Theaterprojekt in der Quinoa-Schule

Nach den Sommerferien hat die Quinoa-Privatschule mit ihrer ersten 7. Klasse im Wedding ihren Betrieb aufgenommen. Es gibt noch kein „richtiges“ Schulgebäude, der Unterricht findet derzeit in den Räumlichkeiten eines Postamts statt. Ich kenne die Gründer_innen Fiona Brunk und Stefan Döring seit etwa drei Jahren und habe eine leise Ahnung davon, was sie durchgemacht haben, um diese Schule Realität werden zu lassen. Denn Quinoa ist eine Privatschule, die bildungsbenachteiligten Kindern eine erfolgreiche Bildungsbiografie ermöglichen möchte. Daher kann sie sich aber nicht über das übliche Schulgeld der Eltern finanzieren – denn die Eltern haben dieses Geld nicht. In den letzten drei Jahren ging es also darum, eine Schule zu finanzieren – weitestgehend ohne staatliche Mittel – fast ausschließlich über Spenden. Sowohl die Gründer_innen als auch alle an der Schulgründung beteiligten Menschen arbeiteten drei Jahre quasi ohne Bezahlung, man könnte sagen idealistisch motiviert, um diese Schule möglich zu machen. Das ist ihnen nun gelungen: 26 Kinder aus dem Wedding haben seit vier Wochen Unterricht an der Quinoa-Schule.

Ich selbst habe das große Glück dabei zu sein: Jeden Tag gebe ich zusammen mit einer Lehrkraft der Quinoa-Schule 120 Minuten Theaterunterricht in der Klasse. Wir arbeiten in einem großen hellen Raum im Haus der Jugend am Nauener Platz. Jeden Tag zwei Zeitstunden Theater. Sechs Wochen lang. Für mich ist das wie ein Experiment unter Laborbedingungen: Denn diese Kinder sind mir sehr vertraut. Es ist eine Situation, wie ich sie seit vielen Jahren kenne:Dasselbe Klientel, dieselben anfänglichen Schwierigkeiten, dieselbe anfängliche Abwehr gegen Regeln und konzentriertes Arbeiten und dasselbe mangelnde Selbstbewusstsein. 26 Kinder, die es gewöhnt sind zu hören: Das kannst du nicht.

Aber dennoch ist alles anders.

In all meinen Jahren im staatlichen Schuldienst war der Theaterunterricht nur die leidlich geduldete „Extrawurst“ im Schulalltag. Kaum jemand hielt das für „richtigen“ Unterricht. „Die dürfen da machen, was sie wollen“, hörte ich oft – und wunderte mich über diese Bemerkung. Wenn das so wäre, hätten wir ja ununterbrochen Chaos – und wie konnten dann die ziemlich disziplinierten Theateraufführungen entstehen, in denen die Kolleg_innen ihre eigenen Schüler kaum wieder erkannten? Aber die Skepsis gegenüber dem Theaterunterricht blieb – entgegen aller Logik.

Die machen da was sie wollen. Die lernen da nix. Die sollen Deutsch, Mathe, Englisch machen. Da haben die mehr davon.

Gewagte Theorie.

Jetzt erlebe ich erneut eine wilde Klasse, die unter meiner Leitung „macht, was sie will“. Aber es ist sehr erstaunlich, was sich ändert, wenn alle ihre Lehrer das auch (!) wollen… Und wenn sie vor und nach dem Theaterunterricht ganz ähnliche Werte vermittelt bekommen. Wenn der Theaterunterricht für die Kinder nur eine Fortsetzung des ganz normalen Unterrichts mit anderen Mitteln ist.

Für mich ist es wie ein Wunder, zu beobachten, was dann passiert: Das Ball-Warm-Up – am ersten Tag noch ein wildes Getobe mit Geschrei – ist schon in der zweiten Woche nicht mehr wieder zu erkennen: 26 Kinder stehen konzentriert im Kreis und geben mit voller Aufmerksamkeit präzise ihre Impulse, der erste Ball fällt erst nach drei Minuten auf den Boden. Ein Wunder.

Die Übungen zur Präsenz: In der ersten Woche das übliche Gezappel, Gezupfe und Gekicher. Keiner schafft es, mit ruhigem, konzentriertem Blick langsam den Raum zu durchqueren. In der zweiten Woche bewegen sich 26 Kinder mit ernsten Gesichtern in Zeitlupe auf geraden Bahnen durch den Raum – so schön, dass es einen zu Tränen rührt. Vollkommen offensichtlich: Sie strengen sich wahnsinnig an. Sie wollen gut sein. Und sie werden gut.

