Man soll den Tag, bzw. die tägliche Arbeit, nicht vor dem Abend loben, dachte ich wenige Tage nach meinem letzten Blog Eintrag… Denn letzten Donnerstag flog mir eine Probe mit der Quinoa-Klasse so richtig schön um die Ohren. Und auch am Freitag hatten wir noch ordentlich zu kämpfen, bis die innere und äußere Ordnung einigermaßen wieder hergestellt war. Das Gute daran ist: Inzwischen weiß ich, dass die Krise IMMER kommt. Ich warte fast darauf. Die Krise kommt – so professionell und tadellos die gesamte Arbeit und die Rahmung (derzeit durch die Quinoa-Schule) auch ist, so sehr wir auch „alles richtig“ machen mögen – plötzlich haben wir auch mal den Tag und/oder die Welt gegen uns. Und auch das ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit und deswegen schreibe ich darüber. Zu behaupten, dass immer die Sonne scheint, würde mir ohnehin niemand glauben, der schon mal an ähnlicher Stelle an den Rand seines Nervenkostüms gelangt ist… Für mich ist nach all diesen Jahren nur eines glücklicherweise anders als früher: Im Gegensatz zu meinen Anfängen in Neukölln, lasse ich mich nicht mehr so schnell aus der Fassung bringen – von der vermeintlichen Katastrophe. Ich denke dann immer: Ok. Es ist soweit. Her mit der Rüstung und rein in die Schlacht. Nicht gegen die Schüler_innen übrigens 😉 – sondern gegen das allgemeine AUFGEBEN. Wenn dies ein Märchen wäre, würde ich sagen: Es ist die Schlacht gegen den Teufel (in uns).
Ich hätte es wissen müssen. Denn am Donnerstag letzter Woche fehlt meine Quinoa-Kollegin Frau N. Immer rede ich davon, dass die Irritationen für die Kinder nicht zu groß sein dürfen – und dann laufe ich selbst munter hinein in die eigentlich vorhersehbare „Katastrophe“, die den Titel trägt: Mutti ist nicht da.
Die Kinder hatten sich nach vier Wochen daran gewöhnt, dass unsere Proben immer gleich aufgebaut waren und die Rollen von Frau N. und mir klar gesetzt waren: Ich leite die Prozesse an und arbeite mit der gesamten Klasse, Frau N. fängt auf, was sich an Stimmungen bei den einzelnen ansammelt und nur im persönlichen Gespräch gelöst werden kann. Bei 26 Kindern, die durch den Theatersaal toben, ist es unmöglich, beide Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen. Wenn sich also jemand mit bockigem Gesicht an den Rand auf eine Bank plumpsen ließ, die Arme verschränkt, finsterer Blick – dann setze sich Frau N. daneben, klärte, was es zu klären gab und motivierte dazu, weiter zu machen.
Am Donnerstag war sie nicht da. Ich machte mir trotzdem keine Sorgen – weil für mich das „Alleine-Unterrichten“ aus den vielen Jahren Schule ja das Normale war. Der ritualisierte Anfang gelingt uns noch gut. Aber dann leiten Fatima und Ana eine kleine Choreografie-Aufgabe zu selbst mit gebrachter Musik an: Ich gebe ihnen ausgewählte Karten vom Theatralen Mischpult an die Hand, im Wesentlichen die Formations-Bausteine, und bitte sie, eine kleine Auswahl an ihren selbst gewählten Bewegungsbausteinen (Moves) einzeln auf Kartei-Karten zu skizzieren – eine Bewegung pro Karte. Sie können dann einzelne Moves im „Vormachen-Nachmachen“ Prinzip mit der Gruppe einüben und anschließend Formations-Wechsel einstudieren. Am besten ist es, wenn sie schon lange mit dem Theatralen Mischpult arbeiten und die anderen mit eigenen Bewegungs-Vorschlägen mit einbeziehen. Das aber gelingt nicht wirklich, denn Fatima und Ana wollen „alles alleine bestimmen“ und ihre Kompromiss-Bereitschaft, was ihre selbst ausgedachte Choreo angeht, hält sich in Grenzen…
Ich denke: Gut, sollen sie eine Erfahrung machen. Denn nur so lernen sie. (Ich selbst musste ja auch erst lernen, dass es besser funktioniert, wenn man alle am Prozess beteiligt…) 😉
Ich stehe ihnen also nur beratend zur Seite, weil ich weiß: Wenn ich ihnen zu viel Hilfestellung gebe, empfinden sie es als nervigen Eingriff und Bevormundung.
(Normalerweise nehme ich mir monatelang Zeit, um allen Schüler_innen die einzelnen Schritte einer choreografischen und szenischen Arbeit (innerhalb von Klein-Gruppenarbeit) sehr kleinschrittig zu vermitteln. Wir haben diese Zeit aber nicht, weil nächste Woche Donnerstag die Aufführung statt finden soll. Im Übrigen ist dies das Hauptproblem, das hinter dieser missglückten Probe steht und natürlich hätte ich auch das von Vornherein wissen müssen).
