf gegen strukturellen Rassismus) dem Bildungsauftrag (Erziehung zur Mündigkeit) voran zu stellen.

Denn dadurch entstanden unbeabsichtigt weitere Verletzungen und Demütigungen, die nicht professionell aufgefangen werden konnten. Dies ist deswegen fatal, weil jede Form der Demütigung Erkenntnisprozesse und Offenheit blockiert, weswegen Demütigung in jeglichem Bildungs-Kontext ein absolutes No-Go und somit zu vermeiden ist.

Aufklärung kann niemals über Demütigung, Manipulation oder Fremdbestimmung initiiert werden.

Inklusive Räume, in denen verschiedenste Perspektiven sichtbar werden können (Diversität), zeichnen sich grundsätzlich dadurch aus, dass sie frei von Angst und Demütigung sind.

Im Gesprächsforum zum Thema Rassismus/Critical Whiteness wurde wiederholt von den „weißen“ Jugendlichen gefordert, dass sie Verantwortung übernehmen müssten. Verantwortung übernehmen kann aber nur derjenige, der aufgeklärt ist. Verantwortung hätten hier also die Erwachsenen übernehmen müssen.

Insbesondere die Aachener Jugendlichen hätten nach dem anfänglichen Eklat eine verantwortungsvoll handelnde Spielleitung gebraucht, die eigene Fehler eingesteht und die Verantwortung übernimmt.
Dies hätte darüber hinaus auch bedeutet: Ermöglichung von Mündigkeit und Autonomie der Jugendlichen durch Zugang zu Wissen und Handlungsmöglichkeiten und ein geschützter Raum für gleichberechtigte Reflexion. In diesem Fall aber wurde ihnen autonomes Denken und Handeln von ihrem Spielleiter geradezu abgesprochen, wurden die Darsteller_innen immer wieder von diesem emotional instrumentalisiert und gegen andere Jugendliche, deren Leitungen und gegen die vermittelnde Jury „in Stellung gebracht“. Hier wäre eine frühere Intervention im Sinne von Aufklärung und Stärkung der Jugendlichen – mit dem Ziel, zu einem respektvollen Diskurs über Theater wieder zurück kehren zu können – dringend notwendig gewesen.

Zusammenfassung

Alle im Feld Bildung Agierenden tragen eine Verantwortung für die ihnen anvertrauten Jugendlichen. Beim diesjährigen Theatertreffen der Jugend wurde diese Verantwortung missachtet.

Der Umgang mit den aufbrechenden Konflikten auf dem Platz war auf allen Ebenen von Hilflosigkeit gekennzeichnet.

Das Problem wurde von der Jury und der Festival-Leitung nicht rechtzeitig erkannt und nicht konstruktiv gesteuert. Es gab kein verantwortungsvolles Miteinander der Erwachsenen und der Leitung/Intendanz im Umgang mit der Orientierungslosigkeit und Verunsicherung der Jugendlichen. Statt dessen agierten die verantwortlichen Leitungen weiterhin im eigenen Interesse, den Fokus auf die eigene private oder politische Agenda gerichtet.

Dadurch wurden die Jugendlichen, die zunächst durchaus offen für Begegnung und Aufarbeitung waren, immer wieder erneut manipuliert und für die Zwecke einer anderen Agenda emotional gegeneinander aufgebracht.

Die daraus folgende emotionale Überforderung und nervliche Belastung, die durch diese Instrumentalisierung entstand, war den Jugendlichen zunehmend deutlich anzusehen.

So kann kein von gegenseitigem Respekt und Wertschätzung geprägter Qualitätsdiskurs über Theaterformen und Inhalte entstehen.

Sinn, Auftrag und Ziel dieses Festivals müssen nach dieser Woche mit dem Fokus auf die Jugendlichen neu hinterfragt werden – denn um sie geht es, sie sind die eingeladenen Gäste.

Ich ziehe die Konsequenzen aus einer Woche, in der ich mich selbst als ohnmächtig erlebt habe und meinem eigenen Anspruch an meine Aufgabe nicht mehr ausreichend gerecht werden konnte.

Es tut mir sehr leid, diesen Schritt jetzt zu gehen, da ich wahrgenommen habe, dass Christina Schulz jetzt und auch schon in den vergangenen Jahren zahlreiche erfolgreiche Impulse gesetzt hat, die Qualität des Festivals als wertschätzenden Diskursort – insbesondere in Richtung Diversität – zu etablieren.

Dennoch möchte ich nach dieser Festival-Woche meinen Teil der Verantwortung übernehmen und meinen Platz in der Jury frei machen und erkläre deshalb heute meinen Rücktritt aus der Jury des Theatertreffens der Jugend.

Maike Plath, 10. Juni 2016