Unterricht muss ein Fest sein I

Das Erstaunliche an der derzeitigen Jugendtheatergruppe am Heimathafen ist: Eine so heterogene Gruppe hatte ich noch nie. Es ist fast zum Lachen – da rede ich immer davon, wie schön das wäre, wenn man wirklich mal so (!) unterschiedliche Jugendliche in einer Gruppe hat, dass man überhaupt gar keinen Vergleichsmaßstab mehr anlegen kann – und schwupps – habe ich genau so eine Gruppe: 18 Jugendliche im Alter zwischen 12 und 24 Jahren, davon 12 Jungen, 6 Mädchen, alle mit verschiedensten sozialen und kulturellen Hintergründen. Einige sind ehemalige Schüler von mir aus Neukölln.

Plötzlich stehen sie vor mir. Strahlend. Jahrelang haben wir uns nicht gesehen. Junge hübsche Männer, ich muss mir den Tante-kommt-zu-Besuch-Satz verkneifen: Ihr seid ja „groß“ geworden! Noch immer der übliche Neuköllner Klamotten-Style und offensichtlich: das unvermeidliche, regelmäßige Training in der Muckibude…

Sie sagen: „Kennen Sie mich noch? Ich war der Schlimmste in der Klasse. Hab nur Scheiße gebaut. Sie waren die einzige, die mir gesagt hat, dass ich was kann. Weiß ich alles noch. Das Beste in der Schule war Theater. Da hab ich jetzt gedacht, ich komm mal wieder vorbei…“ Großes Hallo, große Wiedersehensfreude.

Und dann sind da die „kleinen“ Jungs. Blonde Haare fallen im Seitenscheitel ins Gesicht, adrette Kleidung, schlacksig, schüchtern, „Kann ich hier mit machen?“ „Ja, klar!“ Die kleinen Gymnasial-Jungs überwinden ziemlich schnell ihre Schüchternheit, kichern, blödeln rum, bewundern die großen Jungs aus Neukölln.

Die Mädchen – ebenfalls alle einzigartige Persönlichkeiten mit ganz unterschiedlichen Biografien. Keine sieht der anderen ähnlich, alle haben ihren eigenen Stil, Kleidung, Haare, Auftreten – extrem unterschiedlich.

Sie alle sind muslimisch oder christlich oder „nix“, die einen aus Neukölln von Sekundarschulen in der Nähe, die anderen von „voll strengen“ Gymnasien bzw. Privatschulen im Westen der Stadt, die einen haben keinen Hauptschulabschluss, die anderen sind in der Ausbildung oder bereiten sich aufs Abi vor.

In den ersten Proben merke ich, dass ich, wenn ich alle anspreche, immer ins Schlingern gerate. Wie finde ich eine Sprache, die sie alle erreicht? Mal formuliere ich zu kompliziert, mal zu einfach – aber es macht alles nichts. S. ruft lachend rein: Was benutzen Sie denn jetzt für komische Wörter, Frau Plath, was soll das denn heißen: „etablieren“?? Und ich lache und entschuldige mich.

Am Anfang beobachten sich alle noch etwas skeptisch, doch schon bald fangen sie an, Witze zu machen: Ich bin doof, ich bin aus Neukölln, ha ha… Und alle wissen, keiner hier ist doof. Jeder kann was, jeder zeigt was und die, die am Anfang glaubten, sie wären überlegen, sehen: Sie sind es nicht.

Jeder kann irgendwas besser als die anderen. Jeder kann glänzen. Jeder kriegt seinen Auftritt und die Bewunderung der anderen.
Jeder darf „anders“ sein, jeder hat Anrecht auf eine „Extra-Wurst“. B. muss immer noch einen Döner essen. Y. kann nicht so lange still sitzen, deswegen rennt er halt rum. A. möchte nicht angefasst werden. W. geht immer um viertel vor sechs nach draußen, beten.

Und die mit dem Notendurchschnitt 1,2 von der „Elite-Schule“ fängt an, von ihren Ängsten zu berichten: Ich habe immer Angst, zu versagen… Ich setze mich total unter Druck…

Und kaum gesagt, öffnen sich die anderen… Ich trau mich nicht, meine Meinung zu sagen… Ich habe Angst, dass ich wieder in die Klinik muss… Ich habe Angst, dass ich meinen Abschluss nicht schaffe… Allgemeine erleichterte Verblüffung im Raum, dass alle auf ganz unterschiedliche Weise mit denselben Problemen kämpfen.

Es ist eine völlig neue Gruppe, viele haben noch nie Theater gespielt. Die wenigen, die das „Theatrale Mischpult“ von früher schon kennen, machen mit Engelsgeduld und großer Begeisterung jedes Grundlagentraining mit. Die älteren Neuköllner Jungs sorgen bei den kleinen Jungs für Ruhe, wenn es zu wild wird… (Nix mehr von wegen „schlimmster in der Klasse“ – jetzt nehmen sie mir die Arbeit ab…!) Es wird viel gelacht und rumgealbert – und dann wieder vollste Konzentration hergestellt. 3 – 2 – 1 – Stille – Freeze.

Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich traue meinen Augen nicht. Aber ich bin ja nicht die einzige, die das sieht. Unser ganzes Team sieht es auch. Und staunt nicht schlecht. Noch nie hatten wir in so kurzer Zeit diesen satten Raum der Wertschätzung.

