Theater in der Schule – Theater in freien Projekten

In letzter Zeit fragen mich häufiger Leute, ob es einen Unterschied macht, mit Jugendlichen im Theater (Heimathafen) zu arbeiten – oder in der Schule.

Ich muss sagen: Ja, es macht einen großen Unterschied. Und: Nein. Es macht eigentlich keinen Unterschied.

Zu ersterem: Ja, es macht einen großen Unterschied. Weil:

1. Es gibt keine Klingel.

2. Niemand im ganzen Haus (Heimathafen) beschwert sich über die Jugendlichen. Niemand klagt, sie seien zu laut, zu unhöflich, zu »irgendwas«. Alle freuen sich, dass sie da sind.

3. Ich muss die Jugendlichen nie bewerten. Statt dessen sind sie schon jetzt – im August haben wir mit dem Projekt begonnen – Experten des konstruktiven, individuellen Feedbacks. Sie sind »strenger« und gerechter in ihren Rückmeldungen als jeder Erwachsene im Raum (und es sind viele Erwachsene im Raum – bei jeder Probe).

4. In der Schule ging es den Jugendlichen immer darum, dem Lernen auszuweichen. Sie waren extrem kreativ darin, Ausreden, Ausflüchte und Ablenkungsmanöver zu erfinden. Im Theater wollen sie besser werden, etwas lernen, Fortschritte machen. Das fordern sie selbst nachdrücklich ein.

5. In der Schule habe ich immer angeboten, dass jede/r interessierte Kollege oder Kollegin unseren Theaterunterricht besuchen kann. Es ist nie jemand gekommen. Im Heimathafen haben wir fast immer (erwachsene) Besucher.

6. In der Schule war es nicht möglich, den Unterricht zu überziehen: Die Jugendlichen wurden schon 5 Minuten vor Stunden-Ende zappelig und stürmten beim Klingelzeichen aus dem Raum. Im Theater kann ich fünf Mal die Probe beenden – sie gehen immer noch nicht. Sie wollen bleiben.

7. Wenn wir in der Schule für unsere Arbeit etwas brauchten – einen Beamer, ein Mikrofon, eine funktionierende Musikanlage, mehr Zeit – dann war es schwierig, nervig – meistens unmöglich. Vor allem aber sehr störend. Auch dann, wenn wir selbst seitenweise Förderanträge schrieben, um diese Mittel zu bekommen. Bei jedem neuen Scheinwerfer, den wir durch Preisgeld oder bewilligten Förderantrag ergattern konnten, hieß es: »Die Plath schon wieder. Die kriegt immer alles hinterher geschmissen.« Wir mussten auf Zehenspitzen herumlaufen, bitten und betteln und lächeln und »danke, vielen Dank« sagen, wenn wir die Erlaubnis erhielten, länger und intensiver zu arbeiten. Das half aber auch nichts: Eigentlich waren immer alle irgendwie verstimmt darüber, dass »wir so eine Extra-Wurst bekamen«. »Die arbeiten immer soviel. Die verderben ja die Preise!« hieß es hinter vorgehaltener Hand. Und: »Die nehmen sich aber wichtig!« Im Heimathafen ist niemand erstaunt, wenn wir nach ungezählten Stunden immer noch an der Technik basteln. Dann kommt jemand vom Haus angeschlurft und fragt: »Braucht ihr noch Hilfe?«

8. In der Schule durften unsere Theaterproduktionen nicht »zu kritisch« sein. Es gab ein großes »Empörungs-Minenfeld«. Alles mögliche durfte nicht gesagt, nicht gezeigt, nicht SO gezeigt werden. Ständig führte ich Gespräche mit den Jugendlichen, die gingen so:

Ich: Das ist super! – Aber das können wir so nicht zeigen. Dann sind xyz beleidigt. Und dann können wir einpacken.

Mehmet: Aber das will ich genau so zeigen. Sie sagen doch immer, unsere Meinung ist gefragt.

Ich: Ja, du hast vollkommen recht, Mehmet. EIGENTLICH ist das genau richtig. EIGENTLICH ist deine Szene PERFEKT. Man kriegt Gänsehaut. Man weiß, was du erzählen willst. (Pause). Aber es geht nicht.

Mehmet: Warum nicht? Sie haben doch gesagt… usw. usw.

Aber:
Nein. Es macht eigentlich keinen Unterschied ob wir im Theater sind – oder in der Schule. Denn:

1. Wer braucht in der Schule eine Klingel?

2. Wo, wenn nicht in der Schule, sollten Jugendliche willkommen sein und wertschätzend behandelt werden?

3. Wer glaubt im Ernst, dass Noten eine gerechte oder gar produktive Form der Bewertung sind? Wir reden viel von individualisiertem Lernen. Warum können wir in der Schule nicht ein individualisiertes, professionelles Feedback-Verfahren einführen, an dem wir die Jugendlichen beteiligen? Warum sollten sie nicht wissen, was es zu beobachten und zu verbessern gilt? Warum sollten sie nicht selbst lernen, individuell und transparent Feedback zu geben?

