Podium »Fokus Schultheater« auf dem Theatertreffen der Jugend 2013

»Was ist im Theaterunterricht an Schulen machbar? Und: Was hat das Theatertreffen der Jugend mit Schulentwicklung zu tun?«
von Maike Plath

Für die Auswahl der Theaterproduktionen beim Theatertreffen der Jugend Berlin ist es ein wichtiges Kriterium, dass die Jugendlichen in ihrer Arbeit Fragen an die Welt stellen und ein kritisches Bewusstsein sichtbar machen.

Die dafür notwendige Geisteshaltung wird in unserem derzeitigen Schulsystem, das sich zu einem System der Antworten entwickelt hat, nicht unbedingt begünstigt.

Bei der Frage nach der Machbarkeit von Schultheater-Formaten für das Theatertreffen der Jugend geht es meiner Ansicht nach weniger um rein äußere, strukturelle Bedingungen des Theaterunterrichts an Schulen, sondern vielmehr um eine Bewusstwerdung des Auftrages und des Potenzials des Faches Theater.

Nach 17 Jahren Berufserfahrung in verschiedenen Schulen glaube ich, dass sich die Theaterarbeit mit Jugendlichen als Gegenentwurf zum System Schule definieren muss, um an Kraft, an Glanz und an Bedeutsamkeit zu gewinnen – und um in der Konsequenz sowohl einen Platz auf dem Theatertreffen der Jugend zu haben als auch einen essentiellen Anstoß zur allgemeinen Schulentwicklung zu geben.

Diese These möchte ich im Folgenden begründen:

Eine der wichtigsten Aufgaben von Bildung ist es, Jugendliche zu einem kritischen Bewusstsein zu befähigen. Die Fähigkeit beispielsweise, Fakten von Meinungen zu unterscheiden, wird unverzichtbar in einer zunehmend fragmentarisierten und digitalisierten Lebenswelt, in der eindeutige Bedeutungs-Zuschreibungen unmöglich sind.

In einer Zeit, in der Wissen jedem und überall zugänglich ist, wird nicht die Anhäufung von Wissen zur Zukunfts-Resource, sondern der bewusste und kritische Umgang mit der Flut an Informationen und vermeintlichen Fakten.

Das derzeitige Schulsystem entwickelt sich aber seit der ersten Pisa-Studie zunehmend zu einem System, in dem es um die Quantität der Antworten geht, nicht aber um die Qualität der Frage.

Das Bestreben, Bildung messbar zu machen, hat zu einer fatalen Begrenzung und Verengung des Bildungsbegriffes geführt.

Kaum ein Jugendlicher lernt »fürs Leben« sondern immer nur für eine Note. Die Fixierung auf Bewertung aller Lernleistungen hat den stärksten Anreiz zum Lernen im Keim erstickt: die natürliche Neugier und die Lust an neuer Erkenntnis um ihrer selbst willen – das intrinsische Lernen.

Statt dessen werden Daten und Fakten ins Kurzzeit-Gedächtnis »gepaukt« und in Tests und anderen Lernleistungskontrollen wieder »ausgespuckt« – um anschließend vergessen zu werden (Bulimie-Lernen).
Das Gelernte wird nicht hinterfragt, nicht in der Tiefe verankert bzw. mit der Welt oder dem eigenen Ich in Beziehung gesetzt. Es bleibt bedeutungslos.

Der Theaterunterricht an Schulen behauptet von sich, anders zu sein, schwimmt aber in den bildungs-verkürzenden Schulstrukturen zunehmend mit. Im Unterrichtsfach »Darstellendes Spiel« werden den Jugendlichen theatrale Formen beigebracht. Hier liegt der Schwerpunkt inzwischen mehr auf der Vermittlung bestehenden Wissens als auf der Ermutigung zum kreativen bzw. kritischen Umgang mit der Kunstform Theater. Das Fach Theater ist eher Inhalt und weniger Mittel zur Befragung von Welt.

