Die Schönheit des Lebens

Ich frage mich in diesen Tagen manchmal, wie es wohl Angela Merkel geht. Vielleicht wie einer Lehrerin, die versucht, ihre Klasse in den Griff zu kriegen und dafür Regelplakate zeichnet und an die Wand des Klassenzimmers hängt. Welchen Nutzen das hat, weiß ich aus langjähriger Erfahrung. Keinen nachhaltigen jedenfalls… 

Wenn dann nämlich trotzdem nach einiger Zeit wieder alle machen, was sie wollen und dabei mit bravem Gesicht schein-kooperieren oder gleich völlig offen über Tisch und Bänke gehen, wird es ihr wahrscheinlich so gehen, wie zahlreichen anderen Lehrer*innen: Sie denkt: Scheiße – wie kriege ich diesen Sack Flöhe auf Spur? 

Meistens kommt dann – aus Hilflosigkeit – dieser Impuls, in autoritäre Verhaltensweisen zurückzufallen, zu schimpfen, härtere Maßnahmen anzukündigen, zu strafen und die Moralkeule rauszuholen. Kenne ich alles. Habe ich alles selber durchgemacht. Und: Genützt hat es nichts. Nie. Es wurde nur noch schlimmer. Öffentlich zu besichtigen waren die Folgen von autoritären Maßnahmen 2006 beim Rütli-Skandal: Ganz Deutschland konnte erleben, wie eine Brennpunktschule völlig aus dem Ruder geriet.

Wenn wir einen Sack Flöhe „auf Spur“ kriegen wollen, hilft nur der umgekehrte Weg, nämlich der Weg über Kooperation:

Jedem Kind ein Veto-Recht einräumen und radikal von unseren menschlichen Bedürfnissen ausgehen – statt von normierten Regeln, die für alle gelten. 

Unsere menschlichen Grundbedürfnisse sind:

Freiheit, Sicherheit, Selbstwirksamkeit, Autonomie, Anerkennung, Selbstwert, Bindung, Nähe, Resonanz, Fürsorge und Sinnhaftigkeit. 

Wenn Menschen davon zu wenig bekommen, kooperieren sie nicht mehr. Dann muss man sie zwingen. Oder brechen. Wozu das führt, wissen wir aus der Geschichte. 

Menschen, die aber selbstbestimmt und auf der Grundlage ihrer Bedürfnisse handeln dürfen, entwickeln ihre ureigenen Stärken und dann auch die Freude daran, diese Stärken bei der Lösung von Problemen einzubringen. 

Dass ich als Lehrerin damals nicht früher auf dieses Erfolgskonzept gekommen bin, lag daran, dass man mir eingeredet hatte, dass „ja nicht jede*r machen kann, was er sie es will“! Dann würde ja alles drunter und drüber gehen! 

Lustigerweise ging alles drunter und drüber, weil NIEMAND tun konnte, was er sie es wollte. Weil alle etwas tun sollten, das nicht ihren Bedürfnissen entsprach. Und weil jede*r einzelne so frustriert war, gönnte niemand jemand anderem, dass der es besser haben durfte. Also kam sowas raus wie: Jede*r gegen jede*n und alle gegen die Lehrperson. Die ganze Schule war depressiv. Es entstanden immer neue Probleme, und gelöst wurde nichts. 

Ich denke daher folgendes: 

Unterricht ist ein komplexes Problem. Und ein komplexes Problem lässt sich nicht eindimensional lösen. Wenn Unterricht funktionieren soll, müssen wir dafür sorgen, dass sich jede*r einzelne traut, die eigenen Stärken einzubringen – auf ein gemeinsames Ziel bezogen. Das geht, indem wir nicht als Lehrperson alles im Vorfeld planen und zu kontrollieren versuchen, sondern nach dem Drei-Schritt arbeiten (siehe Agile Software Entwicklung und auch: Mischpult-Prinzip).

Bei dieser Art zu arbeiten gilt keine vorgegebene Norm, sondern ausschließlich die Orientierung auf das gemeinsame Ziel. Jede*r kann sich den eigenen Bedürfnissen entsprechend den eigenen Weg wählen, wie er sie es auf das Ziel bezogen sinnvoll agieren kann und möchte und sich dabei alles notwendige Wissen holen, das für alle transparent zur Verfügung steht (Open knowledge). 

Bei der Reflexion spricht jede*r möglichst authentisch vom eigenen Standpunkt aus. Es gibt kein Richtig und kein Falsch und kein Schwarz-Weiß. Dadurch, dass alle ihre Perspektiven und Erfahrungen offen einbringen, wird Vielfalt tatsächlich innovativ, weil alle eine große Anzahl verschiedener Sichtweisen und Lösungswege hören und verstehen lernen.  

