Die Geschichte von Nihat

Nihat (13 Jahre) kommt im November zu uns. Ein Kollege sagt: Der sitzt doch längst im Hauptschulkarussell. (Womit gemeint ist, dass Nihats »Überlebenszeit« an einer Schule als nicht sehr dauerhaft eingeschätzt wird und er in kürzester Zeit von einer Schule zur nächsten weiter gereicht wird.)

Nihat ist ein Feuerwerk an guter Laune und Originalität. Zwar grenzen die Stunden mit ihm und der ganzen Klasse in der Aula oft an ein Überlebenstraining für alle Beteiligten, aber seine Einfälle sind trotz allem so komisch, dass ich immer wieder hin und her schwanke zwischen Ärger und Bewunderung für das unfassbar kreative Chaos, das er anrichtet.Innerhalb von fünf Minuten hat Nihat den Requisiten-Fundus entdeckt und in eine Improvisations-Spielwiese verwandelt. Kein einziger Gegenstand, kein einziges Kleidungsstück, das er nicht in eine rasend komische, verblüffend gekonnte Nummer verwandeln kann. Er tanzt, singt, spielt und ist dabei zartes, schüchternes Mädchen, aufgeblasener Macho, alte, gebrechliche Frau, aufgetakelte Sex-Bombe, strenge Lehrerin, unerbittlicher Patriarch, tröstende, dicke Mama, eiskalter Gangster – in Windeseile von einer Rolle in die nächste springend, als habe er noch nie etwas anderes getan als Theater zu spielen. Die Klasse schaut basserstaunt zu. Besonders beeindruckend finden die anderen seine völlige Abwesenheit von Scham.

»Dem ist gar nix peinlich«, bemerkt Hakan anerkennend, während Nihat gerade zu klassischer Musik mit einem gelben Büstenhalter über dem Adidas-T-Shirt, eine rosa-glitzernde Handtasche schwingend wie eine Prima-Ballerina durch den Raum tanzt.

Die Herausforderung liegt also darin, sein Verhalten für andere erträglich zu machen und ihn – mit seiner blitzschnellen Auffassungsgabe – ausreichend zu fordern.

Manchmal erfordert das auch mal einen lauten Wutanfall meinerseits – aber Nihat ist nicht nachtragend und ganz offensichtlich um meine Zuneigung – und besonders um mein Lob bemüht. So gelingt es durch eine geschickt und geduldig komponierte Reihung an Aufträgen, in denen Nihat Erfolgserlebnisse und echtes Lob sammeln und sich dabei trotzdem auf die Bedürfnisse der anderen einstellen muss, mit der Zeit eine gewisse Ordnung in die Theater-Proben zu bringen – und Nihats unendlichen Einfallsreichtum zu einem Gewinn für die Gruppe zu machen.

»Ich liebe Theater«, sagt er und steht immer als erstes vor der Aula-Tür, wenn es los geht. (Allerdings steht er auch häufig vor der Aula-Tür, wenn es NICHT losgeht – wenn ich nämlich mit einer anderen Gruppe Theaterunterricht habe und er eigentlich im Mathe-Unterricht sein müsste. Dann schiebt sich plötzlich sein Kopf durch die Tür, er grinst keck und gleichzeitig bittend und fragt: »Kann ich lieber hier mitmachen, Frau Plath? Is besser….«)

Tatsächlich ist seine Einschätzung nicht ganz falsch. Mir bleibt leider nicht verborgen, dass Nihat außerhalb des Theaterunterrichts nicht die geringste Anstrengung unternimmt, seine Originalität in weniger auffällige Bahnen zu lenken. In der Pause löst er gerne mal den Feueralarm aus, in den Stunden versteckt er sich erfolgreich stundenlang im Schrank, um dann plötzlich mit Riesen-Gepolter heraus zu springen, nach vorne zu laufen und als strenger Lehrer den Unterricht zu übernehmen – die Reaktionen der Lehrer_innen vollkommen ignorierend. Nicht alle Lehrer finden das komisch. Ermahnungen und Sanktionen bewirken allerdings nicht das Geringste: Nihat verschwindet dann einfach.

Was absolut offensichtlich ist: Nihat verfügt über eine überbordende Intelligenz, die ungebremst gegen das Mittelmaß des reglementierten Schulalltags prallt und ständig neue kleine Erdbeben auslöst. Erdbeben, die in Windeseile den gesamten Maßnahmenkatalog bürokratisch geordneter Sanktionen nach sich zieht. Und ihn damit in die gefährliche Nähe eines Ausschlusses von der Schule bringt.

Auch eine andere »Angewohnheit« von Nihat führt zu Problemen: Neben allen performativen Einlagen im Schulalltag macht Nihat auch damit auf sich aufmerksam, dass er sämtliche Möbel, die ihm begegnen mit Zeichnungen von Riesen-Penissen ausstattet.

Der Klassenrat beschließt mehrfach hintereinander, dass Nihat nach der Schule die gesamten Tische im Klassenraum von seinen Zeichnungen säubern muss. Diesem Auftrag kommt Nihat ohne großen Protest und mit bester Laune nach. Jede Woche verteilt er mindestens einmal mit großem Aufwand Schaum auf allen Tischen und putzt gutgelaunt alle Riesen-Penisse von den Tischplatten. – Um sie bei nächster Gelegenheit wieder in aller Pracht zu erneuern.