Die selbständige Arbeit mit den ästhetischen Mitteln: In der dritten (!) Woche erarbeitet die Klasse in Kleingruppen selbständig eigene Choreografie-Bausteine. Dabei verwenden sie Zeitlupe, Synchronität, Spiegelung, Zeitraffer, verschiedene Formationen, usw., als hätten sie noch nie was anderes getan. Ich laufe zwischen den Kleingruppen herum, um eventuell aufkommende Konflikte, Verständnisschwierigkeiten oder Fragen zu klären: Sie winken ab und schicken mich weg, Das können wir alleine.

Tatsächlich können sie es alleine. (Ich fasse es nicht!). Fünf verschiedene Gruppen beraten ganz allein über den Einsatz zahlreicher ästhetischer Mittel, choreografieren einen Bewegungsablauf, stimmen diesen geduldig untereinander ab, studieren ihn ein, so dass sie ihn immer wieder auf dieselbe Weise wiederholen können – und präsentieren ihn (noch ein bisschen schüchtern) lächelnd vor den anderen. Die anderen geben präzises Feedback: „Mein Lieblingsmoment war, als ihr euch im Domino-Effekt nach vorne gedreht und ins Publikum gelächelt habt.“ „Mein Lieblingsmoment war, als ihr von hinten nach vorne eine Zombieapokalypse in Zeitlupe gemacht habt.“ „Mein Lieblingsmoment war…“

Das gibt es gar nicht. Ich kann nicht begreifen, wieso sie das in der dritten Woche können. Ich kenne das anders: Normalerweise dauert es Wochen, bis sie geduldig, respektvoll und konstruktiv in der Kleingruppe arbeiten und dabei etwas ästhetisch Eindrucksvolles zustande bringen.

Diese Klasse hat bereits in der dritten Woche einen Umgang miteinander, den man phasenweise als liebevoll bezeichnen könnte. (Im Ernst). Als einer der Jungen sich traut, zum ersten mal vor allen anderen zu singen, fangen einige an, zu weinen… Entsetzt frage ich nach: Was ist los?? Die Antwort lautet: Das ist so schön. (…)

Ich frage mich: Was passiert hier??

Aber ich muss nicht lange grübeln. Es ist offensichtlich. Ehrlich gesagt habe ich das immer geahnt: Wenn alle (!) Lehrkräfte und alle (!) Beteiligten des Schulbetriebs eine wertschätzende, stärkeorientierte Pädagogik konsequent und klar vorleben – und diese wirklich (!) dauerhaft und ohne Ausnahmen, ohne Zweifel durchziehen – dann potenziert sich der Lernerfolg der Kinder ins Außergewöhnliche. Dann etabliert sich die sogenannte, vielfach beschworene konstruktive Lernkultur, in der alles möglich wird. Und in der die Schüler_innen zaghaft anfangen, an sich selbst zu glauben. Genau das kann ich gerade live besichtigen. – Zum ersten Mal nach so kurzer Zeit.

An der Quinoa-Schule arbeiten derzeit vier Lehrkräfte unter extrem fordernden Bedingungen. Sie sind den gesamten Tag über mit den Kindern zusammen, teilweise ununterbrochen, ohne Pause. Die Kinder kommen jeden Tag noch früher zur Schule und wollen am späten Nachmittag nicht nach Hause. Sie fühlen sich bereits nach vier Wochen geborgen und angenommen. Sie sagen: „An der Quinoa-Schule ist alles besser“. Sie wissen ganz genau, dass das, was sie hier erleben nicht selbstverständlich ist. Deswegen sagen sie manchmal am Ende des Tages zu ihrer Klassenlehrerin „Danke, Frau L.“

Die Quinoa-Schule ist finanziell noch keineswegs „über den Berg“. Ob die Schule bestehen kann, hängt davon ab, wie viele Menschen bereit sind, sie zu unterstützen. Wie immer, wenn etwas vom „Normalen“, „Altbekannten“ abweicht, so sieht sich auch die Quinoa-Schule mit abstrusen Gerüchten und schlechtem Gerede konfrontiert. „Das ist doch eine verkappte Eliteschule“ heißt es etwa – oder „Was denken die, was sie besser machen können? Bildungsbenachteiligung ist doch Sache des Staates!“

Seufz. Es scheint zutiefst menschlich zu sein, dass Leute, die etwas Neues, Anderes probieren, grundsätzlich den Neid und den Widerstand gewisser anderer Menschen auf sich ziehen. Man kann nur hoffen, dass das zarte, wertvolle Pflänzlein, das dort im Wedding gerade gedeiht, nicht vorzeitig vom Rasenmäher zur Strecke gebracht wird.

Morgen bin ich wieder dort. Und ich hoffe, dass ich dazu beitragen kann, dass die stärkeorientierte Pädagogik und Arbeitsweise an der Quinoa-Schule schon bald überall eine absolute Selbstverständlichkeit sein wird. Diese – und alle anderen Kinder hätten das wirklich verdient.