Das Ganze funktioniert auf der Basis eines Führungs-Stils, der auf einer freien, autonomen Persönlichkeit gründet. Sich dahin zu entwickeln ist Teil des Konzepts und kann Schritt für Schritt konkret und transparent vermittelt werden. Während dieses Prozesses werden verborgene, internalisierte autoritäre Prägungen überwunden und Selbstverantwortung trainiert. Sowohl bei den Lehrpersonen als auch bei den Lernenden. 

Die Pandemie ist ein komplexes Problem. Und ein komplexes Problem lässt sich nicht eindimensional lösen. Wenn wir die Pandemie möglichst schnell bewältigen wollen, müssen wir dafür sorgen, dass sich jede*r einzelne traut, die eigenen Stärken einzubringen und zu kooperieren – auf das gemeinsame Ziel bezogen: Die möglichst schnelle Bewältigung der Pandemie. 

Eindimensionale Regeln und Angstmache führen – wie in der Schule – nur zu Scheinkooperation oder zu Rebellion. Denn Menschen kooperieren nur, wenn ihre Integrität gewahrt bleiben kann. 

Ansonsten schleicht sich jede*r irgendwann zur Hintertür hinaus und macht sein eigenes Ding – und nach außen ein braves Gesicht  – mit Maske. Der Sack Flöhe ist unmöglich mit autoritärem Denken in den Griff zu kriegen. So schaffen wir das niemals mit der Pandemie. Jedenfalls nicht als Demokratie. 

Ich dachte eigentlich, das wäre alles selbstverständlich. Das wissen wir doch alles. 

Aber wenn ich teilweise unsere Politiker sprechen höre, ich meine die männlichen, dann bin ich mir nicht mehr so sicher. 

Besonders Herr Lauterbach drückt mir da inzwischen wirklich die Knöpfe. Er scheint komplett in den Keller seiner autoritären Prägungen abgestürzt zu sein und eine gewisse Genugtuung dabei zu empfinden, über alle vielfältig vorhandenen und lebendigen und berechtigten menschlichen Bedürfnisse hinweg einen immer längeren und NOCH HÄRTEREN Lockdown zu fordern. Der Mann wirkt auf mich wie eine Figur aus dem Film „Das weiße Band“: Wie der Vater, der mit Genugtuung seinen eigenen Sohn verprügelt und diesem dann anschließend noch ein schlechtes Gewissen macht: „Weiß du, MIR tut es am meisten weh, dass ich dich schlagen muss“. Ich empfehle den Film „Das weiße Band“ gleich heute noch zu schauen. Es geht dort um die autoritären Denkmuster in Deutschland, lange VOR dem zweiten Weltkrieg, die uns in den Faschismus manövrierten. 

Karl Lauterbach scheint immer mehr in diese DEUTSCHE Idee hinein zu geraten, dass man das komplexe Problem der Pandemie „gründlich und ein für alle Mal“ lösen kann und vergisst dabei, dass komplexe Probleme niemals GRÜNDLICH – nämlich eindimensional- zu lösen sind. Aber multiperspektivisches Denken und Diversität sind ihm wahrscheinlich zu schmuddelig, zu versifft… ich weiß es nicht.  Ich weiß nur, dass eine eindimensionale Sichtweise die Integrität zahlreicher Menschen verletzt. 

Komplexe Probleme lassen sich nicht vorhersagen und daher auch nicht zu 100 Prozent kontrollieren. 

Wir kommen schneller aus diesem Elend heraus, je schneller alle Menschen Bock haben zu kooperieren und dies in ihren Möglichkeiten auch tatsächlich zu hundert Prozent TUN. Auf der Grundlage von Fakten und Selbstverantwortung. 

In diesem Sinne wünsche ich Herrn Lauterbach ein bisschen mehr Ambiguitätstoleranz und Offenheit für multiperspektivisches Denken und Diversität – für viele verschiedene Lösungswege. Und: Die Idee selbstverantwortlichen und kooperativen Handelns. 

Das ist dann zwar nicht so schön sauber und „ordentlich“ und geometrisch abgezirkelt, wie Herr Lauterbach es wahrscheinlich gerne hätte, aber eben: Es gibt noch andere Facetten des Lebens als Zahlen und Studien zur physischen Gesundheit des Menschen. Ich wünschte, er wäre mal im Berghain gewesen. Oder hätte mal in einem kleinen dunklen Theater bei einer Probe allein und unbeachtet in einer Ecke gesessen und stumm geweint über die Schönheit eines Kindes, das zum ersten Mal den Kopf hebt und strahlend sagt: Veto. 

Aber hat er nicht. Das ist das Problem.  

Wir können ja trotzdem so lange wenigstens schon mal damit anfangen, über unsere Bedürfnisse zu reden. Und was wir brauchen und was wir tun können, damit es uns selbst – und so vielen anderen wie möglich –  GUT geht. Aufs Ziel bezogen natürlich. 

Es gibt keine einfachen und keine gründlichen Lösungen. Es gibt nur uns. 

29. Januar 2021 Maike Plath