Letzte Wochen an der Erika-Mann-Grundschule

In den letzten Wochen meines Lehrer-Daseins an der Schule versuche ich mich selbst herauszufordern und „perfekt“ zu sein. Ich will es nochmal wissen. Keine Kompromisse, alles soviel und so gut wie möglich – soweit dies im 24-Quadratmeter-Klassenzimmer und dem vorgegebenen Stundenplan möglich ist. Kann ich noch aufmerksamer, lustiger, geduldiger sein? Klappt eine riesiges, sehr unterschiedliches Lernangebot? Kann Schule lustig sein und gleichzeitig „viel bringen“? Kann ich lustig und motivierend sein – und (den ganzen Tag) bleiben?

Es ist todes-schwer. Die Kinder wirken wie gedrillte Wesen, die ständig fordern, dass ich „rumbrüllen“ und die „bestrafen“ soll, die „laut“ sind – wobei sie immer nur andere meinen. Sie fragen alle fünf Minuten, welche Note sie für was kriegen und petzen ununterbrochen, wenn jemand aus der Klasse ihrer Meinung nach gerade nicht richtig arbeitet (Guck mal, Frau Plath! B. spielt mit seinem Handy! Guck mal, Frau Plath! P. arbeitet gar nicht!, usw.) Besonders stark reiben sie sich an meiner (mühsam über die Jahre antrainierten!) Ruhe. – Es muss doch zu schaffen sein, Frau Plath „zum Heulen“ zu bringen. – Das äußern sie ganz unverblümt. „Bei allen anderen LehrerInnen hat es immer geklappt. Nur bei Herrn X. sind wir leise“, verrät mir ein Schüler unter vier Augen. So kommt es mindestens einmal die Woche zu einer Art „Affenaufstand“, bei der ich an Filmszenen aus „Einer flog übers Kuckucks-Nest“ denken muss: Einer fängt an, durchzudrehen und innerhalb von Sekunden kreischen alle los, werfen Stühle, prügeln sich, rennen durch den Klassenraum – und ignorieren mich so angestrengt, dass es an ganz großes Theater grenzt. Zwischendurch ein provozierender Blick – ob sie schon heult? – und weiteres Gekreische. An diesem Montag schauen wir uns das Theaterstück einer anderen Klasse in der Aula an. Die Klasse benimmt sich hervorragend und gibt formvollendetes Feedback. Ich freue mich. Anschließend gehen wir wieder runter in den Klassenraum. Und da passiert es mal wieder: Der Irrsinn bricht aus. Gekreische, Geprügel, provozierende, grinsende Blicke in meine Richtung. Ich denke, dass ich ja nun alles mal ausprobieren kann. Vielleicht bin ich ja wirklich zu nett. (…?) Was wird passieren, wenn ich wirklich mal rumbrülle? Genau das tue ich dann also: Ich kriege einen kleinen Wutanfall und pfeife sie zusammen. Tatsächlich ist es (natürlich) sofort mucksmäuschenstill. Allerdings sind nun mindestens die Hälfte der Kinder (besonders die Mädchen) tödlich beleidigt und ziehen eine Flunsch. „Frau Plath ist so gemein!!!“ Vor Wut auf mich zerreißt S. bewusst demonstrativ vor meinen Augen ihre geschriebenen Texte für den Stationen-Ordner und wirft sie in den Müll. Ich sammle alles wieder raus und sage ihr, dass man niemals (!) seine selbst geschriebenen Texte wegwerfen und wie Müll behandeln darf – ich würde sie wieder, mir sei sowas heilig. Beleidigte Flunsch… Die restliche Stunde des Vormittags verbringen wir in recht abgekühlter Stimmung, was mir schon schwer fällt, weil ich das alles höchst albern finde. Das ist auf jeden Fall keine ernst zunehmende „Methode“, denke ich und schäme mich ein bisschen – aber was soll’s – den Versuch war es wert. Am nächsten Morgen bin ich erleichtert wieder zu meinem „normalen“ Verhalten zurück kehren zu können. Alle sind merklich froh, dass die „nette Frau Plath“ wieder da ist. Es herrscht eine entspannte, fröhliche Stimmung. Mehrere Kinder stehen um mich rum und erzählen und zeigen mir dies und jenes („Frau Plath, hast du schon meine Geschichte gelesen?“) Plötzlich öffnet sich die Klassenzimmertür und eine Mutter steht mit einer anderen Dame im Türrahmen. In ihren Gesichtern so eine Mischung zwischen Empörung und Unsicherheit. Ich gehe auf sie zu, begrüße sie und bitte sie mit mir vor der Tür an den Tischen Platz zu nehmen. Die Klassentür bleibt offen, drinnen ist es friedlich, alle frickeln vor sich hin, dass es eine Freude ist. Dann schiebt sich die Schülerin S. durch die Tür zu uns nach draußen, wirft mir einen sehr verlegenen Blick zu und nimmt neben uns Platz. Von der Dame, die als Übersetzerin mitgekommen ist, erfahre ich, dass Schülerin S. gestern „völlig verstört“ nach Hause gekommen sei. Ich sei ganz schlimm zu den Kindern gewesen und S. habe „Angst gekriegt“. „So ginge das ja nicht, was ich denn dazu zu sagen hätte. Jetzt bin ich ernsthaft amüsiert. Da befolge ich ein einziges Mal diesen großartigen „Tipp“ der Kinder: herumzubrüllen – und schon kommen Eltern, um sich zu beschweren! Ich erläutere den „Vorfall“ und erkläre, dass es wirklich nicht meine Art ist, so laut zu werden und dass ich stark bezweifle, dass hier jemand „Angst vor mir haben muss“. Sowohl die Mutter als auch die andere Dame haben offenbar bereits in diesen wenigen Sätzen entschieden, dass ich recht haben könnte… Sie schauen verunsichert, ein Lächeln kommt zum Vorschein. S. dreht sich unvermittelt zu mir um und entschuldigt sich bei mir. Dann erklärt sie selbst, dass ich bereits angefangen hätte, ihre Geschichten, die sie in ihrer Wut auf mich gestern in viele kleine Stücke zerrissen und in den Papierkorb geworfen hatte, mit ihr wieder zusammenzukleben und dass ihr Theater zu Hause „doch übertrieben“ war… Wir reden noch eine Weile freundlich über S. und wie fleißig sie ist, dann verabschiedet sich mein Besuch wieder. Der Rest des Tages vergeht in feinster Harmonie. Mal sehen, wann das nächste Mal jemand „Angst vor mir haben muss“…