Vom Gehorsam zur Selbstverantwortung – das Mischpult-Prinzip
Maike Plath
Vom Gehorsam zur Selbstverantwortung – das Mischpult-Prinzip
Die Sache mit der Bildungsgerechtigkeit (Gastbeitrag von Tim Wiegelmann)
(Was Tim Wiegelmann schreibt und sagt, berührt mich immer wieder zutiefst und deswegen veröffentliche ich hier jetzt im Folgenden einen aktuellen Text von ihm zum Thema Bildungsgerechtigkeit. Wir sind immer wieder im Austausch miteinander und teilen eine gewisse Fassungslosigkeit darüber, wie schwer es ist, einen Funken SINN in diesem angst- und autoritär-gesteuerten System zu entfachen, das SO viele Menschen frustriert, lähmt und entfremdet. Im Angesicht der gesamten politischen und globalen Lage ist es einfach nicht zu fassen, dass sich das Hamsterrad „System Schule“ einfach immer weiter dreht – und so viele Menschen, die eigentlich den Stillstand spüren, klein macht und einschüchtert. Warum machen wir trotzdem einfach so weiter…? Wann machen wir endlich Veto – und beginnen unserem lauten Gefühl des inneren Widerstands zu vertrauen? Und es ANDERS und menschlicher zu probieren? – Ich feiere dich, lieber Tim, für dein beständiges, kluges „Sich-zu-Wort-melden“. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass deine beharrliche und relevante Stimme irgendwann explosiv auf fruchtbaren Boden fällt! Das wird passieren. DANKE dir!! – Und hier jetzt für euch der Text von Tim Wiegelmann zum Thema Bildungsgerechtigkeit):
Die Sache mit der Bildungsgerechtigkeit (Tim Wiegelmann)
Alle Politiker*innen von der CSU bis einschließlich der Linken sind sich einig: Wir brauchen Bildungsgerechtigkeit, Bildungsgerechtigkeit, Bildungsgerechtigkeit. Selbst die FDP, die unablässig für mehr „Freiheit des Marktes“ plädiert, bekennt sich zur Notwendigkeit staatlicher Bildung, ja, sie betont sogar, dass Bildung die zentrale Voraussetzung dafür sei, auf dem freien Markt sein Potential entfalten zu können.
Alle Politiker*innen von der CSU bis einschließlich der Linken erkennen, wenn auch in unterschiedlichem Grad, an, dass Kinder nicht in Armut leben dürfen. Sie alle wissen, mit welchen enormen Belastungen Kinder aus unterprivilegierten Elternhäusern zu kämpfen haben. Sei es dadurch, dass die Eltern nach einem extrem erschöpfenden 12-Stunden-Tag in einem kräftezehrenden Niedriglohnjob keine Zeit mehr für emotionale Führsorge haben, sei es dadurch, dass sie in ihrem Elternhaus emotionale oder physische Gewalt erleben. All das ist diesen Politiker*innen bewusst, sie wissen, dass diese Kinder kaum Gelegenheit hatten, ein Vertrauen in sich selbst, ihre Mitmenschen und das Leben zu gewinnen.
Und dennoch glauben sie, diese Kinder seien in der Lage, all die Angst, die mit dem, was wir Bildung nennen, einhergeht, auszuhalten. Das dramatischste ist, dass sie sogar sagen: Diese Form von „Bildung“ sei für diese Kinder der einzige Weg aus diesem Leid.
Ich bin fest davon überzeugt: Die betreffenden Kinder spüren den Druck, der auf ihnen lastet, selbst dann, wenn sie ihn nicht explizieren können. Sie spüren die Erwartungen ihrer Eltern, obgleich diese oft gar nicht aus einem autoritären Erziehungsverständnis herrühren, sondern aus der (verzweifelten) Hoffnung, diese Form der „Bildung“ werde dazu führen, dass ihre Kinder all dieses ganze Leid nicht nochmal erleben müssen und ihre Lebensrealität einmal durch fundamental andere Dinge konstituiert sein wird, als permanenter Angst, massiver Überforderung und zermürbender Erschöpfung.
Der Wesenskern unseres Bildungssystems ist Diskriminierung. Meine ersten Universitätsvorträge habe ich gehalten, als ich „nur“ über einen Hauptschulabschluss verfügte. Seit Kurzem verfüge ich zwar über einen mittleren Bildungsabschluss, aber selbst damit gelte ich noch als „bildungsfern“. Das ist das Etikett, das man mir alleine aufgrund meines schulischen Abschneidens verleiht.
