Abschlussbericht »Tear down this classroom«

Projekt-Titel:
»Tear down this classroom!«

Träger:
Mitspielgelegenheit e.V.

Teilnehmer_innen:
Teilnehmende waren 9 Jugendliche im Alter zwischen 15 und 19 Jahren aus dem umliegenden Kiez Neukölln und eine Teach-First-Fellow-Studentin.

Thematik:
Stell dir vor, es ist Schule – und keiner geht hin!

Warum träumt jeder (nicht nur die Schüler_innen…!) davon, dass eines Tages, eines morgens, irgendwas passiert, und die Schule ausfällt?? Warum wünscht sich jeder insgeheim die Katastrophe?

In der vierten Jugendtheater-Produktion am Heimathafen gehen wir mitten ins Herz des deutschen Bildungssystems – in den Klassenraum – und starten von dort aus unsere Recherche. 9 Jugendliche verschiedenster Kulturen aus Neukölln untersuchen den wunderlichen Kontrast zwischen dem klassischen deutschen Klassenzimmer – als stärkstem Symbol unseres Bildungssystems – und der Welt, in der sie leben und leben werden.

Sie richten den Blick auf das Komische und Widersprüchliche in ihrem Schulalltag und stellen die Frage nach dem Sinn von Schule: Worauf soll die Schule vorbereiten? In welchem Zusammenhang stehen Schule und Gesellschaft? Was hat sich verändert? Wie könnte oder sollte Schule gegenwärtig und zukünftig sein? Brauchen wir überhaupt noch das klassische Klassenzimmer? Wem nützt es und wem nicht?

Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist der so berühmte – und doch im Detail erstaunlich unbekannte – Brandbrief der Rütli-Schule. Was war da eigentlich los, und was bedeutete es?Die Jugendlichen, als Experten und Botschafter unserer Zukunft, richten ihre Aufmerksamkeit auf das, was damals in den Medien gar nicht vorkam: ihre eigene Perspektive.

Projektverlauf:

Mit anfänglich 14 Jugendlichen begannen wir unsere Projektarbeit im Heimathafen zum Thema Bildung. Keine_r von ihnen war an der Rütli-Schule gewesen, aber alle erinnerten sich gut an den Brandbrief und die folgende Berichterstattung in der Presse. Alle Jugendlichen sind und waren Schüler_innen der umliegenden »Problemschulen« in Neukölln.

Besonders deutlich wurde von Anfang an ihre Kritik an der Fokussierung der Schule auf ihre Defizite, auf das, »was wir NICHT können«.

J. (16 Jahre): »Dabei können wir sehr viel. Mehrere Sprachen sprechen, Gedichte und Lieder schreiben, singen und tanzen, neue Sachen lernen – alles mögliche!«

Ausgangspunkt unserer Arbeit waren also zunächst einmal die verschütteten Begabungen unserer Spieler_innen, die in den Proben zahlreich zum Vorschein kamen und Eingang in die Stückentwicklung fanden. Es wurden u.v.a. biografische Texte zum Thema Schule verfasst, Gedichte und andere biografisch inspirierte Liedtexte geschrieben, Musik und Sounds komponiert, szenische und bühnenbildnerische Ideen gesammelt und im Spiel erprobt.

Auf der Grundlage der theaterästhetischen Mittel entwickelten die Spieler_innen eigene Szenenentwürfe, präsentierten sich diese gegenseitig und gaben sich dabei zunehmend fundiertes Feedback, welches zu einer ständigen Professionalisierung der Ergebnisse und der szenischen Abläufe führte.

Bei der Suche nach einem zentralen Element von Schule entschieden sich die Spieler_innen für Papier und brachten dieses auf zahlreichen Bedeutungsebenen in ihr Spiel mit ein. Das Papier stellte ein wesentliches Symbol der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Schule dar und wurde von den Spieler_innen als Metapher, als Mit- und als Gegenspieler, als Mittel der Verfremdung und als ironischer Kommentar eingesetzt. Die Produktion mündete in das Verlesen persönlicher Wunsch-Briefe an die Zukunft, welche die Darsteller_innen auf dem Papier verschriftlicht hatten.