Wenn eine Gruppe ihre selbst erarbeitete Szene gezeigt hat, gehen im Publikum alle Finger hoch: Mein Lieblingsmoment war, als ihr alle so super unterschiedlich Psycho-Tick gemacht habt. Krass. Mein Lieblings-Moment war, als ihr im Spalier standet und synchron von rechts nach links und links nach rechts geschwankt seid. Hammer. Mein Lieblingsmoment war, als M. mit diesem fiesen Zähnegrinsen von hinten nach vorne gegangen ist und den Tod dargestellt hat, der dich abholt… usw.

Wie entsteht dieser satte Raum der Wertschätzung? Und damit bei allen der Wille zur Höchstleistung?

Ich habe immer geglaubt, dass man Unterricht, also auch eine Probe, wie ein Fest gestalten muss.

Man lädt ein und heißt seine Gäste herzlich willkommen. Jeder bekommt ein persönliches Wort, wie geht’s dir, wie ist die Sache mit deiner Klassenlehrerin ausgegangen, wie geht’s deinem Fuß, was macht deine Mutter, wie war deine Prüfung, usw.

Am Anfang stehen alle noch ein bisschen unsicher rum und hoffen, dass sie nicht alleine bleiben werden. Der Gastgeber hat den Raum gestaltet und eine Dramaturgie der Zeit vorbereitet.

Diese Dramaturgie der Zeit ist so getaktet, dass es Phasen der Ruhe und Phasen der Ausgelassenheit gibt, Phasen, in denen die Gäste sich präsentieren können und in denen sie etwas geboten bekommen. Phasen, in denen sie berührt sind, und Phasen, in denen sie sich totlachen. Phasen, in denen sie für sich sein können, und Phasen, in denen sie sich als Teil der ganzen Gruppe fühlen. Phasen, in denen sie sich anstrengen müssen, und Phasen, in denen sie albern sein können. Phasen, in denen sie feiern, und Phasen, in denen sie etwas Ernstes über die anderen erfahren.

Es ist ein Fest und am Ende will keiner so richtig nach Hause. Die Zeit ist ganz schnell vergangen und alles wirkte so, als sei alles von selbst passiert. Denn der Gastgeber weiß, dass die Party dann am besten wird, wenn die Gäste gar nicht merken, dass es jemanden gab, der sich vorher Gedanken gemacht hat:
Über den Raum, die Abläufe, den Rhythmus, die Musik, die Atmosphäre, und über jeden einzelnen Gast, der kommt – und darüber, wie genau er jedem einzelnen seiner Gäste am besten dienen kann.

Der Gastgeber ist auf alle Eventualitäten vorbereitet und hat das Fest im Vorfeld auf verschiedenste Weise im Geiste visualisiert. Der Gastgeber reagiert spontan auf das, was passiert – auf der Grundlage eines großen Repertoires an vorbereiteten Möglichkeiten – immer mit dem Ziel, die Gäste zu beflügeln und ihnen Raum zu geben.

Der Gastgeber hat alles im Blick – aber das lässt er sich nicht anmerken. Er zeigt seine Anstrengung nicht. Er macht seinen Gästen kein schlechtes Gewissen. Der gute Gastgeber möchte nicht, dass seine Arbeit zum Thema wird.

Wenn die Stimmung absackt, steuert der Gastgeber mit einem neuen Impuls dagegen. Er passt auf, dass sich niemand dumm oder missachtet fühlt.

Der Gastgeber gibt die Stimmung vor: „Heute ist alles möglich. Und ohne dich wäre dieses Fest nur halb so schön.“

Der Gastgeber macht den ersten Fleck in die Tischdecke und zerbricht das erste Glas. Der Gastgeber lebt vor, wie alle sein dürfen.

Der Gastgeber gibt jedem seiner Gäste das Gefühl, einzigartig und perfekt zu sein.

Am Ende, wenn alle nach Hause gegangen sind, räumt der Gastgeber auf. Dann ist er erschöpft – und glücklich. Denn er hat etwas unfassbar Sinnvolles getan: Er hat seinen Gästen einen Tag, einen Abend beschert, von dem alle wissen: An diesem Tag war ich glücklich.

Ich glaube, dass jegliche Form von Bildung ein Fest sein muss.

Man kann es nicht immer schaffen. So viele Jahre doktere ich schon an diesem Ideal herum und so oft habe ich es nicht geschafft. Aber ich denke, man sollte dran bleiben. Man muss tausend Mal raus gehen und tausend Mal scheitern – und tausend Mal wieder da stehen und sagen: Ich versuchs noch mal. Herzlich willkommen.

Denn schon ein einziges gelungenes Fest wärmt monatelang. Ich weiß das. Weil es manchmal tatsächlich gelingt. In letzter Zeit erstaunlich oft im Heimathafen. Aber ich weiß:

Ich habe dort auch ziemlich wunderbare Gäste…

P.S. An dieser Stelle danke ich meinem wunderbaren Team am Heimathafen und bei Mitspielgelegenheit e.V. Denn sie alle sind unfassbar versierte Gastgeber. Deshalb bin ich heute mit dieser Idee nicht mehr allein und weiß: So abstrus ist sie gar nicht. Warum klappt das nicht an allen unseren Schulen?