Ich fasse meine persönliche Erfahrung des Schülerseins gern so zusammen: Von allem ausgeschlossen sein, von dem ich gerne ein Teil wäre und das ohne jede Angabe eines Grundes! Ohne, dass man mir jemals gesagt hätte, warum ich von allen Menschen, die bereits das tun und können, was ich einmal tun und können will, ausgeschlossen bin! Ich könnte doch so wunderbar von ihnen lernen!
Man könnte es auch anders sagen: Bildung bedeutet, dass mir ein Staat, der mich überhaupt nicht kennt, sagt: Du bist noch nicht reif für diese Welt. Aber, sei dankbar, denn ich sage dir, was du noch alles erbringen musst, um meine Kriterien von Reife zu erfüllen (das Abitur heißt ja tatsächlich „Matura“, also „Reifezeugnis“). Ich muss dem Staat also zeigen, dass ich „reif“ genug bin, mit dem Ziel, endlich einen Zugang zu all den großartigen Menschen, Dingen und Ideen zu bekommen, die für mich das Leben zu dem machen, was es ist, die meine Welt überhaupt erst bunt werden lassen.
Bildung bedeutet für mich, dem Staat zeigen zu müssen, dass ich gut genug bin, um in der Welt einen Platz zu finden, um an all dem teilhaben zu dürfen, was diese Welt Wunderbares bereithält. Das alles schenkt mir der Staat nicht deshalb, weil ich ein Mensch bin, auch nicht, weil ich prosozial etwas zur Welt beitragen möchte, nein, das alles ist dem Staat egal, er schenkt mir diese Teilhabe nur, weil ich seine Kriterien von „Reife“ erfülle.
Diese Kriterien erfülle ich dann, wenn es mir gelingt, unendlich viel vorgeschriebenes, oft zusammenhangloses Wissen zu akkumulieren und das dann in Prüfungssituationen, oft unter Angst, wieder abzurufen.
Diese Diskriminierung können wir uns als jene demokratische Gesellschaft, die wir uns zu sein verpflichtet haben, nicht mehr leisten.
Wie soll ich einem Staat, der mich all das Bunte in dieser Welt nicht als bunt erleben lässt, weil er mir die Möglichkeit nimmt, es mit meinen eigenen Farben zu bereichern, vertrauen? Und wie soll ich diesen Staat mitgestalten wollen?
Lea De Gregorios zutiefst bewegendes Buch „Unter Verrückten sagt man du“ erzählt von den Stigmata, die psychiatrische Diagnosen mit sich bringen. Ich kann das, was mich an dem Buch bis in die Tiefe meines Seins berührt, schwer in Worte fassen. Am ehesten würde ich es beschreiben mit: Leid ist zu groß, zu überwältigend, zu vielfältig, zu multidimensional für jede Kategorie. Ich habe das Buch erst vor ein paar Tagen zu Ende gelesen, doch schon jetzt bin ich zu der Überzeugung gelangt: Es ermöglicht eine so radikal neue Sicht auf menschliches Leid, dass man sie nie wieder vergessen kann, wenn man sie einmal in seiner Tiefe verstanden hat.
Ich werde den Gedanken nicht los, dass es so ein Buch auch ganz dringend über Bildung geben muss: Ein Buch, dass von dem großen Stigma erzählt, was es bedeutet für „bildungsfern“ gehalten zu werden. Aber dieses Buch wird, anders als die meisten anderen, nicht mit der Aufforderung enden, dass wir mehr Menschen das ermöglichen, oder sagen wir besser zumuten, müssen, was wir heute für „Bildung“ halten. Nein, dieses Buch wird mit der Aufforderung enden, unsere paternalistischen Ideen, dass es überhaupt so etwas wie einen „Bildungsstand“ gibt, hinter uns zu lassen. Das wäre so ein wichtiger Baustein zu einer vorurteilsfreien Welt, weil wir so viele Vorurteile dann erst gar nicht lernen würden!
