Vortrag zum Fachtag Darstellendes Spiel in Neumünster am 06.12.2014

Vielfalt als Ressource – der partizipative Theater-Unterricht: Kunst der Begegnung
Von Maike Plath

Das Thema „Heterogenität“ und das Bestreben, Vielfalt bestmöglich zu fördern, sind derzeit in unseren Schulen ein großes Thema. Wenn dies aber tatsächlich gelingen soll, müssen wir uns mit der dahinterliegenden größeren Idee beschäftigen – dem Konzept der Inklusion. Ich möchte meinen Vortrag mit einer Sensibilisierung für die Bedeutung dieser Begrifflichkeiten beginnen.

Was assoziieren wir, wenn wir den Begriff „Inklusion“ hören? – Die meisten Menschen lässt dieser Begriff derzeit an behinderte Menschen denken. Darin liegt bereits das erste große Missverständnis. Zu glauben, dass behinderte oder irgendwie anders benachteiligte Menschen in etwas „inkludiert“ werden müssen, ist Indiz für eine gegenteilige, nämliche EXKLUSIVE Geisteshaltung.

Wenn wir in unserem Unterricht Vielfalt als Chance – und nicht als (problematische?) Herausforderung – sehen wollen, ist aber eine inklusive Geisteshaltung die Grundvoraussetzung.

Was ist das? Eine inklusive Geisteshaltung?

Inklusiv ist das Gegenteil von exklusiv.

Inklusiv bedeutet einschließend.

Exklusiv bedeutet ausschließend.

Exklusivität bedeutet, dass eine kleine Gruppe ein System an sprachlichen Codes, Weltanschauungen, Werten und Regeln errichtet und strukturell absichert. Alle Menschen, die sich INNERHALB dieser Gruppe befinden, schauen aus dieser Perspektive auf die Welt. Alle Abweichungen von ihrem Werte- und Gedanken-Konstrukt werden von ihnen als defizitär empfunden. Im Kreis der Exklusiven wird alles Abweichende mit (abwertenden) Beschriftungen versehen: Die Migranten. Die Kopftuchmädchen. Die Behinderten. Die Schwulen. Die Muslime. Die ADHS-Kinder. Die emotional-sozial gestörten Kinder. Die Rumänen, die Türken, die Araber, die Vietnamesen, die Hauptschüler, die sozial Schwachen, die Bildungsbenachteiligten… Und so weiter.

Exklusivität bedeutet, dass eine kleine Gruppe den Status der anderen daran bemisst, wie nah oder fern diese sich vom eigenen gesetzten Referenzsystem befinden. Je näher, desto höher der Status. Je weiter entfernt, desto tiefer. In diesem System hat der weiße, gymnasiale Westeuropäer den höchsten Status.

Wir sind uns beispielsweise der politisch-unkorrekten Tatsache bewusst, dass einem Vietnamesen von einer spezifischen Gruppe exklusiv denkender Menschen ein höherer Status zugeschrieben wird, als einem Türken, weil der Vietnamese die höhere Anpassungsleistung an das gegebene Referenzsystem zeigt.

Doch finden wir exklusives Denken auch bei uns selbst. Das ist auch kein Wunder, denn wir haben schon als Kind in der Schule gelernt, dass es „klügere“ und „dümmere“ Schüler gibt. Wie konnten wir das wissen? Warum waren wir uns so sicher, dass wir objektiv beurteilen konnten, wer „intelligent“ ist und wer „dumm“? Haben wir Messinstrumente dabei? Nein. Wir beziehen uns auf ein gemeinsames Referenzsystem. Meistens unbewusst. Wir nehmen selektiv wahr, was man uns beigebracht hat, wahrzunehmen. Und wir interpretieren unsere Wahrnehmungen entlang der Koordinaten dieses Referenzsystems.

Bei mir damals in der Grundschule war es ein Michael, der sich bockig benahm, ständig ermahnt wurde, sich auf dem Schulhof prügelte und seine Hausaufgaben nie gemacht hatte. Als 8-Jährige war ich mir sicher: Michael ist dumm. Ich weiß nicht, was heute aus Michael geworden ist, aber es ist Allgemeinwissen, dass auch Steve Jobs nicht besonders positiv in der Schule aufgefallen ist.

