Zur Autonomie im Lehrerberuf

Immer wieder werde ich gefragt, warum ich den Schuldienst gekündigt und ein Leben in relativer Sicherheit (Lebenszeitverbeamtung) gegen die Freiberuflichkeit eingetauscht habe. Besonders der Verzicht auf den gesicherten Status als verbeamtete Lehrerin verwundert viele – insbesondere deshalb, weil ich ja nun quasi dasselbe mache wie vorher: Theaterunterricht mit Jugendlichen. (Jetzt eben nur für viel weniger Geld und ohne jegliche Absicherung.) Ich verstehe, dass man sich fragen kann: Ist die Frau bescheuert?

Vielleicht. 🙂 Aber natürlich gibt es einen Grund. Für mich ist es die mangelnde Autonomie im Lehrerberuf.

Während ich in an den zwei Schulen, die ich in Schleswig-Holstein kennen lernen durfte, aufgefordert wurde, maßgeblich Verantwortung zu übernehmen und meinen Beruf kreativ zu gestalten, wurde ich in Berlin zunehmend daran gehindert, kreativ und konstruktiv auf eine extreme Krisen-Situation zu reagieren.

An einer Hauptschule und späteren Sekundarschule in Neukölln wurde ich mit – aus meiner Perspektive – abstrusen Bedingungen konfrontiert: ein Klima der Resignation und Depression sowohl in den Klassen bei den SchülerInnen als auch im Lehrerzimmer bei den KollegInnen. Im Unterricht bei den Schülern Tohowabou und Arbeitsverweigerung auf allen Ebenen, im Kollegium bei den Lehrern Hilflosigkeit, Zynismus und innere Emigration.

Das alles hatte nichts mehr mit einer wertschätzenden Lernkultur und innovativen Unterrichtskonzepten zu tun, wie ich sie an meiner Ausbildungs-Schule in Schöneberg (bei Kiel) und später an der IGS Bad Oldesloe erlebt hatte.

Konfrontiert mit Aggressionen und Misstrauen seitens der Jugendlichen, begegnete ich in Berlin dem von mir empfundenen Ausnahmezustand zunächst mit Fassungslosigkeit und Fluchtgedanken. Dann aber versuchte ich, Lösungen zu finden. Das, was als »Dienst nach Vorschrift« bezeichnet wurde, führte in meiner Wahrnehmung zu nichts. Ich dachte sehr oft: Ob ich hier Unterricht gebe, oder in China fällt ein Sack Reis um, macht keinen Unterschied. Meine Schüler lernen NICHTS. Über diese offensichtliche Tatsache herrschte im Lehrerzimmer Konsens. Niemand behauptete ernsthaft, dass irgendwo in den Klassen irgendwas Nennenswertes gelernt wurde. Nur wurde dies immer den Defiziten der SchülerInnen zugeschrieben.

Aufgrund meiner zuvor gesammelten Erfahrung an anderen Schulen wollte und konnte ich nicht glauben, dass dieses grandiose Scheitern nur in der Verantwortung der Jugendlichen selbst liegen sollte.

Also begann ich das zu unterrichten, woran ich persönlich am meisten glaubte: Theaterunterricht, bzw. Darstellendes Spiel (verstanden als komplexere und handlungsorientierte Form des Deutschunterrichts, bei dem wenig oder nie gesessen und kein Wissen eingetrichtert wird, sondern im Wesentlichen Wissen im Prozess erschlossen, reflektiert und Eigenes entwickelt wird).

Dies geschah entgegen der Vorgaben. »Theater« (oder Darstellendes Spiel) ist weder an den Hauptschulen, noch jetzt an den Berliner Sekundarschulen ein reguläres Fach (außer in der gymnasialen Oberstufe). Es war aber für mich die einzige Möglichkeit, die SchülerInnen zu erreichen und bei ihnen (deutliche) Lern- und Entwicklungsschritte zu erzielen.

Solange an den Hauptschulen Berlins der Ausnahmezustand herrschte und bis zur Schulstruktur-Reform, wurde meine Arbeit toleriert. Es herrschte die inoffizielle Anweisung, dass »alles erlaubt sei, was funktioniert«. Auf diese Weise entstanden auch andere erfolgreiche Unterrichtskonzepte, die von engagierten Hauptschul-LehrerInnen entwickelt wurden, um der Krisen-Situation konstruktiv zu begegnen.

