Pädagogisierung als Grusel-Faktor in künstlerischen Prozessen mit Jugendlichen

Gestern war ich im Rahmen von »48 Stunden Neukölln« in einem bekannten Kino-Komplex am Rathaus Neukölln, um die Ergebnisse einiger kultureller Jugendprojekte in Berlin-Neukölln im Bereich Film anzuschauen. Ob dies eine Auswahl bestimmter Projekte war – oder einfach alles gezeigt wurde, was in diesem Jahr an Film-Projekten mit Neuköllner Jugendlichen erarbeitet wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Zwei Spieler (hier E. und A. genannt) von »Tear down this classroom« hatten in einem der Filme als Darsteller mitgewirkt und uns deshalb eingeladen.

Als wir ankommen, steht E. strahlend im Foyer vor den Kassen und gibt gerade einem kleinen Mädchen ein Autogramm. A. kommt kurz darauf in ebenfalls bester Laune die Rolltreppe hoch gefahren und umarmt uns zur Begrüßung – trotz Ramadan. »Wenn man keine Hintergedanken hat, ist das ok«, erklärt A. uns auf unsere überraschten Gesichter hin. Er freut sich sichtlich, dass wir gekommen sind.

Nach einigem Geplauder und Hallo gehen wir in den Kinosaal. Es ist nicht der größte – aber auch nicht der kleinste – und ich denke, dass es ein tolles Gefühl sein muss, sich als Jugendlicher auf einer großen Leinwand in einem öffentlichen Kino zu sehen. Ich freue mich und warte gespannt auf den angekündigten Film. E. sitzt neben mir und strahlt.

Zunächst einmal erscheint zu unserer Überraschung Ali Brown auf der Leinwand – in seinem Musikvideo »Steh auf«. Auch er wirkt beim Jugendtheater am Heimathafen immer mal wieder mit. Wir lachen, heben den Daumen und applaudieren. Das geht ja gut los.

Das geht aber nicht gut weiter. Was wir zu sehen bekommen, ist eine Aneinanderreihung pädagogisierender Filmchen, in denen das Ansinnen, »Migrantenkinder von der Straße weg zu kriegen und/oder sie zu besseren Menschen zu erziehen« aus jeder Pore quillt und jegliche Neugier auf die jugendlichen Darsteller im Keim erstickt.

Wir rutschen auf unseren Kinosesseln hin und her und müssen auf riesiger Leinwand mit ansehen, wie Kinder und Jugendliche unbedarfte Texte gegen »Mobbing« und »Abzocke« in die Kamera »rappen«, das Ganze zu selbst gebastelt anmutenden Bildanimationen, die an die »Sesamstraße« denken lassen. Die Kinder wirken unsicher, arbeiten sich mühsam durch ihre Texte, von denen man nicht wirklich weiß, wer da alles mit »verschlimmbessert« hat. Die Mischung aus Bildanimationen, Sounds und Texten wirkt vom Stil her seltsam unentschlossen und auf »kindlich gemacht« – dabei gleichzeitig um »Street Credibility« bemüht – aber irgendwie theoretisch, als habe da ein wohlmeinender, weißer Westeuropäer mit akademisch-pädagogischem Hintergrund seine Vorstellung von »Neuköllner Kids« abzubilden versucht.

Ein anderer »Film« besteht aus einer Reihung abfotografierter Szenen, die Erich Kästners »Emil und die Detektive« nacherzählen sollen. Die Kinder wirken darin wie von »Großmuttern herausgeputzt«, ihre Gesten und Posen seltsam gestellt, so als ob man sie aufgefordert hätte, so zu gucken und so zu spielen, dass es ihrer (Lieblings-)Grundschullehrerin gefallen könnte.

Warum kann man nicht darauf verzichten, Grundschulkinder zu verniedlichen? Warum müssen sie Stationen einer Geschichte – in offensichtlich vorgegebenen Posen – nachstellen, die wir schon hunderttausend Mal besser und professioneller in Szene gesetzt gesehen haben? Warum müssen diese Kinder in ein Setting verfrachtet werden, das sie zwangsläufig artifiziell und irgendwie hilflos aussehen lässt?

