Das erste Theate rprojekt von Mitspielgelegenheit e.V. an der Quinoa-Schule fand wie geplant in den ersten sechs Wochen des neuen Schuljahres 2014/15 statt. Thema und Ausgangspunkt der Projektarbeit war die Begegnung mit den anderen, zu Beginn noch fremden, Mitschüler_innen der Klasse. Welche Erwartungen und Ängste bringe ich mit? Wie kann ich in der neuen Klasse meinen Platz finden? Wie kann ich meine Wünsche, Ansichten und Stärken in der neuen Gruppe einbringen und behaupten? Wer möchte ich sein und wie wollen wir miteinander umgehen?
Nach anfänglichen vertrauensbildenden Gruppenspielen und Übungen zur Präsenz im Raum schrieben die 24 Schüler_innen in einer ersten Schreibwerkstatt biografische Texte zu den Themen „Heimat“, „Familie“, „Liebe“, „Freundschaft“ und „Zukunftswünsche“. Diese Texte wurden abgetippt und anonymisiert in die Gruppe zurück gegeben. Sie wurden Ausgangspunkt für kleine eigene szenische Umsetzungen, die die Spieler_innen unter eigenständiger Verwendung verschiedener ästhetischer, theatraler Mittel in Kleingruppen erarbeiteten und sich gegenseitig präsentierten. Anschließend reflektierten und deuteten die Spieler_innen diese Ergebnisse auf der Grundlage eines wertschätzenden, stärkeorientierten Feedbackverfahrens.
In einer weiteren Schreibwerkstatt setzten sich die Kinder mit schmerzhaften Erfahrungen ihr vergangenen Schulzeit und daraus resultierenden Ängsten auseinander. Auch diese Texte wurden Gegenstand einer eigenen szenischen Umsetzung und im Feedbackverfahren reflektiert und ausgewertet. Durch die szenische Reflexion verdichtete sich das thematische Anliegen der Klasse und kristallisierte sich zur „Botschaft“ ihres kleinen Theaterstückes heraus: Die Überwindung von Ängsten, die Hoffnung auf einen quasi familiären Zusammenhalt innerhalb ihrer Klasse und die Auflösung der Angst durch das Prinzip der Liebe.
Mit geradezu erstaunlicher Offenheit und Emotionalität widmeten sich die Kinder insbesondere dem letztgenannten thematischen Aspekt und fanden verschiedene, ausdrucksstarke theatrale Bilder, die sie bei der Aufführung überzeugend präsentierten, so dass ganz offensichtlich der Funke zum Publikum übersprang. Der Zuschauer erkannte sich selbst in den Darstellungen und Texten der Kinder wieder.
Die Überwindung von Ängsten spielte auch während des Prozesses eine dominierende Rolle. So mussten immer wieder Blockaden überwunden werden. Die Kinder trauten ihren eigenen Stärken zunächst nicht und mussten immer wieder erneut individuell angesprochen und ermutigt werden.
Die klare, ritualisierte Struktur der Proben aber gab ihnen zunehmend sichtbar Halt und Selbstvertrauen. Der eigenständige Umgang mit den durch Spielkarten visualisierten theatralen, ästhetischen Mitteln machte ihnen Spaß und motivierte sie zu ganz eigenen szenischen Entwürfen. In der Gruppenarbeit entstanden verblüffend präzise und ausdrucksstarke choreografische Abläufe, die die Kinder mit Stolz vor den jeweils anderen Kindern präsentierten.
Die schrittweise Stückentwicklung entsprach in ihren Phasen sehr stark den tatsächlich erlebten sozialen Erfahrungen der Spieler_innen. Die innere Abwehr gegen ungewohnte Abläufe und für die Kinder fremde (ästhetische) Formen, sowie gegen die Zusammenarbeit mit Mitschüler_innen, die sie „doof fanden“, wurde sichtbar abgebaut, weil einzelne Leistungen von der gesamten Gruppe anerkannt und gewürdigt wurden.
Als Beispiel für zahlreiche ähnliche Entwicklungen:
Ein Spieler, ich nenne ihn hier Nico, kommt zu mir und sagt leise: M. kann sehr gut singen.