Auch im Kleinen finden wir überall Beispiele für exklusive Gedankenkonstrukte: In Hamburg kann man seinen Status innerhalb gewisser Kreise auch dadurch erhöhen, dass man nachweisen kann, schon in dritter oder vierter Generation „Hamburger“ – und eben nicht Zugezogener– zu sein. Nach dieser exklusiven Denkweise fühlt sich jemand, der „nur aus Pinneberg“ kommt minderwertig. Ein Zugezogener – gar mit Migrationshintergrund – erst recht.

Das wohlige Gefühl, innerhalb einer exklusiven Gruppe im Status zu steigen, bzw. dort per se einen hohen Status zu genießen, verstärkt die innere Tendenz, diese Exklusivität nach außen zu verteidigen – in dem Abweichendes abgewertet wird.

In einer Welt, in der es immer weniger Gewissheiten gibt, liegt hierin die Gefahr: Bürgerliche Eltern, die um den beruflichen Erfolg und die Zukunft ihrer Kinder fürchten, tendieren zu exklusiven Gedankenkonstrukten: Das Kind sollte am besten an eine Eliteschule, auf jeden Fall aber auf das Gymnasium – und die Nähe zu Kindern, die mit Vornamen Ali, Yussuf oder Mesut heißen, wird gemieden.

Aus dem selbst geschaffenen Referenzsystem heraus werden diese „Ausländer-Kinder“ mit abwertenden Beschriftungen versehen, die in der Folge weitere Ablehnung und Ängste nach sich ziehen. Das Beschriften von Menschen-Gruppen, führt dazu, dass nicht mehr der einzelne in seiner Individualität wahrgenommen wird, sondern nur noch der Aspekt, mit dem man die gesamte Gruppe beschriftet.

Nach dieser exklusiven Logik werden Behinderte in erster Linie nur als „behindert“ wahrgenommen, türkische Schüler_innen nur als „türkisch“, Schwule nur als „schwul“, usw.

Der ganze Vorgang des „Beschriftens“ aus einer exklusiven Geisteshaltung heraus ist in etwa so sinnvoll, wie alle Menschen mit Knubbelnase unter dem Aspekt „Knubbelnase“ zusammenzufassen und zu charakterisieren – oder alle Menschen mit abstehenden Ohren.

Das mag überspitzt klingen, de facto passieren ähnlich sinnvolle Zuordnungen aber die ganze Zeit: Längst gibt es Studien, die nachweisen, dass Lehrkräfte an Schulen mit türkisch- oder arabisch-stämmig aussehenden Jugendlichen anders sprechen als mit deutsch-aussehenden Jugendlichen.

Deutsch aussehenden Jugendlichen wird von vielen Lehrkräften mehr Intelligenz und in der Folge mehr Leistung zugetraut, als türkisch aussehenden Jugendlichen.

Wir kennen aus den Medien alle die Präsentation der „Vorzeige-Türk_innen“. Da wird dann beispielsweise die Leistung einer türkisch-stämmigen Studentin oder Autorin besonders hervorgehoben – mit dem darunter liegenden, nicht ausgesprochenen Subtext: Seht her – obwohl sie türkisch ist, hat sie es in Deutschland geschafft. Dabei wird aber nicht thematisiert, was ein wahrer Grund für das Besondere sein könnte: Nämlich die Tatsache, dass sich ein Mensch mit sichtbar anderer Herkunft in Deutschland doppelt bemühen und doppelt Leistung zeigen muss, um in unserem System erfolgreich zu sein. Denn das würde eine kritische Reflexion exklusiver Geisteshaltungen nach sich ziehen. Im medialen Kontext des „Vorzeigens von erfolgreichen Menschen mit Migrationshintergrund“ halten sich aber alle für „völlig frei von Vorurteilen“. Es herrscht eher die Haltung: Seht ihr, wer sich in Deutschland anstrengt, kann es eben auch schaffen.“ Der Subtext dahinter: Wer also keinen Erfolg in Deutschland hat, hat selbst Schuld.

