Warum die VETO-Karte der Schlüssel zum Mischpult-Prinzip ist

Was soll dieses Konzept überhaupt, das Mischpult-Prinzip? Die einen regen sich auf und weisen diesen „Karten-Quatsch“ weit von sich, die anderen tauchen ein, haben überraschende Erkenntnisse und freuen sich drüber und dann gibt`s noch diejenigen, die sagen: Ist das ne Sekte?

Also für mich ist das Mischpult-Prinzip eine Rettung, die ich zunächst einmal nur für mich selbst erfunden habe. Das kam so:

Angefangen hat das Ganze – wie ihr wisst – an einer Schule in Neukölln. Ich hatte damals das Gefühl, das grundsätzlich etwas nicht mehr stimmt, wenn ALLE sich verweigern, Blödsinn machen oder rebellieren. Ich habe mich gefragt: Warum will keiner mehr mitmachen? Und in dieser Situation, als gar nix mehr ging, habe ich an Keith Johnstone und das Gespräch unter Freundengedacht.

Ich habe mich gefragt, was passieren würde, wenn ich den Status Abstand zwischen mir und den Jugendlichen aufhebe, also quasi ein “Gespräch unter Freunden” unter uns einführe, was in dieser Konsequenz bedeutete, dass ich also auf meinen gesellschaftlichen Hochstatus als Lehrerin verzichte, also auf mein Privileg, “recht zu haben” und zu bewerten.

Der Anfang davon war dann die Idee des Veto Rechts: Jeder Mensch im Raum darf ohne Erklärung einen Auftrag verweigern. Natürlich war das damals noch nicht so konsequent ausformuliert wie heute und hatte turbulente Folgen. Aber so hat es angefangen. Und dann habe ich all diese Kontroll-Verlust-Panik-Phasen durchgemacht, die sich einstellen, wenn wir symbolisches Kapital aufgeben, – symbolisches Kapital, das uns – unausgesprochen – Vorteile und Macht verschafft. Die Macht der Institution Schule. Die Macht der Bewertung. Die Macht unseres gesamten symbolischen Kapitals, das wir mitbringen, und dass all die zahlreichen blockierenden Statusabstände aufmacht, die wir so ungern anschauen wollen.

Ich jedenfalls wollte das ungleiche Machtverhältnis zwischen mir als Lehrerin und ihnen als Schüler*innen radikal aufheben und sehen, ob ein gleichwertiges Gespräch unter Freunden möglich ist. Und alles, was danach passierte, war die schrittweise konzeptionelle Konsequenz aus diesem Vorhaben:

Mein ZIEL war das “Gespräch unter Freunden”. Also ein wirklicher demokratischer Raum. Aber es war klar, dass mit dem Ziel allein noch NICHTS erreicht war. Und mit der Einführung des Vetos alleine auch nicht. Mir flog buchstäblich ALLES um die Ohren…

Aber ich habe an dem Ziel festgehalten und bin von jedem folgenden Problem aus zur nächsten konzeptionellen Frage gekommen. Eine nach der anderen. Das ganze Mischpult- Prinzip habe ich in Wahrheit erstmal nur für mich selbst entwickelt. Um mein Ziel – das Gespräch unter Freunden – zu erreichen und diesen Prozess zu überleben.

Ich wollte es schaffen, dass ALLE von ihren verschiedenen Ausgangs-Positionen aus Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten entwickeln, KONSTRUKTIV werden und Führung lernen. Ich habe meine Macht als Lehrerin quasi an die Macht der Vielen abgegeben – und dabei alles erlebt, was passiert, wenn frau noch kein Konzept zur Umsetzung einer solchen Idee hat.

Einschub: Um Missverständnissen vorzubeugen: Das „Gespräch unter Freunden“ ist ein Zitat von Keith Johnstone und meint das, was in der Pädagogik als „Augenhöhe“ bezeichnet wird. Da diese Formulierung aber inzwischen inflationär geworden ist und vor allem mit einer „weichen“, „Teamplayer“-Pädagogik assoziiert wird, verwende ich lieber Johnstones Begriff. Beim „Gespräch unter Freunden“ geht es NICHT darum, sich mit den Schüler*innen freundschaftlich gleich zu machen. Es geht darum, ihnen – ohne institutionelle Macht – als Mensch zu begegnen und dabei die volle Verantwortung für die übergeordnete Aufgabenstellung SELBST zu tragen (sie eben nicht an die Institution, die Umstände, die anderen,… abzugeben). Es geht darum, zunächst sehr klar selbst die Führung zu übernehmen, aber in Abgrenzung zu „Dominanz“ bzw. „Macht“ oder „Herrschaft“. Führung heißt Verantwortung zu übernehmen, darin transparent zu sein – und dafür zu sorgen, dass Verantwortung zunehmend auch von den anderen übernommen werden kann. (Und das heißt natürlich nicht, einfach nur ein „Referat halten zu lassen“ oder eine „Powerpoint Präsentation“, die dann später von der Lehrkraft bewertet wird!) .

Was tatsächlich „Verantwortung übernehmen“ heißt, das wissen derzeit nur wenige Menschen. Die meisten verwechseln es mit „dominieren“, „herrschen“ oder „heimlich manipulieren“.

Aber: Erst, wenn ich nicht mehr denke, dass ich überlegen bin und Dinge besser weiß und erst, wenn ich den Mut habe, anderen wirklich Raum zu geben, wird deutlich, dass „Verantwortung zu übernehmen“ die bei weitem anspruchsvollere Aufgabe ist, als sich auf „institutionelle Macht“ zu berufen und die Verantwortung letztendlich an das System abzugeben.