Nun stehen Fatima und Ana also mit verschränkten Armen vor der ganzen Klasse und wollen partout alles ALLEINE machen. Ich soll sie nicht mit meinen Einwänden nerven. Ich beschränke mich also darauf, ihnen die Vorgehensweise mit dem Mischpult ans Herz zu legen und jeden Move in aller Ruhe einzeln mit der Gruppe zu erarbeiten. Aber schon nach fünf Minuten rennt die erste Spielerin an den Rand, bockiges Gesicht, finstere Miene.
Ich übernehme die Rolle von Frau N. und eile zu ihr, setze mich neben sie und höre mir ihre Beschwerde an. Ich tröste, erkläre, ermutige. Sekunden später sitzen drei, vier – fünf, sechs, sieben (!) andere bockig am Rand und wollen nicht mehr mit machen. Fatima und Ana sind zu unfreundlich und zu ungeduldig, lautet die (berechtigte) Kritik. Oh je. Ich eile Fatima und Ana zur Hilfe, sorge erstmal wieder für Ruhe, mache noch einmal deutlich: Ganz langsam, Schritt für Schritt! Die machen das doch schon sehr gut!
Die „Am-Rand-Sitzer_innen“ lassen sich zögerlich wieder auf die Arbeit ein. Puh ha. Es entsteht ein erster – gelungener (!) – kleiner Ablauf. Ich spiele ihnen ihre Musik dazu. Alle strahlen. Doch dann geht es wieder los. Fatima und Ana stehen vorne und sind wütend, dass „diese Klasse gar nicht richtig zuhört“ und „gar nichts kann!“. Beide tanzen komplizierte Schrittfolgen vor und sind genervt, dass die Klasse „so blöd ist“ – „warum machen die das nicht einfach nach?“.
Ihr müsst die Karten benutzen! rate ich den beiden erneut. Guckt mal: Probt doch erstmal euren ersten Formationswechsel. Das sieht doch schon toll aus!Nein, Fatima und Ana wollen das nicht, es soll schneller gehen! Nächste Woche ist ja die Aufführung und sie wollen unbedingt, dass ihre Choreo darin vorkommt!
Die ersten Jungs rennen durch den Raum und prügeln sich, andere verstecken sich hinter den Vorhängen und albern rum. Ich renne den Jungs hinterher, versuche sie einzusammeln, überrede sie, wieder mit zu machen. Kaum rede ich eine Zeit lang mit Hussein, sitzen wieder drei Neue am Rand und werfen mir verstohlene Blicke unter verschränkten Armen zu: Wann kommt sie zu MIR? ICH HABE AUCH EIN PROBLEM!!
So geht es weiter. Alle wollen meine Aufmerksamkeit, alle wollen mir ihre kleine Geschichte erzählen, gesehen, gelobt, getröstet werden. Ich soll jeden und jede in den Arm nehmen und zuhören und ermutigen. Sobald ich vor einem schmollenden Kind auf dem Boden knie, lassen sich fünf, sechs andere bockig auf die Bänke am Rand fallen und beobachten argwöhnisch, wann ich ENDLICH zu Ihnen komme! Bei wem sitzt sie schon länger? Warum kommt sie nicht zu mir? Chaos bricht aus. Die einen heulen, die anderen schreien rum, die nächsten streiten und gehen aufeinander los. Alles klar. Es ist soweit. Ich gehe in die Schlacht gegen den Teufel „Aufgeben“:
Ein kleiner Auschnitt aus den folgenden 20 Minuten:
Eine Spielerin, ich nenne sie Erva, brüllt mich an: Theater ist voll Scheiße! Das ist alles Scheiße! Sie funkelt mich aus bösen Augen wild an.
Ich: Nicht aufgeben, du hast das doch extrem gut gemacht! Was ihr da gerade versucht, ist total schwer! Ich könnte das auch nicht besser!
Erva: Ne, das macht gar keinen Spaß! Keiner will mehr Theater machen! Voll scheiße!
Ich: Das ist stressig gerade, aber ihr macht das gut! Komm erstmal runter, Erva und setz dich hin, wir machen erstmal eine Pause.
Erva: Ne, ich mach gar nicht mehr mit! Wir wollen das gar nicht! Theater ist blöd. Ich geh jetzt. (Sie geht aber nicht, sondern steht schimpfend vor mir).
Erva: Das ist gar kein richtiges Theater! Keiner in der Klasse will das! Macht gar keinen Spaß!! (Es folgt eine rhetorisch beeindruckende Reihung an Beleidigungen, die ich nicht wirklich kontern kann. Da ist sie mir haushoch überlegen). Ich sehe sie direkt an und sage, Erva, das verletzt mich, was du da sagst.
Erva: Egal!
Ich: Ne, das ist nicht egal.
Erva: Wieso?
Ich: Weil mir das weh tut, Erva, was du sagst. Ich verletze dich auch nicht.
Erva: Ist mir egal.
Ich: Mir bist du nicht egal. Und ich möchte nicht, dass du mich verletzt. Bitte hör auf damit.