Hier wird die Anpassungsleistung an ein gegebenes, exklusives System gefeiert, nicht Intelligenz, nicht Kreativität und schon gar nicht das wirklich Spektakuläre an dieser Leistung. Denn die tatsächliche Leistung wird gar nicht gesehen: Nämlich das, was hier jemand an Extra-Kraft und Intelligenz aufwenden musste, um an eine Stelle zu kommen, die für „weiße, westeuropäische Menschen“ weniger Leistung erfordert hätte.

Und noch ein Beispiel: Vielleicht haben wir sogar selbst einmal folgendes erlebt: Ein Mensch, der kaum deutsch spricht, versucht sich uns gegenüber verständlich zu machen. Und wir? Wir fühlen Überlegenheit, weil wir intuitiv annehmen, wir wären kognitiv überlegen. Womöglich spricht unser Gegenüber aber fünf andere Sprachen fließend. (So erlebt mit einer arabischen Schülerin, die mir mit Recht sagte: „Wir erlernen schnell die deutsche Sprache, aber alle meine deutschen Lehrers können unsere Sprache in tausend Jahren noch nicht.“ (Und übrigens: Was löst der falsche Plural bei Ihnen aus?) Das ist nur ein winziges Beispiel dafür, dass es sinnvoll wäre unsere Annahmen über andere Menschen grundsätzlich zu hinterfragen. Woher kommt meine Einschätzung? Worauf beruht meine Bewertung? Erkenne ich überhaupt, dass es sich hier um eine Bewertung handelt – und nicht um eine Tatsache?

Denn es dürfte jedem klar sein, dass die Welt sich nicht allein durch ein einziges Referenzsystem erklären und abbilden lässt. Sehr wahrscheinlich lässt sich die Komplexität der Welt grundsätzlich nicht vollständig erklären und abbilden.

Wer das Konzept „Inklusion“ begreifen will, müsste sich zunächst einmal wieder vor Augen führen, dass er nur eine winziger Teil des Universums ist und trotz allen angehäuften Wissens nur einen Bruchteil der Welt kennen und verstehen kann.

Schauen wir uns das deutsche Bildungssystem an. Neben vielen ideologischen Debatten und kleineren und größeren Versuchen, es anders und inklusiver zu machen, bleibt doch immer die Sache mit der Bewertung. Eine Bewertung kann man nur vornehmen vor dem Hintergrund EINES gesetzten Referenzsystems.

Wie sollen wir mit der immer weiter zunehmenden Heterogenität in unseren Klassen umgehen? Wir sollen differenziert unterrichten und individuell fördern. Solange wir aber unser genormtes Referenzsystem im Kopf haben, nehmen wir alles, was abweicht, notwendigerweise als störend bzw. defizitär wahr.

Das merken auch die Schüler_innen. Wer merkt, dass er nicht wirklich ehrlich aufgefordert ist, mit seinen individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen zu partizipieren, der rebelliert – oder geht in die innere Emigration. Ist ja sowieso egal. An diesem Widerspruch kranken nicht nur unsere Schulen, sondern unser gesamtes System. Wer nicht klar kommt, wer sich nicht anpassen kann oder will, wird defizitär bewertet, was einen Teufelskreis in Gang setzt. Denn wer immer als „irgendwie noch nicht ganz richtig“ bewertet wird, glaubt irgendwann selbst, er wäre „nicht ganz richtig“- und wählt andere Wege. All das, was produktiv sein könnte, all die Möglichkeiten, wie jemand unsere Gesellschaft mit gestalten könnte, sind blockiert.

In diesem Sinne müssen wir auf ganz anderer Ebene darüber nachdenken, wie wir unsere Schulen „barrierefrei“ machen können. (Beispiel für eine Barriere der deutschen Hochkultur: Das Foyer des Deutschen Theaters: Ein bewusst exklusiv gestalteter Raum, der Neuköllner Jugendlichen das Gefühl vermittelt: Hier seid ihr nicht willkommen).