Und letzter wichtigster Unterschied: Führung heißt in diesem Kontext eben auch: Andere Schritt für Schritt ebenfalls zur Führung zu ermächtigen. Und das fängt mit dem Zulassen des Vetos an. Die „Schildkröte“ geht ohne ihre institutionelle Rüstung auf den Bildungs-Schauplatz… Einschub Ende.

JETZT weiß ich, dass dieses Ziel (das „Gespräch unter Freunden“ in diesem Sinne) erreichbar ist. Und ich habe erlebt, dass eine wirklich fruchtbare Kommunikation und dann auch INNOVATION und ein ständiges – explodierendes – Weiter-Lernen (bei allen) tatsächlich nur bei gleich verteilten Machtverhältnissen möglich ist – aber eben nicht ohne ein handfestes Konzept.

Ich habe mir dieses Konzept selbst gebaut. Und das Ziel auf dieser konzeptionellen Grundlage dann auch erreicht. Immer wieder. Deswegen weiß ich, dass es möglich ist, und auch:

– dass Demokratie das Beste ist, was wir schaffen können

– dass ungleiche Machtverhältnisse transparent gemacht und aufgehoben werden müssen

– dass all das aber nur dann konstruktiv wird, wenn wir auf ein gemeinsames Ziel hin   kooperieren und wechselweise Führung, nämlich Verantwortung, übernehmen

– dass Demokratie ohne Führung nicht funktioniert.

Aber am Anfang war ich natürlich mit dem Problem konfrontiert: WIE schaffe ich das denn, dass diese Kinder vom wilden, trotzigen, beliebigen Veto dahin kommen, ruhig und ernsthaft Verantwortung und Führung zu übernehmen? Mal der eine, mal die andere, im ständigen Wechsel, in ständiger Reflexion darüber – und dabei alle immer besser werden? So gut, dass ich irgendwann den Raum verlassen kann?

Meine Antwort ist heute mein Mischpult-Prinzip, mit dem sich jede Gruppe von Menschen immer wieder neu individuell auf den Weg machen kann. Die Grund-Koordinaten bilden das Gerüst dieses komplexen Prozesses. Bauen und gestalten kann das Haus jede*r selbst – in immer wieder neuen Varianten. Aber grundsätzlich heißt das Haus immer Demokratie. 

Und inzwischen denke ich: Das ist insgesamt unsere größte Aufgabe gerade:

Dass wir verstehen, dass unsere Ängste und Unsicherheiten gerade daher rühren, dass wir in dieser globalisierten Welt mit all ihren beunruhigenden Veränderungen bildlich gesprochen  in der Aula einer Brennpunkt-Schule stehen, in der uns alles um die Ohren fliegt. Und dass wir mit „Gejammer über die “frechen Schüler*innen” und Sanktionen und Notendruck“ nicht mehr weiterkommen. Dadurch wird alles nur immer schlimmer und die heutigen Probleme lassen sich so nicht mehr lösen. Es bleibt nur der Schritt nach vorn. In eine neue Zeit. In eine weiter entwickelte Demokratie, die unserer neuen Zeit entspricht.

Dafür müssen wir unser eigenes symbolisches Kapital, das uns Sicherheit und Vorteile verschafft hat, ein Stück weit aufgeben. Wir müssen das Veto einführen. Alle anderen zur Mitverantwortung ermächtigen. Und Dominanz und Konkurrenz-Verhalten ersetzen durch Kooperation und demokratische wechselnde Führung.

Ich hätte früher nie geglaubt, dass das funktionieren kann. Aber ich weiß es jetzt. Und das Beste ist: Es macht Spaß. Es entlastet. Es fühlt sich VIEL besser an, als Angst zu haben vor dem Kontroll-Verlust.

Seltsam ist für mich jetzt eigentlich nur: Wir wussten das doch eigentlich immer, wie Demokratie funktioniert… warum haben wir in den Schulen nicht gesehen, dass es abstrus ist, Kinder und Jugendliche zu dominieren und sie gegen ihren Willen irgendwo hin zu drücken? Was dachten wir denn, was daran demokratisch ist?

Und vor allem: Auf WAS für eine Demokratie wollten wir sie denn vorbereiten, wenn wir immer erwarten, dass sie sich anpassen und folgen lernen? Wenn wir immer „wussten“, was das Beste für sie ist? Und was dachten wir denn, wie es im Großen funktionieren soll – wenn WIR es nicht schaffen, unsere Angst vor dem Veto der anderen zu überwinden?

Und wer jetzt immer noch sagt: Ja, aber die KÖNNEN eben nicht verantwortlich mit ihren demokratischen Werten umgehen, dem sage ich jetzt ganz frech: That’s it: Das ist ja gerade unsere Bildungs-Aufgabe. Das ist die job description.

Und das Mischpult-Prinzip ist einfach nur mein sehr konkreter Vorschlag, wie das eventuell gelingen kann: eine konzeptionelle Arbeit, die ich in den Stürmen des Scheiterns geleistet habe, um meine eigene Angst und meine eigenen Zweifel zu besiegen.

Und übrigens sage ich nicht, dass das einfach ist. Ich sage nur, dass es einfacher ist, als tagtäglich den Zweifel über die größer werdenden Widersprüche unseres jetzigen Schul-Systems weg zu verdrängen.

Und ob ihr meine Einladung, es damit mal zu versuchen, annehmt, ist natürlich ganz und gar eure eigene Sache. Mit dem Veto fängt ja alles an…