Ich: Oh, das ist ja super! Meinst du, er könnte hier in der Probe mal singen?
Nico: Ne… Er traut sich nicht. Er singt nur alleine zu Hause.
Ich: Weißt du denn, welches Lied er singen könnte?
Nico: Ja.
Ich: Welches denn?
Nico: Ich kann es dir aufschreiben. (Er schreibt es mir auf einen Zettel. Ich lade es bei iTunes runter).
In der nächsten Probe bringen wir die Liedtexte mit und teilen sie aus. Die ganze Klasse singt zusammen im Kreis das besagte Lied. Ich gebe M. ein Mikro und frage ihn, ob er nicht Lust hat, ins Mikro zu singen – alle anderen singen ja mit. M. schüttelt den Kopf. Nein.
Ich: Du musst ja nicht ins Mikro singen. Sing einfach so mit. Aber du kannst das Mikro ja fest halten. Vielleicht probierst du es einfach zwischendurch mal, kurz rein zu singen.
M.: Nein. (Aber er nimmt das Mikro.)
Wir singen weiter zusammen. M. liegt auf dem Bauch auf dem Boden, das Mikro in der Hand. Langsam führt er das Mikro an den Mund, singt kurz hinein, zuckt zusammen, reißt das Mikro wieder weg. Keiner beachtet ihn. Alle singen. M. macht einen erneuten Versuch. Und immer wieder weitere. Irgendwann hören alle seine Stimme. Er singt ins Mikro.
In der darauf folgenden Probe verfahren wir genauso. Alles wiederholt sich genau wie beim letzten Mal. Aber dann richtet sich M. auf und singt laut und sehr schön ins Mikro. Einige Spieler_innen schlagen vor, dass er aufstehen soll und die Klasse sich – „wie in einem Musikvideo“ – hinter ihm aufbaut. Gesagt getan. Zur Instrumental-Version des Liedes singt M. nun mit lauter, sauberer, klarer Stimme ins Mikro. Hinter ihm stehen die anderen 23 Mitschüler_innen in einem geordneten Block. Plötzlich fangen einige Schüler_innen an zu weinen. Entsetzt frage ich: Was ist los? Die für mich völlig verblüffende Antwort lautet: „Das ist so schön.“
Aus der beschriebenen Situation entwickelt die Klasse die Schluss-Szene ihres Stücks. Für die Klasse ist es „die beste Szene zum Thema Liebe“ – und deswegen stellen sie diese an den Schluss ihrer Präsentation.
„Wir wollen, dass unser Stück mit der Liebe endet, weil – das wäre das Schönste.“
(Zitat Erva, Name geändert)
Tatsächlich ist bei der Präsentation des Stückes vor großem Publikum (250 Zuschauer_innen) nichts mehr von der anfänglichen Abgrenzung gegeneinander zu spüren. Die Klasse wirkt wie eine innig verschworene Gruppe, die etwas Gemeinsames ans Publikum vermitteln will: Dass das Gegenteil von Liebe nicht der Hass ist – sondern die Angst. Und dass man die Angst überwinden kann – und dann bei der Liebe landet.
Diese „Botschaft“ vermittelt sich eindrücklich ans Publikum: In einer klaren ästhetischen Form, die die jungen Spieler_innen mit erstaunlicher Ernsthaftigkeit und gekonnter Präzision auf die Bühne bringen – und dabei gleichzeitig zum Ausdruck bringen: Das ist das, was wir heute Abend zu sagen haben.
Nicht wenige Zuschauer_innen sind zu Tränen gerührt. Nach allen ausgetragenen (produktiven) Konflikten und Widerständen im Prozess kann man sagen, dass die Beschäftigung mit der Kunstform Theater für die Kinder zu einem Ventil ihrer eigenen Ansichten und Gedanken geworden ist und sie diese wie im Brennglas durch die theatrale Ausdrucksform verdichten konnten.
Gleichzeitig ermöglichte die theatrale Arbeit den Kindern eine selbstbewusstere, differenzierte Perspektive auf sich selbst: Sie haben gelernt, sich selbst ein Stück weit ernster zu nehmen – und damit auch die anderen – und an dieser Erfahrung zu wachsen.