Unser Denkansatz in Bildungsfragen ist exklusiv: Wie kommen wir darauf, dass sich einige wenige ausdenken können, was alle anderen in der Schule lernen müssen, damit sie auf das Leben vorbereitet sind?

Auf welches Leben? Welche anderen erfolgreichen Lebensentwürfe wären vorstellbar und möglich, wenn sie nicht von vorn herein von einer kleinen Gruppe der exklusiv Denkenden in Bahnen gelenkt würden?

Im Folgenden möchte ich anhand zweier Bilder veranschaulichen, wie exklusive und inklusive Prinzipien schon immer in Gesellschaften hineinwirkten und welche Wirkung dies auf die Bürger_innen hatte:

Exklusiv Denkende handeln nach dem Prinzip der Kathedrale: Einige wenige etablieren ein Gedankenkonstrukt über Sprache, das ihnen selbst Vorteile beschert. Alle anderen werden durch ihre Nähe oder Ferne zu diesem Gedankenkonstrukt auf einer hierarchischen Skala angeordnet. Die Gestaltungsmöglichkeiten des Einzelnen sind umso höher, je angepasster er sich an das gesetzte Gedankenkonstrukt verhält. Alles wird ausschließlich aus der Perspektive dieses mentalen Konstruktes bewertet. In unseren Schulen wird nicht die intelligenteste oder kreativste Leistung belohnt – sondern die höchste Anpassungsleistung.

Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist die, ob wir eine Weiterführung dies es exklusiven Bildungsansatzes wirklich wollen. Denn es gibt gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, die einen inklusiven Bildungsansatz dringlicher notwendig machen denn je:

Der Konzern Apple ist ein Beispiel für ein exklusives System: Walled Garden. Einige wenige besitzen Herrschaftswissen und teilen dieses nicht mit den vielen. Statt dessen werden die vielen kontrolliert und manipuliert.

Einige wenige, exklusiv agierende Konzerne vergrößern derzeit ihren Einfluss auf unsere gesellschaftliche Entwicklung rasant und in beängstigendem Maße, ohne dass es innerhalb unserer Gesellschaft irgendwelchen maßgeblichen Protest hervorruft. Alle meinen, das hätte mit ihnen selbst nicht viel zu tun und verhalten sich „treudoof wie Herdentiere“… (ich selbst an dieser Stelle übrigens auch…).

Tiefgreifende soziale Kontroll-Instrumente kommen im Deckmantel bunter lustiger apps daher. Schon jetzt kündigt eine Krankenversicherung an, dass sie diejenigen ihrer Kunden mit Prämien und geringeren Beitragszahlungen belohnt, die ihre sportlichen Aktivitäten und ihre Ernährung überwachen und die jeweiligen Daten freiwillig der Versicherung überlassen. Wo führt das hin? Nicht nur Julie Zeh spricht in diesem Zusammenhang von ersten Schritten in ein totalitäres System, das das Ende der Demokratie bedeutet. Eine funktionierende Demokratie braucht die gesellschaftlichen Teilhabe-Möglichkeiten der Vielen. Bildung ist das Mittel, um die gesellschaftliche, bewusste Teilhabe der Vielen überhaupt erst zu ermöglichen: In den Schulen kann und muss der Grundstein für eine demokratische Gesellschaft gelegt werden. Nur hier können Kinder und Jugendliche nachhaltig lernen und erproben, wie Teilhabe, Demokratie und Vielfalt in unserer Gesellschaft tatsächlich lebbar ist und produktiv wird.

Statt dessen fangen die Jugendlichen längst an, sich mit Hilfe von apps „zu optimieren“ und schauen überheblich auf den dicken Schüler herab, der sich offenbar „nicht im Griff“ hat. Darin werden sie von Erwachsenen bestärkt, die auch „ nicht mehr einsehen, warum sie für fette Menschen oder Raucher_innen mitbezahlen, wenn die doch selbst schuld haben, wenn sie krank werden“.

Wozu soll das alles führen? Wo ist der Wille zur Solidargemeinschaft geblieben? Haben tatsächlich schon so viele vergessen, woher der Wille zur Solidargesellschaft in Deutschland herrührte und welchen Wert er darstellt?