Im Zuge der Schulstruktur-Reform, die ausgerechnet von den engagierten Hauptschul-LehrerInnen größtenteils begrüßt wurde (so auch von mir) und den damit einher gehenden Schul-Fusionen zwischen Haupt- und Realschulen, wurden diese funktionierenden »Hauptschul-Konzepte« nur in den wenigsten Fällen übernommen. Sie wurden – zusammen mit den Hauptschulen – abgeschafft.

Statt dessen wurde nun »von oben« versucht, ein – in weiten Teilen auch sinnvolles – Reform-Konzept auf Gedeih und Verderb »durchzudrücken«. Fast überall stießen diese Bemühungen auf den inneren Widerstand der LehrerInnen. Verzweifelnden Schulleiterinnen gab man den Tipp: Mit den Lehrerkollegien verhielte es sich so wie mit dummen, aufsässigen Klassen. Da müsse man »hart durchgreifen«.

Das »harte Durchgreifen« sah bei mir folgendermaßen aus: Seitens der Schulaufsicht wurde mir mitgeteilt, ich »sei eine ganz kleine Lehrerin und hätte gefälligst Dienst nach Vorschrift zu machen«. Meine »Theater-Faxen« könne ich gerne in meiner Freizeit machen. Ich sei für meine studierten Fächer eingestellt worden, also Deutsch und Englisch. (Meine durch einen Weiterbildungsstudiengang in SH erworbene Fachqualifikation für Darstellendes Spiel in der Sek 2 wurde dabei ignoriert.)

Meine gesamte langjährige Theaterarbeit in Neukölln sei eine »eitle Extrawurst«, die nur für »unnötigen Wind« sorge. Weiterhin wurde mir »Begeisterungsterrorismus« vorgeworfen. Der Erfolg, den ich mit meiner Arbeit hatte, machte die Sache an dieser Stelle nur schlimmer: In einem GEW-Beratungsgespräch erfuhr ich, dass seitens Schulaufsicht und Schulleitung in Neukölln verbreitet wurde, ich sei eine »schwierige Person«, die »an den Schulen nur Ärger mache«, weil ich »nicht bereit sei, mich anzupassen und mich in die Schulabläufe einzufügen«. (Anmerkung: Diese Haltung wurde seitens der Schulleitung erst im Angesicht der Schulstruktur-Reform von der Schulaufsicht übernommen. Von 2004 bis 2009 wurde meine Arbeit seitens derselben Schulleitung begrüßt und ausdrücklich unterstützt.)

Was hat all dies zu bedeuten?

Meiner Ansicht nach wird den LehrerInnen zu wenig zugetraut. Wenn wir unser Bildungssystem verbessern wollen, müssen wir die Beteiligten, die direkt »an der Front« tagtäglich ihr Bestes geben, ernst nehmen und sie mit einbeziehen. Reformen können nicht »von oben nach unten durchgedrückt« werden (so richtig sie auch sein mögen!), sie müssen von den Lehrkräften selbst (!) entwickelt werden. Ihnen muss zugetraut werden, eine Situation treffend zu analysieren und zu reflektieren und auf der Grundlage eigener Erfahrungen und eigener Reflexion selbst Lösungs-Strategien zu entwickeln. Reformen können nur dann wirksam werden, wenn sie an der Basis gelebt, verstanden und unterstützt werden.

Es wird behauptet, dass genau dies erwünscht sei, aber mein Eindruck ist der, dass die Ansichten der Lehrkräfte nur entlang einer vorgebenden Norm gewünscht sind. Es herrscht eine Art Kontrollbedürfnis und eine Furcht vor Widerspruch und ernsthafter Auseinandersetzung. LehrerInnen werden in ihren eigenen Erfahrungen und Ansichten nicht wirklich gehört, nicht wirklich beteiligt. Wer Widerspruch erhebt, wird auf diffuse und dennoch deutlich spürbare Weise ausgegrenzt. Dass verschärft die innere Abwehrhaltung. So können keine fruchtbaren Prozesse initiiert werden.

Um etwas wirklich zu verändern und um (Lern-)Prozesse zu initiieren, kann man (nach Gerald Hüther) nur drei Dinge tun:

Jemanden einladen, Teil zu nehmen.
Das, was es zu erreichen gilt, attraktiv machen.
Selbst ein Vorbild sein. Das, worum es geht, selbst vorleben.

Etwas einzufordern bringt gar nichts, weil Bildungsreformen nicht nur ausgeführt werden können – sie müssen gelebt werden.