Erva guckt bockig zur Seite und schweigt. Ich weiß, was jetzt zu tun ist. Ich gehe auf sie zu und suche ihren Blick. Leise sage ich: Erva, Süße, komm runter. Das ist meine Schuld. Das war zu schwer. Wir kriegen das wieder hin.
Erva: NE! DAS WILL ICH ABER NICHT!! ICH HÖRE AUF MIT THEATER!!!!
Ich: Ok, aber ich werde weiter um euch kämpfen hier. Um dich. Ich gebe NICHT auf, Erva. Ich werd hier stehen bleiben bis zum Schluss – und wenn ihr ALLE aufhört. (Ich wage ein Lächeln).
Erva (nach außen unbeeindruckt): JA, MACHEN SIE DAS – IST MIR DOCH EGAL! WIR HÖREN ALLE AUF! THEATER IST SCHEIßE!
Ich bediene mich jetzt aus meinem inneren Reservoir an Wärme für all diese Kinder, mit denen ich so oft schon dasselbe durchgemacht habe und versuche, ihren Blick zu kriegen. Ich erwische ihn, sie weicht aus, aber dann bin ich bei ihr, sage noch mal: Komm Erva, meine Süße, es tut mir leid, das war einfach zu schwer! Das konnte gar nicht klappen! Nun komm mal her, das kriegen wir alles wieder hin…
Ihr Blick kippt und sie rutscht mir praktisch in die Arme. Dann rennt sie weg. Von dem Moment an aber ist sie wieder dabei, strengt sich an und guckt immer wieder verstohlen in meine Richtung, um zu überprüfen, ob ich auch SEHE, wie gut sie jetzt wieder mit macht. Ich lächle sie an, sie lächelt hauchdünn zurück und guckt dann sofort wieder weg. Dieses „Kurz-Lächeln-und-wieder-ganz-cool-weggucken-Spielchen“ spielen wir den Rest der Probe weiter…
Zahlreiche solcher kleinen „Battles“ – mit fast jedem einzelnen Kind im Raum- sind jetzt zu überstehen – und ich kann das nur, weil ich innerlich nicht zulasse, dass ich verlieren könnte. Ich bleibe innerlich bei ihnen. Das ist der Unterschied zu früher. Früher bin ich irgendwann wütend auf sie geworden. Und dann war ich verloren. Dann ging alles den Bach runter, dann drückten sie alle „meine Knöpfe“, und ich rutschte komplett ab in Hilflosigkeit und Wut. Ich brauchte dann sehr lange, um mich mental von solchen Niederlagen zu erholen. Denn man geht hinterher ja tausendmal in Gedanken diese Situationen durch und fühlt sich mies. Damit ist aber niemandem geholfen. Es gibt daher eigentlich keine Alternative zum „Gewinnen“. Verlieren geht nicht. Und wenn ich „gewinnen“ will, muss ich in der Liebe mit ihnen bleiben. Dem Teufel Paroli bieten. Ich muss mein Prinzip der positiven Kraft gegen ihr Prinzip der negativen Kraft durchsetzen.
Deswegen sage ich mir: Wenn du es nicht schaffst, in diesem Raum wieder etwas Positives zu etablieren, dann leidest du selbst am meisten, denn, wenn du das alles hier nicht hältst, rutscht das ganze Ding in den Abgrund. Nur, wenn du „gewinnst“, bekommst du die investierte Kraft wieder zurück und kannst deine inneren Batterien wieder aufladen, weil du dann einen Sinn in deiner Arbeit sehen kannst. Wenn du aber verlierst, sickert die Niederlage ein und du wirst ungerecht und bitter.
Irgendwann sitzen wir alle wieder im Kreis auf dem Boden. Es ist ruhig. Wir reden. Ich sage ihnen, dass es keinen Grund gibt, aufzugeben, dass sie ganz im Gegenteil gerade durch diese schwierige Probe ganz viel gelernt haben. Ganz allmählich kommt ein Gesicht nach dem anderen „in den Raum“ zurück. Und wir können doch noch ein bisschen proben. Geordnet, ruhig, ein bisschen erschöpft. Einige haben noch ganz verheulte Gesichter. Aber die Schlacht ist – für heute- gewonnen.
Am Freitag gibt es nur noch zwei Optionen: Mitmachen oder draußen vor der Tür einen Schreibauftrag erledigen… Das ist gemein, aber der Kampf um die Aufmerksamkeit am Rand muss ein Ende haben. Mitmachen wird wieder attraktiv, denn jetzt gibt es nur noch dort die Aufmerksamkeit. Die Strategie geht auf. Wir kämpfen zwar noch mal die ersten 30 min miteinander. So als müssten wir noch einmal durch die Krise durch. Aber der Frieden stellt sich früher ein. Es wird getanzt, gelacht, gesungen, geprobt, gestrahlt. Und es ist – allen – wieder vollkommen klar, wo der Sinn dieser Arbeit liegt. Man muss den Teufel offenbar immer wieder neu besiegen. Und am Montag ist Mutti (Frau N.) wieder da… 🙂