Kommen wir zum zweiten Bild:

Dem exklusiven Prinzip der Kathedrale steht das Prinzip des Marktes, bzw. des Basars gegenüber, wie es seit jeher in Städten und Dörfern existiert – jeder bietet an, was er hat und was er kann – ein inklusives Prinzip. Es gibt keinen vorgegebenen Plan, keinen Inner Circle, der steuert, was jeder einzelne anbieten muss – sondern jeder bietet das an, was er am besten kann und anbieten möchte. Es gibt keinen Masterplan, der beansprucht, die Gesetze für einen funktionierenden Markt zu kennen, und dem sich alle unterzuordnen haben. Sondern der Basar funktioniert gerade deswegen, weil jeder aus sich selbst heraus das bietet, was seinen individuellen Fähigkeiten und Vorlieben entspricht. Die Perfektion entsteht durch die Vielfalt der Fähigkeiten, die eine Folge der natürlichen Heterogenität jeder Gruppe von Menschen ist.

Jemand, der das Große und Ganze direkt aus seinem Potenzial und seiner individuellen Situation heraus mitgestalten kann, empfindet Freude und Verantwortung für das Ganze, weil er sich in seiner Person bestätigt fühlt und Selbstwirksamkeit erlebt: Durch das, was ich bin und kann, werde ich bedeutsam für das Ganze. Und deshalb möchte ich auch weiter wachsen und mich weiter entwickeln. Dieses Gefühl der Selbstwirksamkeit ist wertvoller, als alles, was Geld und äußerer Status bieten kann. Partizipieren zu können mit dem, was man selbst kann, bzw. durch die Weiterentwicklung des eigenen, vorhandenen Potenzials macht glücklich. Missbrauch des inklusiven Prinzips wird über das Verantwortungsgefühl der vielen reguliert.

Wikipedia beispielsweise funktioniert nach einem inklusiven Prinzip. Es gibt keinen Chef in einem Büro, der aussucht, wer einen Eintrag machen darf und wie dieser auszusehen hat. Jeder kann einen Eintrag bei Wikipedia machen. Die Qualität der Einträge regelt sich durch die Intelligenz der Vielen. Ein sachlich falscher Eintrag bei Wikipedia hält sich nicht lange.

Unser europäisches Bildungssystem ist seit jeher exklusiv. Alle Bemühungen, Vielfalt in dieses System zu integrieren, scheitern daran, dass am Ende des Tages doch immer eine Bewertung erfolgt, die sich auf eine gesetzte Norm bezieht. Das kann man am besten daran ablesen, dass Heterogenität im Klassenzimmer immer als Problem, zumindest aber als „Herausforderung“ angesehen wird. Klar. Denn wer exklusiv denkt, wird immer das Problem haben, die Vielfalt an eine Norm anpassen zu müssen – und je heterogener unsere Schüler_innen-Gruppen werden, desto mehr Kraft muss aufgewendet werden, diese Vielfalt einzuhegen und messbar zu machen. Denn natürlich erfahren wir Widerstand von denjenigen, die im gegebenen Referenzsystem stark abweichen und in der Folge für sich keine Gestaltungsmöglichkeiten erkennen.

Dieses exklusive Denken erscheint uns so selbstverständlich, weil wir selbst damit sozialisiert wurden. Wir alle sind selbst in einem exklusiven System groß geworden. Wenn wir zu den Gewinnern des Referenzsystems gehörten, sehen wir keine große Veranlassung, daran irgendetwas zu ändern.

Die Frage ist also, ob wir Vielfalt – also ein inklusives System wirklich wollen? Oder ob wir ganz zufrieden sind, wenn es nicht funktioniert…

Eines aber ist klar: Ein exklusives System wie unser derzeitiges Schulsystem schließt inklusives Handeln aus. Migranten, Legastheniker und Behinderte bleiben darin immer Migranten, Legastheniker und Behinderte. Sonderschulpädagogen werden nur gebraucht, um Behinderte irgendwie an den „normalen Standard“ anzupassen, und weil das nicht gelingen kann, werden sich Behinderte immer defizitär fühlen. Mit Inklusion hat das nichts zu tun.

