Was die PISA-Studie nicht misst

Leserbrief an die ZEIT

In der letzten Ausgabe der ZEIT vom 05.12.2013 beginnt der Artikel über die PISA-Studie (S. 85) mit folgenden Sätzen: »Diese Pointe gehört an den Anfang: Dass Deutschland in der neuen PISA-Studie so viel besser als früher abschneidet, geht in erster Linie auf das Konto der Einwandererkinder.«

Ich bin Lehrerin und Theaterpädagogin und arbeite seit 10 Jahren tagtäglich an Schulen mit sogenannten »Risikoschüler_innen«, darunter auch viele sogenannte »Einwandererkinder«.

Ich frage mich: Wo genau ist hier eine Pointe?

Was genau ist überraschend oder witzig daran, dass die »Einwandererkinder« deutlich bessere PISA-Ergebnisse erzielt haben, als in der Vergangenheit?

Nachdem auch im letzten Winkel der deutschen Republik die Erkenntnis angekommen ist, dass deutsche Schulen zu viele »Risiko-Schüler« (15 bis 20 Prozent laut des letzten aktuellen Bildungsberichts) als nicht ausbildungsfähig in unsere Gesellschaft entlassen und wir uns das auf Dauer nicht leisten können, gibt es vielerorts Bemühungen, diesen Missstand zu beheben. An einigen Schulen gelingt dies inzwischen besser, an anderen noch nicht.

Dass die Ergebnisse aber insgesamt jetzt besser sind, sollte wohl selbstverständlich sein. Sie sind eine Folge dieser ersten Bemühungen. Alles andere wäre ja ein Beweis für komplette Ignoranz und Überheblichkeit unserer Schulen. Das hieße ja, dass sich niemand bemühen möchte, das nicht ganz unwichtige Bildungsproblem zu lösen. Das hieße ja: Wir wären zufrieden damit, dass 15 bis 20 Prozent aller Jugendlichen in unseren Schulen nicht mehr erreicht werden und als »nicht ausbildungsfähig« entlassen werden. Das ist natürlich absurd. Aber die ZEIT findet das Ergebnis trotzdem offenbar überraschend (…).

Jetzt haben wir also eine leichte, selbstverständliche (!) Verbesserung bei der Inklusion bisheriger Bildungsverlierer, die weder überraschend, noch witzig und schon gar keine Pointe ist.

Die ZEIT offenbart aber durch den Verweis auf eine angebliche »Pointe« genau das: Ignoranz und Überheblichkeit. Sie impliziert, dass es witzig ist, dass es »ausgerechnet die Einwandererkinder« sind, die sich verbessert haben. (Ganz ehrlich: Geht’s noch?)

Sie impliziert auch, dass dieses PISA-Ergebnis ein Beweis dafür ist, dass unsere Schulen gar nicht so chancenungerecht sind. Dass es gar kein wirkliches Problem gibt. Dass doch alles bestens läuft. Und dass Kritiker des deutschen Bildungssystems nichts anderes im Sinn haben, als »in eine Fernsehshow« zu kommen (siehe Interview mit dem Leiter des deutschen Teils der PISA-Studie, Seite 87).

Ganz kurz zur Erinnerung: Noch immer werden knapp 15 Prozent der Jugendlichen im deutschen Schulsystem nicht erreicht. Meiner Ansicht nach sind das 15 Prozent zuviel. Ich arbeite seit Jahren mit genau diesen Jugendlichen: Mit den sogenannten »Einwandererkindern« (die übrigens fast alle Deutsche sind) und mit den sogenannten »Risikoschülern«, die auf unser derzeitiges Bildungsangebot nicht ganz so motiviert und konstruktiv reagieren, wie wir uns das wünschen.

Die Ursachen dafür sind komplex. Eine wesentliche liegt darin, dass in den meisten deutschen Schulen Heterogenität noch immer als »Herausforderung« angesehen wird – statt als willkommene Zukunftsressource. Es fehlt noch immer an handfesten Konzepten in der Praxis, durch die alle Jugendlichen in ihren individuellen Stärken gefördert werden können.

