»Living in translation« II

Nachdem nun fünf Vorstellungen von „Living in translation“ erfolgreich gelaufen sind und wir alle zusammen unsere Abschiedsfeier im Hof des Café Rix gefeiert haben, bei der alle unsere SpielerInnen strahlten wie die Weihnachtsbäume, ist nun eine kleine Reflexion darüber angebracht, was hier denn eigentlich erreicht wurde – und was nicht.

Ich habe in dieser Arbeit mehr als jemals zuvor versucht, ganz bewusst an der Problem-Schnittstelle jeglicher kultureller Bildung zu bleiben und mich für genau das immer wieder neu zu sensibilisieren, was mir als der zentrale Punkt dieser Arbeit erscheint: die Frage nach der Partizipation im künstlerischen Prozess.

Wie kann Partizipation tatsächlich statt finden – wenn man das wirklich ernst nimmt? Um einen anschaulichen Einstieg zu wählen, erläutere ich im Folgenden einen (!) Gedankenstrang unter vielen anderen der Stückentwicklung als Beispiel:

Ein Spieler hat während der gesamten Zeit an einer „Gangster-Geschichte“ festgehalten, die er auf der Bühne erzählen wollte. Als er seine Gedanken zum ersten Mal äußerte, dachte ich: „Oh weih – hier reiht sich ja ein Klischee ans Nächste – das können wir so nicht erzählen. Das klingt wie in einem schlechten Gangster-Film und wurde so schon tausendfach erzählt. Das geht nicht.“ Aber schon gleich zu Beginn unserer Auseinandersetzung musste ich feststellen, dass meine „Bewertung“ seiner Erzählung hier zu kurz griff: Als ich ihn darauf hinwies, dass seine Geschichte eine Zitate-Sammlung aus verschiedenen Mafia-Filmen darstellte, schaute er mich erstaunt an und es stellte sich heraus, dass er keinen dieser Filme kannte. (Wer also zitiert hier wen?) Er war ernsthaft davon überzeugt, dass er selbst sich das alles ausgedacht habe und es sich um eine Art Genie-Streich handelte. Seine Begeisterung und Überzeugung waren so stark, dass ich unsicher wurde, ob meine beurteilende Sicht hier nicht fehl am Platze sei, vielleicht sogar schädlich. Denn wie sollte ich nun reagieren, ohne ihm seine geradezu überbordende Freude an der Arbeit zu nehmen?

Ich sehe, dass ein künstlerischer Prozess nur dann ein partizipativer sein kann, wenn er auf eine belehrende Haltung seitens der Spielleitung verzichtet. Je mehr ich mich dazu hinreißen lasse, die Beiträge der SpielerInnen zu bewerten und zu beurteilen, desto mehr beschneide ich sie in ihrem Gestaltungswillen und somit auch in ihrer Gestaltungsfähigkeit. Dennoch fühle ich die Verantwortung, sie auf der Bühne nicht auszustellen und sie daher für eine mögliche Zuschauer-Rezeption zu sensibilisieren.

Das kann aber nicht aus einer überheblichen Haltung geschehen, a la „Deine Geschichte wird von den Zuschauern nicht ernst genommen werden, weil sie als Klischee wahr genommen wird“. Besagter Spieler wird mir nicht glauben. Das kann er auch nicht, weil er nicht über dieselben Erfahrungen verfügt wie ich. Entweder wird er sich zurück ziehen und keine neuen Ideen mehr äußern – aus Angst, dass sie bewertet und abgelehnt werden – oder er folgt anschließend relativ kritiklos meinen Vorgaben, weil er glaubt, dass ich es besser weiß. Beides ist einem partizipativen Prozess natürlich wenig zuträglich.

Ich sehe also meine Aufgabe darin, meinen Spieler besser zu verstehen und herauszufinden, was hinter seiner emotionalen Bindung an die Gangster-Geschichte steckt.

In vielen szenischen Umsetzungs-Versuchen und ständigen Gesprächen darüber, die bis zur Probenwoche vor der Premiere andauerten, glaube ich, folgendes heraus gefunden zu haben:

Beim besagten Spieler besteht eine Frustration darüber, dass er nach seinem Hauptschulabschluss nur „langweilige Sachen“ machen darf, die ihn nicht erfüllen. So brach er mehrere Ausbildungen ab, weil er das Gefühl hat, dass sie seinem Gestaltungswillen überhaupt nicht entsprechen. Er möchte etwas Bedeutsames tun, bei dem auch die Aussicht auf Anerkennung und Erfolg besteht. Aus seiner Lebensperspektive heraus fokussiert er – wie alle Pubertierenden – auf Idole und Vorbilder, die in seinem Blickfeld vorkommen. Das sind in diesem Fall berühmte Rapper bzw. einflussreiche „Gangster“. Aus seinem Erfahrungs-Hintergrund ist das logisch, denn wie sollte er auf Vorbilder wie Willy Brandt, Mutter Theresa oder Einstein kommen, wenn sie in seinem Leben keine Rolle spielen?