Tim Wiegelmann
„Ich bin Tim, 20 Jahre alt. Aufgrund meiner Körperbehinderung konnte ich nochmal aus einer ganz anderen Perspektive erleben, was es bedeutet, in einem System zu sein, in dem die meisten Schüler*innen die Erfahrung machen, dass sie als Person nicht zählen. Doch vor allen Dingen wurde mir klar, dass „behindert sein“ oft nur „behindert werden“ ist. Deswegen möchte ich nun nicht mehr leise sein!“
Und in eigener Sache – weil grad all diese Dinge immer schwieriger werden und in Gefahr sind:
ACT unterstützen – Dein Beitrag zu konstruktiven Lösungen für unsere Zeit
Das Problem: Unser Bildungssystem reagiert unzureichend auf aktuelle Herausforderungen. Selbst innovative Schulen folgen oft nur Vorgaben, anstatt Kreativität und Verantwortungsübernahme zu fördern. Dies führt zu einem zunehmenden Fachkräftemangel und einer Demokratieskepsis von jungen Menschen in Deutschland.
Unser Ansatz: ACT initiiert mit dem ACT_Lab in Berlin-Neukölln ein Labor für die Zukunft. Es ist ein selbstverwalteter Raum für soziale Innovation, in dem junge Menschen lernen, ihre Ideen selbstgesteuert umzusetzen. Das Veto-Prinzip, entwickelt von Maike Plath, dient dabei als revolutionärer Ansatz für demokratische Führung und Lernprozess-Design.
Unsere bisherigen Erfolge:• Insgesamt haben wir bereits 225 Projekte mit 5.176 Kindern und Jugendlichen verwirklicht. • Der Verein wurde mehrfach mit dem Qualitätssiegel Werkstatt N des Rates für Nachhaltige Entwicklung ausgezeichnet und ist Preisträger des Wettbewerbs «Aktiv für Demokratie und Toleranz».• Zusammenarbeit mit Castingagenturen und Filmproduktionsfirmen zur Sichtbarkeit von Talenten aus Neukölln.• Entwicklung und Umsetzung eigener Businessideen von jungen Menschen aus Neukölln.• Regelmäßige Aktionen für den sozialen Zusammenhalt im Kiez und aktive Mitarbeit bei Initiativen wie „Offenes Neukölln“ und dem „Demokratietag Berlin“.
Was findet aktuell im ACT_Lab statt?– Projekt „Spot on“: 45 Junge Menschen aus Berlin-Neukölln im Alter von 12-21 Jahren arbeiten zum Thema „Streitkultur“ vor dem Hintergrund aktueller Konflikte in ihrem Leben und in der Welt (z.B. Nahostkonflikt). (Di / DO – Gruppenarbeit, Mo / Mi / Fr –Künstlerische Arbeit nach Absprache mit kleineren Gruppen.- Entwicklung neuer Projektideen im Bereich Medienkompetenz.- Ausbildung von 10 jungen Akteur*innen, die selbst Verantwortung für Gruppen übernehmen und eigene Projekte auf die Beine stellen.
Was wir brauchen: Trotz 18 Jahren Erfahrung und hohem Engagement bei der Akquise von Spenden und Fördermitteln, fehlen uns aktuell 50.000€, um unsere Arbeit fortzuführen. Wir suchen Privatpersonen, Stiftungen und Unternehmen, die unsere Initiative unterstützen. Spenden an ACT e.V. sind steuerlich absetzbar, mit professioneller Verwaltung und automatischer Zusendung der Bescheinigungen.
Hilf uns, die Zukunft zu gestalten und Geschichten, wie die von Serhat zu ermöglichen:
Er wurde in der Schule nur als störend wahrgenommen. Er hatte innerhalb seiner Schullaufbahn 7 Klassenkonferenzen. Er hat 5 Jahre mit uns Theater gespielt. Als er einmal alte Filmaufnahmen von sich mit 12 Jahren bei der Probe sieht, schüttelt er nur den Kopf und fragt: «Wie habt ihr mich bloß ausgehalten?» Später hat er seine Ausbildung zum Krankenpfleger mit der Note 1 abgeschlossen. Mittlerweile arbeitet er am Berliner Flughafen und ist ein hochgeschätzter Mitarbeiter mit interkultureller Kompetenz. Eine Gabe, um die ihn viele Kollegen beneiden.
Kontakt: Sie wollen uns unterstützen oder haben Fragen: Dann setzen Sie sich gerne direkt mit uns in Verbindung: Anna Maria Weber a.m.weber@act-berlin.de, 0163-3128314