Ebenso erkannten die Spieler_innen die Bedeutung und Wirkung von Musik und Sounds für ihre Aussagen auf der Bühne und gestalteten atmosphärische »Soundteppiche«, Sound- und Sprachcollagen und Musikstücke maßgeblich selbst mit.

Die Verwendung der theaterästhetischen Mittel auf den Ebenen Theaterspiel, Bühnenbildkonzept, Kostüm und Musik waren in dieser Produktion in besonderem Maße thematisch verzahnt und von den Jugendlichen selbst entwickelt und gestaltet. Dadurch entstand ein hohes Maß an Authentizität: Die Spieler_innen hatten sich die Mittel des Theaters zu eigen gemacht, um durch einen reflektierten Umgang damit etwas sehr Persönliches von sich – mit den Mitteln der Kunst – zu erzählen.

Auffällig in diesem Prozess war die Sprachlosigkeit der Jugendlichen im Hinblick auf das Thema Bildung. Während sie zu anderen Themen zuvor (Werte, Liebe usw.) sehr viel eingebracht hatten an selbständigen Reflexionen, blieben ihre Erzählungen in dieser Produktion sehr emotional, intuitiv und persönlich. Insgesamt war ein Gefühl der Ohnmacht und der Wut dem Thema Schule gegenüber spürbar, das zum zentralen Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Auseinandersetzung wurde. Kurz gesagt: Sie wollten nicht über Bildung REDEN, sie wollten ihre Sichtweise zum Thema zum Ausdruck bringen und dies mit einer hohen Energie und Überzeugung.

Es wurde deutlich, dass jegliche Reflexionen auf der Meta-Ebene zu den Themen Bildung und Erziehung bei ihnen eine tief empfundene Abwehr erzeugten, dieselbe Abwehr, die sie auch dem Schulsystem gegenüber insgesamt empfanden. Offenbar verspürten sie bei diesem Thema einen Erwartungsdruck, der dieselben Ohnmachtsgefühle auslöste, die sie in der Schule erlebten.

Sobald sie nur von Ferne ahnten, dass es um eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Auffassungen von Pädagogik gehen sollte und ihre szenischen Darstellungen in dieser Richtung diskutiert bzw. interpretiert werden sollten, war augenblicklich ihre Motivation und ihre Kraft erloschen. Daher entschlossen wir uns ziemlich bald, unsere eigenen Erwartungen an dieses Thema zu vernachlässigen und statt dessen den Jugendlichen in ihrer unbändigen Wut und andererseits unbändigen Komik in der Darstellung des Themas zu folgen.

Eine richtige Entscheidung – wie sich herausstellte. Die Jugendlichen entwickelten eine Produktion, die sich bewusst den herrschenden Diskursen zum Thema Bildung entzog und dabei eine emotionale Wucht entfaltete, die von der taz mit folgenden Worten beschrieben wurde: »Das Stück haut einen um.« (»Bruchstücke von Wut und Enttäuschung«, Kultur-Teil der taz, 21. Mai 2014, Seite 24)

Das Publikum reagierte zutiefst emotional und beeindruckt. Den Jugendlichen gelang es, sich dem Referenz-System all jener, die sonst über Bildung referieren, zu entziehen und den Zuschauer auf eine Tour de Force in eigener Sache zu schicken. Damit bewiesen sie genau das, was wir immer schon geahnt haben: Dass es andere als die zumeist kognitiven Wege gibt, Erkenntnisse zu generieren. Was denn auch den letzten diskurs-affinen Zuschauer erreichte und ihn still weinen ließ über all das Kraftvolle und Schöne (in uns allen), das sich in unserem Schul- und Diskurs-System viel zu selten Bahn brechen kann.

Die größte Anerkennung aber erhielten die Darsteller_innen von anderen Jugendlichen: Zu jeder Vorstellung kamen sie – teilweise mehrmals – und zahlten unbeeindruckt jedes Mal den Eintritt: um das zu sehen, was sie über Schule schon immer wussten – aber nie die Möglichkeit gehabt hatten, es zu äußern. Zahlreich meldeten sie sich direkt nach den Vorstellungen, um an der nächsten Jugendtheaterproduktion im Heimathafen teilnehmen zu können.