Gedanken zum Sinn meiner Arbeit

Gestern war ein Tag, an dem ich mir wieder mal Gedanken darüber machen konnte, was denn der Sinn meiner Arbeit ist. 🙂 Man müsste natürlich vorweg die Frage stellen, was mit „Sinn“ gemeint ist. Ich versuch’s…


Nach der Schule fahre ich wie immer Montags nach Neukölln zum Heimathafen und treffe mich zunächst mit W. und Z. im Dönerladen „Beirut Express“ in der Karl-Marx-Straße, drei Schritte vom Theater entfernt. Dort finden sich dann mit der Zeit auch meine Spieler und SpielerInnen ein, oft mit Anhang. Auf diese Weise rutschen wir immer sanft in die Arbeit hinein: Erstmal hören, was alles so passiert ist inzwischen und was für Ideen die Woche so gebracht hat.

D. erscheint bester Laune mit seinem Kumpel und berichtet von seinen Schauspieler-Plänen. Er dreht gerade mit einem anderen Kumpel einen Film – „der hat das volle Eqipment, Frau Plath, und wir machen alles selber, die ganze Geschichte und alles, ich erzähl ma…“. Er erzählt einen halsbrecherischen Plot und fragt alle paar Minuten fürsorglich nach: „Das verstehen Sie doch, oder? Is klar, oder?“ Wir nicken. Ich denke mir, wer weiß: Er könnte Drehbüchern wie „Burn after reading“ ernsthaft Konkurrenz machen. Sein Kumpel, der neben ihm sitzt, bleibt die ganze Zeit über stumm und staunt. Wir sitzen draußen direkt auf dem Bürgersteig der Karl-Marx-Straße vor dem Döner, die Sonne scheint, es ist (endlich) Frühling, auf der Straße hektisches Chaos wie immer, Auto-Lärm, Gehupe, Gebrülle – dazu D.s Stimme und ein begeisterter Plan von der nahen Zukunft. D. spielt an mehreren kleinen Theatern in Neukölln und Kreuzberg, in einem der Stücke muss er mit den anderen fünf SpielerInnen auf der Bühne masturbieren (wer da Angst hat, dass er peinlich ist, hat da nix zu suchen, Frau Plath), und für später hat D. die Ernst-Busch-Schauspielschule ins Auge gefasst. – Was auch immer kommt, dieser Optimismus ist auf jeden Fall schon mal ein Geschenk. Wie immer nähern wir uns im Gespräch irgendwann der bevorstehenden Probe, wer heute kommt, welchen Streit es gab, ob man sich vertragen wird und was heute so anliegt. Z. und ich versuchen D. zu überzeugen, dass man lange Freundschaften nicht einfach so aufgeben soll, nur weil man feststellt, dass der andere so seine Schwächen hat. D. ist aber noch wahnsinnig enttäuscht von P.s Verhalten und sieht gar nicht ein, warum er da jetzt großzügig sein soll. „Ne, Frau Plath, ich will vertraun, und da kann ich nicht mehr vertraun. Das is dann keine echte Freundschaft. Sie entschuldigt sich auch nicht. Ich hab’s ja versucht, aber ne. Das ist jetzt vorbei mit Freundschaft.“ Er sieht meinen Blick und schenkt mir ein beruhigendes Lächeln: „Sie müssen keine Angst haben – ich bin professionell und ich spiel ganz normal mit ihr – ich weiß ja: Theaterfamilie… Wir machen das schon. Aber Freundschaft ist vorbei.“ Er denkt kurz nach. „Oder sie muss sich echt entschuldigen. – Aber das macht sie ja nich“. Mein Plan, P. den Tipp zu geben, dass eine Entschuldigung vielleicht Wunder wirken könnte, scheitert eine halbe Stunde später an P.s heutiger Laune: Sehr sehr schlecht. P. ist heute wütend auf die ganze Welt und am meisten auf sich selbst, was jegliche Milde mit anderen unmöglich macht. Flunsch, bissige Worte, verschränkte Arme – aus. Aber meine SpielerInnen haben es heute auch nicht leicht. Es dauert über eine Stunde, bis wir „richtig“ anfangen können, weil einer nach dem anderen eintrudelt und wir immer wieder von vorne besprechen müssen, was wir nun machen können: „Wir