Inklusion ist das Gegenteil von Exklusion. Inklusion geht NICHT von einem gesetzten System an Normen aus, über das eine Bewertung in gut-mittel-schlecht überhaupt möglich wäre.

Inklusion geht von der Vielfalt aus.

All unsere Überlegungen, wie wir in Schulen erfolgreiche Bildungsprozesse initiieren und Höchstleistungen (!) hervorbringen können, müssen von der Vielfalt als Basis aller Konzeptionen ausgehen.

Es wird sich nur dann etwas ändern, wenn wir jegliche Hoffnung, jegliche Möglichkeit auf Homogenität komplett aufgeben. (Beispiel: siehe derzeitige Theatergruppe am Heimathafen Neukölln)

Derzeit aber behaupten wir nur die Inklusion, halten aber an allen Koordinaten eines exklusiven Systems fest: Wer seinen Selbstwert und seine Chance, am Großen und Ganzen partizipieren zu können, an einer vorgegebenen Norm ausrichten muss, wird immer ein Stück weit von sich selbst entfremdet sein. Denn selbst diejenigen, die die vorgegebenen Normen erfüllen, würden vielleicht lieber etwas anderes anbieten, tun es aber nicht, weil sie ihre Fähigkeiten an die gesetzte Norm anpassen – und nicht dem eigenen, intrinsischen Antrieb folgen. Denn das exklusive System belohnt nicht die individuelle Fähigkeit, sondern die Anpassung. Und für diejenigen, die im gesetzten System nicht erfolgreich sein können gilt: Wer seine eigenen Potenziale im vorgegebenen System überhaupt nicht vertreten sieht, wird sich minderwertig fühlen und diese Demütigung kompensieren, in dem er das vorgegebene System ablehnt.

Genau das erleben wir gerade. Genau das wird gerade zum Problem. Wer identifiziert sich noch zu 100 Prozent mit unserer Demokratie? Wer glaubt, dass er aufgefordert ist, unsere Gesellschaft mitzugestalten? Das Gefühl der Ohnmacht erfasst immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft – und immer mehr Heranwachsende.

In einer Oktober-Ausgabe des Spiegels (Nr. 44 vom 27.10.2014, Seite 44) wird das mangelnde politische Interesse der heutigen Studierenden beklagt. Kein Wunder, dass sie sich nicht in das Große und Ganze einbringen wollen. Wie auch, wenn sie gelernt haben nach Noten und Credit Points zu lernen – Erfolg also nie auf individuelles Potenzial bezogen erleben, sondern immer nur auf eine Anpassungsleistung hin.

So ist es auch in unseren Schulen. Da sitzen Millionen denkende Wesen, alles kleine Universen mit verschiedensten Perspektiven auf die Welt, aber sie sollen ihren Geist in vorgegebenen Bahnen bewegen, die irgendjemand für die allgemeingültigen, richtigen erklärt hat.

Wer glaubt heute noch ernsthaft, dass er ein System an Inhalten und Kompetenzen erdenken kann, das für eine erfolgreiche, zukünftige Lebensgestaltung ALLER Jugendlichen „das Richtige“ ist? Das Haltbarkeitsdatum jedes Versuchs wäre schon in dem Moment abgelaufen, in dem es sprachlich fixiert ist.

Wir ahnen das längst. Alle Versuche, im Unterricht zu differenzieren, alle Diskussionen um Vielfalt und Inklusion deuten darauf hin, dass wir längst wissen, dass unser Bildungssystem ein Gedankenkonstrukt vergangener Tage ist. Wir versuchen krampfhaft, mit Gedankenkonstrukten, die einem exklusiven System entspringen, ein Problem zu lösen, das neue, inklusive Formen des Denkens erfordert.