Das Publikum wird hörbar unruhiger. E. quält sich neben mir und versucht den Peinlichkeiten auf der Leinwand mit Kopfhörern und Musik seines iPhones zu entkommen. Irgendwann sitzt er vorn über gebeugt, den Kopf in den Händen vergraben und stöhnt: »Das ist so schrecklich. Das ist so schrecklich. Ich halte es nicht mehr aus.« Er spricht mir aus der Seele. Überall in den Kinoreihen werden Smartphones gezückt und getuschelt. Die anfängliche Freude und Spannung ist dahin.

Ich frage mich, nach welchem Prinzip diese Filmchen ausgesucht wurden – oder ob überhaupt jemand irgend etwas ausgesucht hat.

Mich schmerzt der Gedanke, das ein unbeteiligter Zuschauer denken könnte, dies wäre ein beispielhaftes Abbild kultureller Jugendprojekte in Berlin Neukölln. Dann würde es mich nicht mehr wundern, dass künstlerische Arbeit mit Jugendlichen so einen zweifelhaften Ruf genießt. (So nach dem Motto: »Ach so, du arbeitest gar nicht »richtig« als Künstler. Du musst dein Geld mit Jugendprojekten verdienen, weil du es als Künstler nicht geschafft hast… Ach so…«). Die ersten Zuschauer_innen verlassen den Saal.

Nach zwei Stunden geben auch wir auf und gehen. E. packt ebenfalls seine Sachen und folgt uns. A. wirft mir zum Abschied einen verzweifelten Blick zu. Der Film, der uns angekündigt wurde, ist noch immer nicht gelaufen. In Gesellschaft mit diesen anderen »Filmen« aber hat er gefühlt schon jetzt eine deutliche Wert-Minderung erfahren und man wünscht sich, er wäre von vorn herein woanders gezeigt worden. Denn zwangsläufig wächst nun der Zweifel hinsichtlich der Qualität des angekündigten Films mit E. und A., weil man sich fragen muss, wie der Film in diesen pädagogisierenden Kontext geraten ist.

Ich kann meine schlechte Laune kaum noch unterdrücken. So sehr glaube ich an die Bedeutsamkeit und den Wert von kultureller Bildung. Als Pädagogin schlägt mir von manchem Künstler ständig diese weit verbreitete Skepsis entgegen, ob Pädagogik und Kunst überhaupt zusammen zu bringen sind. Und hier erlebe ich nun mal wieder, dass es teilweise die Künstler_innen selbst sind, die gruseliger pädagogisieren, als es ein guter (!) Pädagoge jemals machen würde – geschweige denn ein Künstler, der etwas von Pädagogik versteht!

Wenn das, was wir hier heute als Abbild kultureller Arbeit mit Jugendlichen in Neukölln zu sehen bekommen, das ist, was der Durchschnittsbürger für »kulturelle Bildung« hält, dann wundert es mich überhaupt nicht mehr, warum eine Künstlerin die Arbeit mit Jugendlichen für einen beruflichen Abstieg hält. Es ist zum Verzweifeln.

Meine Kritik an dieser Form von Jugendprojekten fasse ich wie folgt zusammen:

Die Naivität und Unbedarftheit der meisten gezeigten Ergebnisse ist zwar ärgerlich, da sie nicht im Ansatz das abbildet, was Jugendliche in Wahrheit KÖNNEN, aber dieser Aspekt ist noch nicht der ärgerlichste.
Viel schlimmer ist die Haltung der anleitenden Erwachsenen, die in diesen Arbeiten so deutlich »durchschimmert«:

Warum vertraut hier keiner der Kraft und den Darstellungsideen der Kinder? Warum müssen sie in diese seltsam braven oder bemüht »großstadt-kulisse-artigen« Konzept-Schablonen gesteckt werden, von denen Erwachsene denken, dass sie kindgerecht sind? Warum muss ein kleines Mädchen mit Kopftuch unbedingt einen Rap vortragen, obwohl sie es nicht kann und kein einziges Mal im Rhythmus ist?

Kulturelle Bildung mit Jugendlichen kann einen hohen künstlerischen und gesellschaftspolitischen Wert haben. Aber dann geht es in den Prozessen um die Jugendlichen selbst und was sie denken und zum Ausdruck bringen möchten. Das darf dann auch durchaus ästhetisch anspruchsvoll sein.