fangen mit der Matrix-Szene an. Ach, ne – das geht ja nicht, weil H. und T. vor zwei Wochen ausgestiegen sind und H. und S. noch nicht da sind. Also, dann gehen wir mal den Text durch. Ach ne, das geht ja auch nicht, weil wir gar nicht wissen, ob S. überhaupt noch dabei ist. Gut, dann machen wir jetzt die Szene mit R. Als wir gerade alles soweit geklärt haben, kommt S. Also doch nochmal alles mit S. „Ich frage S.: „Bist du denn jetzt ganz sicher dabei? Du weißt, dass wir dich dann wirklich brauchen bei diesen letzten Proben…“ S. lächelt leise und nickt, „Doch, ich bin jetzt immer da, Frau Plath“. Das geht jede Woche so. Das ganze Jahr. Jemand steht strahlend vor mir, nickt, verspricht mit aller Glaubwürdigkeit dieser Welt „Ich komme jetzt immer. Versprochen.“ und fehlt dann erstmal die nächsten vier Wochen. Jede Woche sind andere SpielerInnen da. Nur D., P. und drei andere SpielerInnen sind jeden Montag in aller Treue am Start. Aber gerade für sie ist die Situation besonders nervenzehrend, weil wir im Grunde jede Woche wieder neu beginnen müssen. Jammern, schimpfen, Vorwürfe machen nützt gar nichts. Ganz im Gegenteil: Wenn ich die Begründungen für das Fehlen höre, bin ich beschämt. Wenn ich all das erleben würde, käme ich wahrscheinlich morgens gar nicht aus dem Bett. Was also tun? – Ich arbeite daran: Heiter, gelassen und optimistisch bleiben. Sich freuen, dass sie überhaupt immer wieder den Weg hierhin finden und dann alles geben, um dabei zu sein. Sie wollen unbedingt. Sie zeigen sich, sie strahlen. Sie erzählen von sich und verblüffen. Es gibt Momente, da denke ich: Was kann man Sinnvolleres machen als dies? Einen Schritt nach dem anderen machen und nie wissen, was hinter der nächsten Ecke ist. Und plötzlich wieder so einen Moment erleben, indem man denkt: Das ist jetzt ein kleines Wunder. Und ich habe es gesehen.

Zu diesem Thema: Text zur Auswahl der Jury zur Produktion des Theater o.N., „Hell erzählen“, die zum diesjährigen Theatertreffen der Jugend Berlin eingeladen wurde: „Ich kenn’ böse und gute Menschen. Ich kenn’ Ghettos und Nobelviertel. Ich kenn Liebe und Hass.“ (Needy) Wie ist es im Stadtteil Hellersdorf? – „Vielleicht nicht der schlimmste Bezirk, aber schon Ghetto, – dezent asozial halt.“ (Jass, 15 Jahre) Kulturelle Bildung ist ein Muss. „In Deutschland wachsen fast vier Millionen Kinder unter 18 Jahren, also mehr als ein Viertel dieser Altersgruppe, in mindestens einer sozialen, finanziellen oder kulturellen Risikolage auf, die ihre Bildungschancen schmälert“ (Bildungsministerium, Anette Schavan). Der Regisseur René Pollesch hat in seinem letzten Stück Brecht zitiert: Dass man am Ort der Niederlage bleiben soll, weil man da was lernen kann. Und dass man sich hüten soll vor dem Ruhm. Denn der sei der Niedergang, der Anfang vom Ende. Es gibt nicht viele unter uns, die den Mut haben, am Ort der Niederlage zu bleiben. Dort, wo man am meisten lernen kann. Cindy Ehrlichmann, Dagmar Domroes und neun Jugendliche aus Hellersdorf haben diesen Mut. Und harren aus – bis aus Widerstand, Zweifel und unermüdlicher Suche dann plötzlich ein künstlerisches Statement wird. „Hell erzählen“ ist ein kleines Wunder. Oder ein großes. Weil neun Jugendliche aus Hellersdorf sich auf eine Welt einlassen, die ihnen vollkommen fremd ist, weil sie ihre Skepsis und ihre Ängste überwinden und Vertrauen fassen in eine kleine Gruppe von KünstlerInnen, die ihnen einen Weg durch das Gestrüpp der alltäglichen Katastrophen weisen – und zwar ausschließlich über die Mittel der Kunst. Hier soll niemandem „geholfen“, niemand therapiert werden. Das Ziel der gemeinsamen Arbeit ist ein künstlerisches Produkt – nicht mehr und nicht weniger. Was passiert, wenn sich beide Seiten auf einen künstlerischen Prozess einlassen? Die erste Voraussetzung dafür ist wohl der wahre Mut zum Risiko des Scheiterns. „Heute ist der Tag der Niederlage. Laut sein müssen. Brüllen. Den Gesichtern entgegenhalten, dass man gleich keine Lust mehr auf die Probe hat. „Reiß dich zusammen!