4. Jugendliche wollen nicht den ganzen Tag herumsitzen und warten, dass es endlich klingelt. Das »Zeit-Totschlagen« in der Schule bringt sie an den Rand der Verzweiflung. Denn ihr Gehirn WILL beschäftigt werden. Aber sie werden gezwungen, sich zu langweilen. Das ist schwer auszuhalten. Wenn in der Schule aber etwas passieren könnte, das sie in Bezug setzen könnten zu ihrem eigenen Leben, dann würden sie lernen WOLLEN. Jugendliche lernen die kompliziertesten Computerspiele, sie lassen sich auf die (für sie) seltsamsten Schauspielübungen ein, sie lernen seitenweise Text – sie schreiben unzählige Gedichte (oft in Form von Raps), sie interessieren sich für Technik, Medien, Kommunikation – vor allem aber interessieren sie sich für die Zukunft – und für alles, was entfernt damit zu tun haben könnte. All das könnte sehr leicht auch in der Schule statt finden. Wir sollten die Langeweile in den Schulen abschaffen und ehrlich versuchen, uns für die Zukunft zu interessieren, statt immer zu lamentieren: »Früher war mehr Lametta.« 🙂

5. Warum arbeiten in der Schule noch immer so viele Lehrkräfte als Einzelkämpfer_innen? Warum ist nicht jede Unterrichtsstunde transparent für andere? Warum haben alle Angst, sich zu zeigen? Ich weiß es natürlich: Weil »Fehler« bei uns unerbittlich als »Fehler« benannt werden und suggeriert wird, dass sie auf jeden Fall zu vermeiden sind. Deswegen haben alle Angst vor »Fehlern« und erst recht davor, dass andere sie sehen könnten. »Fehler« sind aber extrem konstruktiv. Ich selbst habe durch das Scheitern am meisten (eigentlich fast alles) gelernt. Und insbesondere deshalb, weil es eine einzige Lehrkraft (einer anderen Schule) gegeben hat, die meinen Unterricht begleitet und mir gespiegelt hat, was sie gesehen hat. In den ständigen Reflexionen über das, was im Unterricht passiert war, habe ich – mit ihr – gelernt, was ich »optimieren« kann. Als Einzelkämpferin wäre ich eingegangen. Es braucht das Feedback anderer Menschen, um die Selbstwahrnehmung an die Fremdwahrnehmung allmählich anzupassen. Jeder Mensch braucht ein liebevolles Korrektiv, um zu wachsen.

6. Derselbe Unterricht, den ich am Heimathafen mache, wäre auch in der Schule möglich. Dann würden die Jugendlichen bleiben wollen. Als erstes müsste man die Klingel abschaffen… Und zweitens… (siehe oben bei 2.!) usw.

7. In der Schule braucht es keine Konkurrenz zwischen Kolleg_innen. Es geht weder um Geld noch um Ruhm. 🙂 Es geht um einen gemeinsamen, sehr schönen Auftrag. Nämlich darum, Jugendlichen zu helfen, dahin zu finden, wo sie sein wollen. Denn dort, wo sie sein wollen, sind sie auch gut. Lehrer_innen können ganz konkret unsere Zukunft mit gestalten, indem sie Jugendlichen helfen, ihren individuellen Platz in unserer Gesellschaft zu finden. Was auch immer dafür möglich ist, sollte getan werden. Man kann gar nicht ZUVIEL machen. Auf diesem Feld gibt es gar keinen LUXUS. Es geht nicht um Eitelkeiten. Wenn alle (Erwachsenen) sich zusammen tun, statt eifersüchtig übereinander zu wachen, wer denn zu viel Aufmerksamkeit bekommen könnte, dann fühlt sich die Arbeit wesentlich sinnvoller an. Und: Natürlich kann man nicht mit jedem. Das ist in Ordnung. Aber man sollte sich Verbündete suchen. Freunde. Und die eigene Arbeit nicht wie ein Wachhund gegen die Welt abschirmen. Man kann nicht alles alleine stemmen. Wer das zu lange versucht, wird wunderlich.

8. Und ja: Kritik. Kritik kann nur der verkraften, der bei sich selbst schon ein dickes Polster an wertschätzenden, guten Erfahrungen anlegen konnte. In der Schule fühlen sich viel zu viele (junge und erwachsene!) Menschen gedemütigt, nicht gesehen, nicht gewürdigt, rumgeschubst – als »Opfer«. So kann kein »Polster« entstehen. Man müsste erstmal ein paar Wochen lang alle (zu Recht!) loben… 🙂 Erst dann kann auch (konstruktive) Kritik trainiert werden. Souverän Kritik anzunehmen ist die höchste Kunst. Das kann nicht eingefordert werden (»Als zivilisierter Mensch musst du doch Kritik einstecken können!!«). So geht es nicht. Als erstes müsste man wieder lernen, dass alle erwünscht sind, da wo sie sind, und dass wir alle im selben Boot sitzen und »Fehler« nur Umwege sind, die die Ortskenntnis erhöhen.

Im Theaterunterricht (auch, wenn der in der Schule statt findet!!!), fangen wir in der ersten Stunde damit an: Fehler gibt es nicht. Und: Jede Idee und jeder Gedanke wird gebraucht. Das wäre schon mal ein Anfang.

Genau. Insofern gibt es eigentlich keinen Unterschied zwischen den Orten Schule und Theater. Denn es geht gar nicht um den Ort. Es geht um… Siehe oben ab erstens… 🙂