Schon in der Ausbildung der TheaterlehrerInnen (und TheaterpädagogInnen) fehlt eine Philosophie der Befreiung, eine Theorie und eine Geisteshaltung, die sich gegen (!) die Affirmationen durch Kunst und Gesellschaft stellt. Ein solcher Ansatz wird in der Ausbildung meistens zugunsten pragmatischer Spieltechniken vernachlässigt.

Das Prinzip künstlerischer Arbeit aber ist das Stellen von Fragen.

Wenn Theater-Unterricht mit Jugendlichen statt findet, liegt genau in diesem Umstand seine Qualität: Nur hier kann das allseits herrschende Prinzip der Quantität der Antworten durchbrochen und tatsächliche, selbstwirksame Bildung wieder möglich gemacht werden. Allerdings nur dann, wenn sich der Theaterunterricht als Gegenentwurf zum System Schule definiert und sich als solcher im Kontext Schule selbstbewusst positioniert.

Der Theaterunterricht sollte sich als die Medizin verstehen, die der Patient Schule dringend braucht, um zu gesunden. Je selbstbewusster diese Haltung vertreten wird, desto kraftvoller und somit erfolgreicher wird der Theaterunterricht, desto offensichtlicher wird sein Potenzial. Im besten Falle führt das dazu, dass der Patient Schule nach mehr von dieser Medizin verlangt – dass der große, schwere Tanker Schule seine Richtung ändert und das Prinzip einer fragenden Haltung zur Welt wieder mehr begünstigt.

Denn: Lernen ist nicht das Fressen fremden Wissens, sondern die Wahrnehmung der eigenen Lebenssituation als Problem. Die Lösung dieses Problems sind Reflexion und Aktion. Lehren ist entsprechend nicht programmieren, sondern problematisieren, nicht das Lernen von Antworten, sondern das Aufwerfen von Fragen.

Der Theaterlehrer trägt keinen Koffer voll Wissen in sich, um das Wissen an jene zu verteilen, die noch nichts bekommen haben. Vielmehr ist der Theaterlehrer in einem ständigen Entwicklungsprozess mit seinen Spielern. Darum darf der Lehrplan nicht vorgegeben sein, sondern er muss vom Lehrer und von den Schülern gemeinsam gemacht werden. Denn Bildung ist ein Erkenntnis-Akt.

Aber daran hat die Schulbürokratie derzeit offenbar wenig Interesse. Sie wollen, dass Schüler Antwortgeber sind und nicht Fragesteller, sie wollen Schüler, die keine Skeptiker sind und keine Experimente machen. (Nicht anders lassen sich G8, Standardisierung von Lerninhalten und insgesamt der Trend zur Ökonomisierung von Bildung interpretieren!) Das ist die herrschende Pädagogik, gegen die sich die Theaterpädagogik stellen muss.

Und wo kommt sie dann hin? – Na, an den Anfang, an die unerledigten Geschichten.

An die Zeit, in der Sokrates vor allem eines lehrte, Fragen zu stellen, radikales Denken, als er mit Euripides über den Marktplatz ging, Euripides, der erste griechische Dramatiker, der sich von den Göttern loslöste und eines ins Zentrum all seiner Stücke stellte – etwas, das uns bis heute beschäftigt, ohne das wir gar nicht leben können: Die Konflikte zwischen Menschen. Werden sie benannt, können sie produktiv sein, werden sie groß, werden sie uns zerstören.

In diesem Sinne muss Theaterarbeit mit Jugendlichen sich als Gegenentwurf zur Schule und in der Konsequenz als ihre heilende Medizin definieren.

Theaterunterricht in seiner fragenden Haltung zur Welt könnte einen Anstoß geben für eine zukunftsfähigere Schule.

Das Theatertreffen der Jugend ist ein Podium für kritisches Denken und für das Stellen von Fragen. Je mehr Lehrkräfte diesen Auftrag erkennen und den Mut entwickeln, ihre Schüler zu Fragestellern in der Kunst zu machen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie hier eine Bühne bekommen. Es geht hier um das Einnehmen einer anderen Perspektive und um eine klare Positionierung des theaterpädagogischen Auftrags. Nicht mehr und nicht weniger.