Einmal gelingt es ihm sogar kurz vor einem Elternabend den Klassenraum auf seine persönliche Weise zu dekorieren, was einen Riesen-Ärger seitens der Schulleitung nach sich zieht.

In den Pausen spielt sich mit Nihat regelmäßig ein großes Theater vor den Toiletten ab: Nihat steht vor dem Jungs-Klo. Schließt ein Kollege dann die Tür zu den Toiletten auf, bewegt er sich keinen Millimeter. Er will selbst die Außentür aufschließen – vor allem aber sie gleich danach hinter sich gründlich wieder abschließen, so dass kein anderer Junge aufs Klo gehen kann, während er drinnen ist. In den Pausen erregt er damit immer wieder großen Ärger. Es wird geprügelt, geschrien, geflucht und Nihat landet – wie so häufig- im Sekratariat, wo er der Schulleitung gegenüber sein schlechtes Benehmen rechtfertigen oder die Schulordnung abschreiben muss. Nihat sitzt dann ungerührt auf seinem Stuhl, starrt aus dem Fenster und schweigt. Die Schulordnung möchte er nicht abschreiben. Lieber geht er dann in einem günstigen Moment, wenn keiner guckt, nach Hause.

Nach einiger Zeit vermeidet Nihat die Pausen-Problematik vor den Toiletten – und bringt die Lehrer_innen damit zur Weißglut, dass er ständig mitten in der Stunde aufs Klo gehen möchte und dafür den Lehrerschlüssel einfordert – da die Toiletten während der Unterrichtszeit abgeschlossen sind. Die meisten Lehrkräfte geben ihren Schlüssel nur sehr ungern aus der Hand, da sie erstens den Toilettengang als Störung ihres Unterrichts empfinden und zweitens keinem Schüler ihren Schlüssel anvertrauen wollen.

Nihat aber will den Schlüssel – und lässt sich einiges einfallen, um ihn zu bekommen. Ständige Auseinandersetzungen in den Stunden um den Schlüssel und um Klopapier (auf den Schüler-Toiletten gibt es grundsätzlich kein Papier) werden zur Tagesordnung. Nihat lässt sich weder belehren noch beirren.

Glücklicherweise hat Nihat eine junge, engagierte Familienhelferin, die immer wieder großes Geschick darin beweist, für Nihat ein gutes Wort einzulegen und ihn vor so mancher Klassenkonferenz zu bewahren.

In einem persönlichen Gespräch mit ihr erfahre ich dann eines Tages den Grund für Nihats Toiletten-Problem. Sie erklärt mir ohne Umschweife, dass es in den Flüchtlingsunterkünften, welche erste Anlaufstation für libanesische Familien in Deutschland sind, Gang und Gebe ist, die nächst jüngeren Jungs auf der Toilette zu vergewaltigen. Eine bewusste Demütigungsgeste, um die Rangfolge klar zu stellen.

Als ich die unterrichtenden Kollegen darüber in Kenntnis setze, reagieren diese genervt und bitten mich, »diese Räuberpistolen der Familienhelferin doch bitte nicht ernst zu nehmen«. Das sei wieder nur eine Ausrede, um »Extra-Würste« zu rechtfertigen. Die Familienhelferin »mache sich doch nur wichtig« mit diesen dramatischen Geschichten. »Man müsse bei Nihat einfach härter durchgreifen.« Es ginge ja nicht an, dass der dauernd im Unterricht aufs Klo rennt und dann auch noch mit dem Lehrer-Schlüssel! Und überhaupt könne der nicht immer einfach machen, was er wolle. Da müsse man »ein Zeichen setzen«.

Einige Lehrer_innen weisen darauf hin, dass die Toiletten-Situation ja auch »nicht optimal« sei und lassen Nihat während des Unterrichts gehen. Das wiederum führt zu erbosten Reaktionen im Lehrerzimmer: Besagten Kollegen wird vorgeworfen, sie verhielten sich »nicht solidarisch« mit dem Kollegium und wollten sich nur »lieb Kind« machen bei den Schüler_innen. Die Regeln der Schule müssten für alle gelten – »auch für einen Nihat«.

Also sitzt Nihat immer häufiger allein im Lehrerarbeitszimmer, um die Schulordnung abzuschreiben, was er aber weiterhin gelassen verweigert. Die Auseinandersetzungen zwischen Nihat und den Lehrkräften, die »hart durchgreifen wollen«, eskalieren zunehmend. Seine Fehlzeiten nehmen astronomische Ausmaße an.

Als Nihat vor der Schul-Mülltonne einen Böller zündet, wird er – eine Woche vor den Sommerferien – »abgeschult«. An der neuen Schule »könne er ja die Chance zu einem Neuanfang nutzen«. Die Schulleitung überreicht ihm ein Zeugnis, auf dem sich ausschließlich Fünfen und Sechsen oder »OBs« (ohne Bewertung) befinden und wünscht ihm viel Glück auf seinem weiteren Lebensweg.