Ambiguitätstoleranz

Wir können uns “Romeo und Julia” im Theater oder als Film anschauen oder Bücher, Liedtexte und Gedichte über Liebe und Herzschmerz lesen, aber was Liebeskummer tatsächlich ist, begreifen wir erst, wenn wir ihn selbst haben. 

So ähnlich ging es mir im Jahr 2020 mit dem Wort Ambiguitätstoleranz. What the fuck soll das sein?

Nach dem letzten Jahr weiß ich es. Und immer noch denke ich jeden Tag: Ah ja. Das isses. Dieses ständige “Stop & Go” der Gedanken: 

Jetzt plane ich eine Probe. Ach nein, muss doch online stattfinden. Ach nein, jetzt geht es doch mit sechs Personen mit Maske. Ach nein, jetzt doch wieder nicht. Ok. Dann plane ich jetzt erstmal meinen nächsten Workshop. Ach nein. Die wollen lieber verschieben. Also neuen Termin finden. Ach nein. Da geht es auch nicht. Zweiter Lockdown. Dann doch wieder online. Ach nein. Die Leute wollen nicht mehr online. Ok. Dann geh ich jetzt erstmal in die Küche und mache einen Kaffee. Währenddessen kann ich ja mal kurz bei Spiegel Online… oh nein. Nicht schon wieder eine Horror-Nachricht. Was genau wollte ich noch mal in der Küche? Ok. Dann plane ich jetzt einfach mal das nächste Arbeitstreffen mit meiner Kollegin. Top 1: WANN machen wir WIE die Workshops? Die wollen lieber live. Ok, dann machen wir das mit Hygiene-Konzept. Oh. Neue Bestimmungen. Neues Hygiene-Konzept. Oh. Beherbungsverbot. Dann doch Online? Ok, dann plane ich mal doch lieber alles um. Und was ist mit dem Geld? Und wenn die Leute aufeinander aufbauende Workshops gebucht haben? Und ab wann ginge es wieder live? Oh, aber dann ist ja der Raum wieder besetzt… ach jetzt kommt eine Mail… Absage mit Bitte um Rückruf… Verschieben? Oh. Jetzt beginnt aber meine nächste Online Konferenz. Ich muss noch einkaufen… Trump hat wieder getwittert. Der Kaffee… die Welt… die Demokratie… der Klimawandel… Workshopabsage… Sturm auf das Kapitol… Neue Corona-Maßnahmen… ich muss noch einkaufen… doch Online jetzt? Der Kaffee… 

Ich trainiere. Ambiguitätstoleranz. Es gibt kein morgen mehr. Nur noch die nächste halbe Stunde. Und die sieht gleich schon wieder anders aus. Ich trink dann mal meinen Kaffee…