Ich fing also an, mich mit ihm über Vorbilder auseinandersetzen und was diese ausmacht. Darüber kamen wir zusammen zu der Erkenntnis, dass Menschen dann als Vorbilder gelten können, wenn sie über ihre eigenen, egoistischen Interessen hinaus denken und sich für andere bzw. für ein größeres Anliegen einsetzen. Da es in unserer Produktion explizit um Werte ging, war dieser Schritt für den Spieler absolut einleuchtend, denn er konnte seine eigenen Werte deutlich benennen: Ehre, Verantwortungsbewusstsein, Selbstlosigkeit, Mut usw. Auf die Fragen: Wo brauchen wir den Vorbilder? Brauchen wir sie überhaupt?, kam der Spieler sofort auf gesellschaftliche Missstände zu sprechen, zum Beispiel auf die ungerechte Verteilung von Wohlstand in unserer Gesellschaft. So verwandelte sich seine Gangster-Figur in eine Art modernen Robin Hood, der „seinen Freunden helfen wollte, zu mehr Wohlstand zu gelangen“. Auf meine Frage, ob er selbst sich denn als „arm“ bezeichnen würde, verneinte er lachend und zählte sämtliche technische Geräte auf, die er besaß und betonte, dass es ihm an nichts mangelte. „Ne, ich bin doch nicht arm, Frau Plath!“ Also bohrte ich weiter, wo er denn dann diese Ungerechtigkeit ausmache, wenn nicht beim Geld. Und da kam der Aspekt der Teilhabe dann erneut zum Vorschein: Der Spieler äußerte, dass er sich nicht sicher sei, ob er in Deutschland eine Chance haben würde, ein „spannendes, gutes Leben“ zu führen. Irgendwie habe er das Gefühl, dass es schwer werden würde, wirklich „mitmachen“ zu können, etwas mitgestalten zu können, „jemand zu sein“, also jemand, vor dem andere Respekt haben.

Es ging also gar nicht um Wohlstand in erster Linie, sondern um Teilhabe. „Und wenn ich nur langweilige Sachen machen darf, dann werde ich lieber ein Gangster, der sich wie Robin Hood für eine große Sache einsetzt und darüber Anerkennung erfährt. Egal, ob ich dann das Gesetz breche.“

Die „große Sache“ definierte er so, dass man den anderen dabei helfen müsste, ihre wahren Zukunftsträume erreichen zu können, damit auch sie „ein bedeutsames Leben führen könnten“ und nicht ein langweiliges, bei dem man sich immer anderen oder irgendwelchen äußeren Zwängen (wie zum Beispiel dem Jobcenter) unterordnen müsste.

Mit dieser erweiterten und reflektierten Gangster-Figur traf er den Nerv der gesamten Gruppe. Daher war nun das Feld unserer inhaltlichen Auseinandersetzung definiert: Wo ist meine Angst, in dieser Gesellschaft zu scheitern und bedeutungslos zu bleiben und was sind demgegenüber meine wahren Zukunftsträume? Traue ich mir zu, diese zu verfolgen, oder gebe ich schon vorher auf, weil ich mich hilflos fühle? Bleibe ich in diesem Ohnmachtsgefühl oder versuche ich mich zu befreien? Und wie ist diese Befreiung möglich? Wo beginnt sie? Im Kopf? Oder/und im Handeln? Und welche Rolle spielt dabei das Konzept des „guten Menschen“ (Werte)? Kann ich mich nur befreien, wenn ich Gesetze breche? Sind unsere Gesetze gerecht?
Auf diese Weise wurde die zunächst völlig abstrus erscheinende Gangster-Geschichte zur Folie für eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit der Frage nach der Teilhabe an unserer zukünftigen Gesellschaft.

Um dem Zuschauer die Möglichkeit zu geben, diese Reise nachvollziehen zu können, ließ ich die klischeehafte Gangster-Geschichte in ihren archaischen Bildern bestehen, obwohl ich wusste, dass ich dabei folgendes Risiko einging: Ein unwilliger Zuschauer könnte die Neuköllner Jugendlichen nun wieder auf dieses Klischee reduzieren. Andererseits glaube ich nach dieser Arbeit: Wer diesen Jugendlichen nicht auf halber Strecke entgegen kommen will, indem er sich für ihre Projektionen und Gedankenwelten interessiert und bereit ist, darin mehr zu erkennen als das Offensichtliche, der wird es sowieso nicht tun. Auch dann nicht, wenn die theatralen Zeichen von jeglichem Klischee bereinigt und auf das kulturelle Verständnis eines Bildungsbürgers oder Künstlers zugeschnitten sind.

Und abschließend: Das Klischee der Gangster-Geschichte war zwar der Ausgangspunkt und die inhaltliche Folie. Aber die Auseinandersetzung selbst erfolgte dann über unzählige Fragen der künstlerischen Form und über Ausdrucksmöglichkeiten, die die Jugendlichen selbst erprobten und auf ihre Wirkung hin untersuchten und hinterfragten (was wollen wir eigentlich erzählen und wie müssen wir es erzählen, damit ein Zuschauer eine Ahnung davon bekommt, was wir meinen??) Dabei hielten sie eine Vielzahl an Irritationen aus und bewegten sich weit über ihren bisherigen Gedanken-Horizont und ihre bisherige Vorstellung von „Theater“ hinaus. So wage ich abschließend zu behaupten, dass diese SpielerInnen in ihrem Bedürfnis, ihre eigene Welt einem Zuschauer bekannt und vertraut zu machen (zum Zuschauer „über zu setzen“), 80 Prozent des Weges gegangen sind. Die letzten 20 Prozent muss der Zuschauer selbst gehen. Wenn er ihnen begegnen will.