Kulturelle Bildung verfolgt das Ziel, Jugendlichen eine Stimme zu geben – nicht sie zu erziehen. Der Jugendliche ist als selbständig denkender und fühlender Künstler zu sehen, dem die Mittel der Kunst transparent gemacht werden, damit er selbst seinen Ausdruck suchen und finden kann. Nur über diesen Prozess der wirklich erlebten Selbstermächtigung kann das erreicht werden, was hier offensichtlich mit platten Botschaften allzu deutlich beabsichtigt wurde: dazu beitragen, dass Jugendliche selbst denkende, verantwortungsvolle Menschen werden. Und gleichzeitig ernst zu nehmende Künstler.

Moralvorstellungen, Weltbilder und pädagogische Botschaften unter dem Deckmantel der »Kunst« den Jugendlichen unterzujubeln, hat mit Kunst nicht das Geringste zu tun. Mit professioneller Pädagogik aber übrigens auch nicht.

Warum scheint es so wahnsinnig schwer zu sein, Jugendliche ERNST ZU NEHMEN? Wahrscheinlich weil der Schritt davor oft fehlt: Wer künstlerische Projekte mit Jugendlichen anleitet, sollte sich vorweg fragen, ob er sich selbst ernst nimmt. Denn nur jemand, der ohne Eitelkeit oder Komplexe von sich selbst und seinen Ansichten ABSEHEN kann und Mut besitzt, hat die Sicht wirklich frei auf die Jugendlichen selbst – und all das, was sie darstellen und erzählen KÖNNEN und WOLLEN.

Wer kulturelle Bildung ernst nimmt, sollte sich als künstlerischer Wegbereiter jugendlicher Ansichten und Ideen verstehen, denn dann erst wird der Blick frei auf etwas Neues, etwas, was wir noch nicht gesehen und gewusst haben. Dann erst erhält kulturelle Bildung Relevanz. Und erst dann ermöglichen wir Jugendlichen die beglückende Erfahrung, dass sie sich selbst ernst nehmen können! Was wiederum die Grundlage dafür bildet, dass sie andere ernst nehmen können! Und so weiter…

Dass das kein einfacher Weg ist, weiß ich selbst. Aber es noch nicht einmal zu versuchen, ist wirklich zu wenig.

P.S. Wem ich mit dieser Kritik auf den Schlips getreten habe, weiß ich gar nicht. Ob es Künstler_innen, Pädagog_innen, Eltern waren, die diese Filme mit den Jugendlichen gemacht haben, weiß ich nicht. Es spielt auch keine Rolle. Was ich sagen möchte ist: Wir alle, die wir kulturelle Arbeit mit Jugendlichen machen, sollten versuchen, uns immer wieder zu hinterfragen: Machen wir das, was wir tun, wirklich im Interesse der Kinder und Jugendlichen, und gelingt uns das, was wir uns vornehmen, tatsächlich?

Mir geht es nicht darum, Menschen zu beleidigen oder gar zu verletzen. Schon gar nicht möchte ich neue Abgrenzungen erschaffen. Wir sitzen als Kulturschaffende alle in einem Boot. Und es wäre wichtig, uns selbst immer wieder zu befragen, warum wir diese Arbeit machen. Wer nicht die Jugendlichen selbst mit ihren Interessen als Priorität Nummer Eins ansieht, sollte vielleicht lieber etwas anderes machen. Denn diese Arbeit ist wirklich eine Herausforderung. Sie lohnt sich (noch) nicht wegen des Geldes (unverantwortlicherweise übrigens). Sondern ausschließlich wegen des Unterschiedes, den gelungene kulturelle Bildung in den Lebensentwürfen dieser Kinder und Jugendlichen machen kann. Deshalb müssen wir uns immer wieder kritisch hinterfragen. Und einiges einstecken. Und versuchen, Zynismus, Neid und verletzte Eitelkeit zu vermeiden. Es geht wirklich um etwas Größeres als um uns selbst.

Wenn kulturelle Bildung gelingt, ist sie von unschätzbarem Wert für unsere Gesellschaft – und auch für uns selbst. Es wäre toll, wenn wir anfangen würden, uns in dieser Hinsicht ernst zu nehmen… (!)