Die Situation in den Kollegien gleicht der Situation, die ich in den Hauptschulklassen vorgefunden habe: Kein einziger Schüler glaubt, dass seine Meinung irgendeine Relevanz hätte. Die Jugendlichen fühlen sich bevormundet, nicht wertgeschätzt und gedemütigt. Genau wie ihre LehrerInnen.

Ein Gegenbeispiel: In Neuseeland werden LehrerInnen nach ihren »Leidenschaften« befragt und wie diese in ihren Lehrerberuf integriert werden können. Man geht dort davon aus, dass durch die Einbeziehung der vorhandenen Potenziale und inhaltlichen »Leidenschaften« der Lehrkräfte überhaupt erst lebenswerter Raum im Schulbetrieb erschaffen wird. Und wer nun zynisch antwortet: Naja, es kann ja nun nicht jeder sein Hobby unterrichten, dann machen alle Sudoku, oder was…?, dem möchte ich mit folgender Frage begegnen: Wie wenig Vertrauen setzen wir in die LehrerInnen? Trauen wir ihnen keine fachlichen Interessen zu? Oder ist es die Ausbildung der LehrerInnen, in die wir kein Vertrauen haben??

Wer immer behauptet, dass die Kritik an unserem Schulsystem hysterisch und übertrieben sei, der sollte dann aber mehr Vertrauen in die LehrerInnen haben! Und in ihre Ausbildung. Einem Chirurgen reden wir ja auch nicht ständig rein. Also entweder unser Schulsystem ist ganz toll und erfolgreich. Dann verstehe ich das Misstrauen und die Bevormundung der Lehrkräfte nicht. Oder aber unsere Lehrer-Ausbildung lässt zu wünschen übrig. Dann sollte man sich fragen, wie diese Ausbildung grundsätzlich verändert werden müsste, damit LehrerInnen mehr Autonomie zugetraut werden kann. Wenn unser Bildungssystem und unsere Lehrer-Ausbildung aber so gut sind, dann müssen wir LehrerInnen als Experten für Bildung wahrnehmen. Dann sollten wir auch ihren Potenzialen, Kenntnissen und »Leidenschaften« vertrauen und ihrer Fähigkeit, diese gewinnbringend in den Schulalltag einzubringen.

Fragen Sie sich selbst, welche Ihrer LehrerInnen Ihnen bis heute positiv in Erinnerung geblieben sind. Welche LehrerInnen haben Ihnen geholfen, Ihren Weg zu finden? Welche LehrerInnen haben Ihnen Fähigkeiten aufgezeigt, von denen Sie nichts wussten und die Sie inspiriert haben? Welche LehrerInnen haben Sie bis heute nicht vergessen?

Es waren meistens die LehrerInnen, die ihre Leidenschaften in ihren Beruf einbringen konnten. Es waren nicht die LehrerInnen, die nur »Dienst nach Vorschrift« gemacht haben. Es waren die LehrerInnen, die von einem Thema, einem Fach, einer Sache überzeugt waren und die genau deshalb glaubwürdig waren in dem, was sie vermitteln wollten.

Nur ein Lehrer, der inhaltlich von »seiner Sache überzeugt ist«, hat einen intrinsisch motivierten Ehrgeiz, Unterricht zu entwickeln, durch den seine SchülerInnen wirklich (!) zu Erkenntnissen gelangen.

Ich wollte, dass in meinem Unterricht sicht- und spürbar etwas gelernt wird. Und zwar in jeder einzelnen Stunde. Das Konzept des »partizipativen, biografischen Theaterunterrichts« habe ich eigentlich in erster Linie für mich selbst entwickelt – damit ich wieder Sinn in meinem Beruf als Lehrerin erleben konnte. Ich wollte mir nicht länger etwas vormachen müssen (so nach dem Motto: Ach, ist doch egal. Zieh deinen Scheiß einfach durch, dann hast du keinen Ärger. Und irgendjemand wird vielleicht auch irgendwas mitnehmen. Irgendwas lernen die bestimmt.).

Mmmh. Bestimmt.

Friedrich Liechtenstein würde sagen: Sehr sehr geile Schule… Toll, wie du das machst! Teilweise.