Wir versuchen Gedanken-Bruchstücke eines inklusiven Denkansatzes an unser exklusiv funktionierendes Bildungssystem dran zu kleben und wundern uns, dass es nicht „hält“ – nicht funktioniert. Wir reden nach wie vor von „Behinderten“ und versuchen, die – auf die existierende Norm bezogenen – „Defizite“ der „Behinderten“ zu mildern. Statt zu begreifen, dass der Aspekt der „Behinderung“ in einem inklusiven Denkansatz völlig irrelevant ist! Dadurch, dass wir „behinderte“ Menschen als „behindert“ bezeichnen, nehmen wir an ihnen ausschließlich den Aspekt der Behinderung wahr und versuchen zu „helfen“.

Was aber wäre, wenn wir statt dessen unsere Aufmerksamkeit auf all das richten, was – abgesehen von der Behinderung – diesen Menschen besonders macht? Wenn wir barrierefreie Schulen als etwas Selbstverständliches begreifen: Barrierefrei in jeder Hinsicht – für alle, nicht als Extra-Wurst für die „Behinderten“. Nicht nur die „Behinderten“ brauchen eine besondere, individuelle Aufmerksamkeit und professionelle, differenzierte Lernmöglichkeiten – sondern alle! Was steckt an Potenzialen in all diesen Schüler_innen, wenn wir aufhören, uns auf ihre Defizite zu fokussieren? Was KÖNNEN diese Jugendlichen? Das können wir nicht heraus finden, so lange wir glauben, das der „Behinderte“ oder der „Verhaltensauffällige“ oder der „Bildungsbenachteiligte“ Chancen erhalten muss, um sich besser an unser normiertes System anzupassen.

Der partizipative Theaterunterricht

Der professionelle Theaterunterricht an Schulen ist wie kein anderes Fach dazu geeignet, inklusive Unterrichtsprinzipien zu ermöglichen und damit die dringend notwendigen Impulse für eine erfolgreiche Schulentwicklung zu geben.

Es ist das Wesen eines künstlerischen Prozesses, Fragen an die Welt zu formulieren. Darin unterscheidet sich die Kunst von der Schulsituation, in der es üblicherweise um das Lernen von Antworten geht.

Das Konzept des biografischen, partizipativen Theaters versteht Heterogenität nicht als Herausforderung – sondern als zentrale Zukunftsressource und Ausgangsbedingung für gelingende Bildungsprozesse.

Die partizipative Arbeit orientiert sich an der Vielfalt und nicht an einem – von wenigen gesetzten – Bewertungssystem.

Die innere Haltung dabei ist in dem Sinne inklusiv, als sie nicht ein Bewertungssystem ausformuliert und dann die Abweichungen davon als defizitär beschriftet – sondern auf vielfältigste Weise Wissen und Handwerkszeug zur Verfügung stellt und individuelle Erfahrungen und Erkenntnisse ermöglicht. So können verborgene Potenziale aufgespürt und zur Entfaltung gebracht werden – und gleichzeitig eine Entwicklung hin zu anspruchsvollsten künstlerischen Formen angeregt werden – und somit ein Verständnis von Welt und der eigenen Aufgabe darin.

Das heißt allerdings nicht, dass dieser Ansatz beliebig ist. Es geht hier nicht um eine Spielwiese, bei der jeder machen kann, was er will. Anspruch und Qualität wird schrittweise entwickelt und immer weiter befördert durch ein methodisch und pädagogisch kleinschrittiges Konzept, das verschiedenste Lernzugänge zur Kunstform Theater und zu inhaltlichen (literarischen, historischen, politischen, usw.) Themen ermöglicht und zu jedem Zeitpunkt offen ist für individuelle Vorschläge und Ausdrucksformen:

Das Theatrale Mischpult kann beispielsweise ein methodischer Ausgangspunkt für eine große Anzahl an Arbeits- und Kreativgefäßen sein, die so konzipiert sind, dass sie individuelle Erfahrungsräume öffnen und in der Reflexion darüber Erkenntnisse auslösen: In kleinen Schritten und immer gerade soviel, dass Lernen als beglückend empfunden wird. Stark ritualisierte Abläufe und kleinere methodisch durchdachte Arbeitsgefäße geben Jugendlichen die notwendige Sicherheit, um Irritationen und Fremdes auszuhalten und Neugier auf sich selbst als Teil dieser Welt zu entwickeln. Der Zugriff zum Wissen ist transparent und jederzeit für jeden individuell möglich.