“, „Konzentrier dich!“, „Lass dass!“ Wann habe ich diesen Feldwebelkurs gemacht? Jetzt bekommen die Jugendlichen, was sie kennen: Eine überforderte Erwachsene, die sie anbrüllt und ihnen im Minutentakt rückmeldet, was sie alles nicht können. Das galt es doch zu vermeiden. Das war doch meine Mission.“ Das schreibt Cindy Ehrlichmann in aller Offenheit über die Momente des Zweifelns im Prozess. Umgekehrt wird es die Jugendlichen aus Hellersdorf irritiert haben, dass „Theater“ nicht immer das war, was sie sich unter „Theater“ vorgestellt hatten. Vielleicht auch, dass diese Arbeit ihnen mehr abverlangte, als sie zunächst bereit waren zu geben. Disziplin, Zuverlässigkeit, Konzentration und oft auch Arbeitsweisen, die ihnen gänzlich fremd erschienen und die in ihnen deshalb zunächst Widerstände erzeugten. Wir alle neigen schließlich dazu, das Fremde zunächst einmal skeptisch zu betrachten… Warum aber sind diese Jugendlichen den Weg bis zur Premiere, bis zum herzklopfenden „Sich-Zeigen“ vor Publikum gegangen? Wie ist es ihnen gelungen, ein Theaterstück zu entwickeln, das seine eigenen, künstlerischen Mittel in direktem, persönlichen Austausch miteinander ertastet und mit der daraus resultierenden Ausdrucksstärke und persönlichen Unmittelbarkeit den direkten Weg zum Zuschauer findet? Cindy Ehrlichmann schreibt: „Die Jugendlichen, mit denen wir arbeiten, sind einzigartig, stark, mutig und unmittelbar. Sie sind Überlebenskämpfer.“ Offensichtlich hat hier eine Begegnung statt gefunden, die es allen Beteiligten ermöglicht hat, sich über Gefühle der Fremdheit und der bloßen Zuschreibungen hinweg zu setzen. Aus „Das sind die „Jugendlichen aus Hellersdorf“ und „Das sind die komischen Künstler aus Prenzlauer Berg“ ist eine beiderseitige Verwunderung über die mögliche Nähe geworden. Über die Möglichkeit, etwas anderes zu sehen, als das vermeintlich Offensichtliche. Eine Verwunderung über die Erkenntnis, dass sowohl die „komischen Künstler“ als auch die „Hellersdorfer Kids“ einander tatsächlich in gleichen Teilen etwas geben können, das beiden Seiten vorher für ihr „Weltbild“ – für ihr Verständnis von Welt – gefehlt hat. Über den Widerstand, den Zweifel und das vorsichtige, aber unermüdliche „Sich-Einlassen“ auf das Fremde, fand jede und jeder in dieser Gruppe am Ende zu sich selbst und gleichzeitig zum Ganzen – zu ihrer Geschichte. Genau das vermittelt sich dem Zuschauer in „Hell erzählen“ auf leisen Sohlen und mit voller Wucht. Wir sehen selbstbewusste, junge Menschen, die uns klar in die Augen schauen und sagen: „Das bin ich“, und die uns an innere und äußere Orte führen, die wir kennen. Und die uns berühren. Alles, was wir in „Hell erzählen“ auf der Bühne sehen, wirkt zutiefst persönlich und gleichzeitig allgemeingültig. Wir erfahren nicht nur etwas über diese Kinder, sondern vor allem etwas über uns selbst und den gesellschaftlichen Zustand, in dem wir leben. Das ist „politisch Theater machen“ und damit ist „Hell erzählen“ in seiner leisen, scheinbaren Privatheit sehr heutiges, politisches Theater.