Von welcher gemütlichen und realitätsfernen Position aus beobachten die Redakteure der ZEIT das Bildungs-Geschehen in Deutschland? Ich nehme an, dass sie einige vorbildliche Schulen kennen – und wenig »Einwandererkinder«.

Auf jeden Fall wissen sie nichts von der gegenwärtig bestehenden Hilflosigkeit vieler Schulen im Umgang mit sogenannten »bildungsbenachteiligten«, pubertierenden Jugendlichen: Je größer die Differenz ist zwischen dem sozialen Hintergrund des Lehrers und dem sozialen Hintergrund des Schülers, desto häufiger scheitert der Unterricht. Wir werden zukünftig aber nicht weniger, sondern mehr Jugendliche an Schulen haben, die einen anderen sozialen und kulturellen Hintergrund als ihre Lehrer mitbringen.

Lehrkräfte sind bisher nicht ausreichend geschult in der Kommunikation mit Jugendlichen aus sozial schwachen Umfeldern und/oder anderen kulturellen Kontexten. Sie wissen wenig über deren Alltag, Werte, Gewohnheiten.

Das größte Problem in unseren Schulen besteht daher weiterhin in der Kommunikation zwischen Lehrkräften und »Risikoschülern«. Denn nur durch eine gelungene Kommunikation und in der Folge über eine vertrauensvolle Bindung zwischen Lehrenden und Lernenden kann Bildung gelingen und das deutsche Bildungssystem besser werden.

Der Tonfall der ZEIT verhöhnt nicht nur die »Einwandererkinder«, sondern auch all jene Lehrkräfte, die tagtäglich mit genau diesen »Risikoschülern« arbeiten, dort ihr Bestes geben und auf Unterstützung angewiesen sind. Denn die ZEIT impliziert, dass die Kritik am deutschen Bildungssystem hysterisch und unberechtigt ist.

Mit dieser Haltung verhindern die Redakteure der ZEIT jegliche konstruktive Reflexion über die Schule. Sie suggerieren, dass all jene, die das Schulsystem kritisieren, eitle Spinner sind, die nur ins Fernsehen wollen. Statt dessen könnten die Bildungsredakteure der ZEIT einen vielfältigen, öffentlichen Dialog anregen, aus dem sich möglicherweise neue Ideen und Konzepte für die tatsächlichen Probleme in Schulen entwickeln könnten.

Mit ihrer selbstzufriedenen und blasierten Haltung aber erschweren sie die vorsichtigen Fortschritte unseres Bildungssystems, weil sie aus völlig unerfindlichen Gründen ein weiterhin bestehendes Problem der deutschen Schulen leugnen wollen. Denn: Wo kein Problem ist, muss ja auch nichts getan werden. Das aber ist unverantwortlich: 15 Prozent der Jugendlichen zu verlieren, bedeutet 15 Prozent zuviel verlieren. Nichts ist gut, so lange wir nicht alle Jugendlichen erreichen.

Die PISA-Studie mag ein »ausgefeiltes Instrument« sein, um ganz spezifische Aspekte von Unterricht zu messen. Der unverhältnismäßige Jubel der ZEIT über das PISA-Ergebnis verstellt aber in absurdem Maße den Blick auf viel wesentlichere Qualitätsmerkmale von Unterricht.

Wir stehen erst ganz am Anfang. Aber die ZEIT-Redakteure sind noch nicht einmal dort angelangt: Denn sie reden von »Einwandererkindern«, wo Lehrkräfte in ganz Deutschland schon längst von deutschen Kindern sprechen.

Vieles ist gut am deutschen Bildungssystem. Aber vieles liegt auch noch vor uns. Und (fast) nichts davon misst die PISA-Studie. Das ist die eigentliche Pointe.