Ich denke, unsere Schulen brauchen eine professionelle Personalentwicklung. Es muss darum gehen, die »Leidenschaften« der Lehrkräfte zu aktivieren und sie in den regulären Schulalltag zu integrieren. Nicht einmal im Jahr in einer nur »mittel-ernst« gemeinten Projektwoche oder in irgendwelchen AGs am Nachmittag – sondern in der regulären Stundentafel. Stellen Sie sich vor, alle LehrerInnen hätten ein tatsächliches Interesse und Freude daran, bei ihren SchülerInnen Lern- und Entwicklungsschritte zu initiieren. Sie könnten selbst erleben, dass ihr Beruf einen Sinn hat. Sie wären SELBST daran interessiert, dass ihr Unterricht erfolgreich ist. Wieviel Energie hätten wir, wenn diese Motivation in jedem einzelnen Klassenzimmer aktiv würde…

Und diese Freude am Beruf, die man Berufung nennt, würde dazu führen, dass LehrerInnen als Experten für Bildung fungieren könnten. Dann haben sie ein eigenes Interesse daran, Lösungen für Probleme zu entwickeln.

Jeder von uns weiß, wie LehrerInnen aufblühen und bereit sind, alles zu geben und Überstunden (ohne Ende!) zu machen, wenn sie einen Sinn in ihrer Arbeit entdecken. (Das sind beispielsweise die TheaterlehrerInnen… Oder die Chemielehrerinnen… Oder… Nun gut, Sie wissen, was ich meine.)

Unsere Schulverwaltung aber bevormundet die LehrerInnen. Und verzichtet damit auf das größte Potenzial, das bereits vorhanden ist: die (schlummernden) Potenziale der LehrerInnen. Dort müssen wir ansetzen. Reformen würden sich von unten nach oben entwickeln. Und sie würden von den einzelnen Lehrpersonen gelebt und getragen.

Wer gezwungen wird, nur »Dienst nach Vorschrift« zumachen, fühlt sich irgendwann für dumm verkauft – und zählt irgendwann nur noch die Tage bis zu den Ferien.

Und hier sind wir am Anfang angekommen. Denn genau dasselbe erleben unsere SchülerInnen: Ihnen wird nichts zugetraut. Ihre eigenen Erfahrungen und Potenziale spielen kaum eine Rolle und sie können kaum etwas davon in den Schulalltag einbringen. Statt dessen sollen sie vorgegebene Inhalte »abarbeiten«. Die Resignation im Klassenzimmer ist dieselbe wie die im Lehrerzimmer. Alle fühlen sich bevormundet und für dumm verkauft.

Der partizipative Theaterunterricht ist deshalb für mich das wirksamste Bildungsmittel, weil er bei den Potenzialen aller (!) Beteiligten ansetzt – nämlich bei den SchülerInnen UND den LehrerInnen. Und weil er für alle (!) Beteiligten spürbar macht, wie erfüllend es ist, gemeinsam etwas zu lernen, sich dabei weiter zu entwickeln und direkten Sinn darin zu erleben. Wer das einmal selbst erfahren hat (SchülerInnen UND Lehrerinnnen), wird sich ermutigt fühlen, wieder SELBST ZU DENKEN.

Darüber hinaus fördert der Theaterunterricht die Fähigkeit, kreativ auf die Welt zu schauen und sie als veränderbar wahr zu nehmen. An dieser Stelle wird eine künstlerische Perspektive deshalb so relevant, weil sie es ermöglicht neue Wege zu denken. Unser Schulsystem fördert derzeit mehr das Funktionieren in gegebenen Gesellschaftsstrukturen, nicht aber den kreativen Umgang mit vorhandenem Wissen, Fragestellungen und Problemen.

Der Theaterunterricht ist ein Ausdrucksmittel, über das neue, individuelle Sichtweisen sichtbar gemacht werden können. Der einzelne erlebt, dass das eigene subjektive »Prozessieren« von Daten zu neuen, gesellschaftsrelevanten Perspektiven führt und wiederum andere anstößt zu neuen Erkenntnissen.

Dadurch, dass dieser reflektierende künstlerische Prozess mit einem Produkt (der selbst entwickelten Theatervorstellung) abschließt, kann jeder Beteiligte erleben, wie etwas ganz Konkretes durch seinen individuellen Beitrag neu in die Welt kommt.

Diese Erfahrung, Selbstwirksamkeit anhand eines konkreten Produktes zu erfahren, wird als extrem erfüllend erlebt und ist gerade in unserer virtualisierten Welt, in der fast nichts mehr wirklich greifbar ist, beglückend und motivierend.

Diese Erfahrung für den einzelnen Schüler, den einzelnen Lehrer, wieder spürbar zu machen, wäre die Grundlage für eine gelungene Schulentwicklung. – Und genau diesen Ansatz kann man übrigens als tatsächlich inklusiv bezeichnen. Und ist es nicht genau das, was »von oben« gewollt ist?