Die Noten sind die heilige Kuh des Schulsystems, ich weiß. Trotzdem bin ich überzeugt, dass wir sie abschaffen müssen. Denn Noten verhindern selbständiges Denken.
Wenn ich bei jedem Gedanken, den ich fasse, vorher immer den Impuls habe zu fragen: Wieviele Zeilen soll ich schreiben? Was halten Sie von meiner These? Welche Literatur soll ich lesen? Darf ich im Netz recherchieren, usw, usw, kurz: WAS MUSS ICH TUN, DENKEN UND SAGEN, um eine GUTE NOTE zu bekommen, dann ist das Ganze von vornherein eine Erziehung zur Unmündigkeit.
Auf diese Weise kann sich selbstständiges Denken nicht entwickeln, geschweige denn entfalten.
Wer aber in unserem Schulsystem in irgendeiner Form vom „Erwartungshorizont“ abweicht, wird als Störung wahrgenommen und mit defizitärem Blick betrachtet. Wer selbständig denkt und handelt, wird sanktioniert. Es soll Bitteschön immer nur „im Rahmen“ selbständig gedacht und gehandelt werden. So aber kann niemand lernen, was selbständiges Denken in Wahrheit bedeutet – und wie bedrohlich sich das erstmal – für einen selbst! – anfühlt.
Dass wir uns das selbständige Denken abgewöhnt haben, und/oder selbständiges Denken im ersten Impuls ablehnen, wenn wir bei anderen darauf stoßen (was macht DIE denn? Das geht ja GAR NICHT!…), dafür kann niemand etwas, so sind wir sozialisiert und abgerichtet worden.
Aber unsere Welt verändert sich gerade. Demokratie wirklich leben und produktiv und stark werden zu lassen, erfordert Menschen, die selbständig denken können. Mehr denn je.
Deswegen müssen wir erstmal SELBST anfangen, selbständig zu denken. Das bedeutet: Eine eigene Meinung besitzen, den Mut haben, diese öffentlich zu äußern und auch gegen Widerstände und anspruchsvolle Gegenargumentationen verteidigen zu können.
Wenn wir jungen Menschen das beibringen wollen, müssen wir das auch selbst können. Können wir das?
Was denkst DU denn z.B. – ehrlich – zur Sinnhaftigkeit der Noten? Warum sagst du nicht laut im Lehrerzimmer, was du selbst dazu denkst?
Demokratie bedeutet nicht, anonym im Netz den eigenen Frust abzureagieren, sondern einen klaren, ehrlichen Gedanken zu fassen, diesen öffentlich argumentativ verteidigen und eventuell sogar konstruktive Alternativvorschläge machen zu können.
Demokratie wäre stärker und schöner, wenn wir uns trauen würden, wieder auf anspruchsvollem Niveau diskursiv zu streiten. Mit Argumenten, nicht mit Beleidigungen. Das ist eine hohe Kunst. Meistens schaffen wir es nur wenige Sekunden, bis sich das erste Demütigungsgefühl einstellt. Wir sind nicht sonderlich geübt.
Streiten heißt nicht das Gegenüber herabzusetzen. Streiten heißt, ein Thema in der Tiefe von allen Seiten und Perspektiven ausloten und hinterher noch mehr wissen als vorher. Dazu ist aber erstmal selbständiges Denken die Grundvoraussetzung.
Genau DAS trainieren wir aber den jungen Menschen in der Schule seit Jahrzehnten systematisch ab.
„Was muss ich machen, damit ich eine „1“ bekomme, Frau Plath? Ist mein Satz richtig, mein Bild schön, bekomme ich ein Like???“
Ja, Leute, wir müssen aufhören, immerzu nach Bestätigung zu lechzen.
Nicht nur unser Schulsystem bringt uns bei, immer die äußere Bestätigung zu suchen (war das richtig? warum guckt die jetzt so? hat da jemand gelästert? darf ich das sagen?…).
Fast überall werden wir zunehmend abhängig von äußerer Bestätigung, vom like „der anderen“ – nicht nur bei Facebook.
Wann hast du dir das letzte Mal eine ganz eigenständige Entscheidung geleistet, die bei anderen auf Unverständnis gestoßen ist…?
Wer eine eigene Meinung kenntlich macht, merkt, dass dann nämlich NICHT sofort ein Like kommt, manchmal sogar richtig krasser Gegenwind und Ärger… Davon weiß ich was…
Aber: Eine eigene Meinung ist der Anfang von allem. Es ist der eigene Schritt aus der Sokrates/Platon-Höhle, der berühmten, ihr wisst schon, mit den Schatten, usw. – Höhlengleichnis…
Und ganz konkret könnt ihr anfangen zu trainieren: Denn der Mut zum selbständigen Denken erfordert eine innere Hochstatus-Haltung, also ein hohes Selbstwertgefühl – und damit sind wir wieder am Anfang dieser und der nächsten Rede-mal-ordentlich-Folge… beim Aufbau des Selbstwertgefühls („innen hoch“) als Schlüssel zum Gelingen der demokratischen Führung (Folge „Herrschaft oder Führung“, Führungsprinzip der Schildkröte…).
Und natürlich ist mein gesamtes Konzept ein einziger großer konkreter Vorschlag, wie wir selbständiges Denken initiieren, entfalten und zur Grundlage von verantwortungsvoller (Schildkröten-) Führung machen können, – siehe „Befreit euch!“, siehe Workshops, siehe alles bei ACT.
Und genau, kleiner Tipp am Schluss: Ab Mitte Juni könnt ihr all unsere Theater-Vorstellungen, Film-Premieren und Präsentationen besuchen: Alle Termine auf www.act-berlin.de und im Spielplan Heimathafen Neukölln! (Unsere Produktion dieses Jahr am Heimathafen heißt: „Ich2 – More human than humans?“) Kommt vorbei!
Und hier der Link zur neuen Folge: Wie wir die Noten abschaffen! Teil 1