Das Theatrale Mischpult ist somit die „Startrampe in eine Welt verschiedenster theatraler Gestaltungsmöglichkeiten“. In einem komplexen und vielfältigen Feedback-Verfahren, das schrittweise angeleitet wird, lernen die Jugendlichen ihre eigenen Lernfortschritte zu erkennen und zunehmend präzise zu benennen. Sie werden zu Expert_innen und selbstbewussten künstlerischen Gestalter_innen.
(„Freeze & Blick ins Publikum“ Maike Plath, Beltz 2011, „Freak Out mit Engel-Stopp – das Erweiterungs-Set zum Methodenrepertoire“, Maike Plath, Beltz 2014 und „Die Schreibwerkstatt – Vom biografischen Text zum Theaterstück“, Maike Plath, Beltz 2014).

Über das Theatrale Mischpult auf der einen und eine pädagogische Haltung der Wertschätzung und der Stärkeorientierung auf der anderen Seite kann ein neuer sozialer Raum der Begegnung etabliert werden, in dem die ansonsten geltenden rollenspezifischen Verhaltensmuster abgelegt und neue Rollen erschaffen werden.

Die Spielleitung agiert in diesem Kommunikationsraum nach dem sokratischen Prinzip der „Meister-Schüler-Beziehung“, die Georg Steiner folgendermaßen definiert:

„Der Meister lernt vom Schüler und wird durch diese Beziehung verwandelt in einem Prozess, der sich im Idealfall in einen Austausch verwandelt. Das Schenken geschieht wechselseitig, wie in den Labyrinthen der Liebe.“

Es geht also nicht um einen Wissenstransfer, sondern um den Lernprozess selbst, der zu neuen Erkenntnissen führt. Nichtwissen heißt bei Sokrates lebenslanges Fragen, lebenslanges Lernen, jenseits unveränderlicher Gewissheiten. Genau das ist heute erforderlich in einem medialen Environment, in dem Informationen so verwirrend zahlreich zirkulieren und so schnell veralten, wie nie zuvor.

Durch den Verzicht auf ein gesetztes Bewertungs-System, den individuellen Zugriff aller auf alles Wissen und alle Inhalte und eine stärkeorientierte Pädagogik werden die Jugendlichen befähigt und darin bestärkt, eigenes auszuformulieren, schrittweise weiterzuentwickeln und eine entsprechende, individuelle künstlerische Form dafür zu finden.

So wird Selbstwirksamkeit erlebt: Die Gewissheit, dass das eigene, subjektive Kleine von größter Bedeutsamkeit ist für das allgemeine, objektive Große.

Der „Basar“ ist reichhaltig und in sich vollkommen, weil er das Individuelle bestärkt, befördert, individuelle Perspektiven des Wachsens anbietet und das Abweichende, Neue begrüßt. So werden Fehler zu Umwegen – und Umwege erhöhen die Ortskenntnis. Dies gilt übrigens nicht nur für Lernprozesse mit den Jugendlichen, sondern für das Leben überhaupt.

Der Reichtum ergibt sich konsequenterweise aus dem inklusiven Prinzip, an die Vielfalt zu glauben – und nicht sie durch Bewertungen einzuhegen und zu begrenzen. Dies kann auch für alle Lehrenden unfassbar entlastend und bereichernd sein. Denn endlich darf der Lehrende auch wieder Lernender sein. Auf diese Weise kann jede_r selbst erfahren, dass Neugier und Offenheit für das Andere, Unvorhergesehene ein erfüllenderer und erfolgreicherer (!) Antrieb ist, als Kontrollzwang und Angst (vor dem Scheitern).

Die Schüler_innen (und auch wir selber) erleben auf diese Weise genau das, was eigentlich Ziel aller Bildungsprozesse ist: Nämlich, dass alles auch ganz anders sein könnte.

Denn:

Jeder hat die Aufgabe, alles zu sein, was er sein kann.

(Abraham Maslow)