Der erste Schritt in eine neue Welt

Im Moment beobachte ich überall interessante Veränderungen. Etwas ist in Bewegung geraten. Ich finde es manchmal hilfreich, diese „Sachen“ systemisch in Bildern zu beschreiben. Das mach ich jetzt mal bildhaft anhand des Führungstyps „Löwe“ und einer kleinen Beschreibung nach dem Prinzip: „Blick von außen“.

Der Löwe als Führungstyp eines Konkurrenzsystems

Im derzeitigen (Konkurrenz-) Theater des Lebens herrschen die „Löwen“. Die Löwen haben strukturell selten oder nie echte Not erfahren. Daher kennen sie keinen Kummer durch Ausschluss und keinen tieferen Schmerz und wenn sie ihm – in sich selbst – begegnen, halten sie ihn für eine Schwäche und versuchen ihn zu unterdrücken und zu verbergen. 

Der Löwe denkt und handelt autoritär, verbirgt dies aber zunehmend, indem er nach außen im „Erdmännchen-Anzug“ auftritt. Löwen wissen, dass autoritäre Verhaltens- und Denkweisen nicht „en vogue“ sind, daher versuchen sie nach außen „demokratisch“ (bis hin zu feministisch) zu wirken. Autoritäre Verhaltensweisen sind: Belohnung, Bestrafung, Manipulation, Moralisierender Druck, Kontrolle. Autoritäres Denken zeichnet sich dadurch aus, dass die Führung glaubt zu wissen, was „für die anderen das Richtige ist“ und grundsätzlich glaubt, die Prozesse kontrollieren zu müssen, da „ansonsten alles aus dem Ruder liefe“. Autoritär denkende Führungspersonen gehen tendenziell von einem negativen Menschenbild aus („faul“, „unmotiviert“, „muss noch vieles lernen“, „hat Defizite“).

Ob jemand ein „Löwe“, ein „Erdmännchen“ oder eine „Schildkröte“ ist, zeigt sich deshalb darin, was langfristig mit den Menschen in ihrem Umfeld passiert: Wirken die Menschen frei, unbeschwert, vertrauensvoll, selbständig, mutig und mündig oder wirken sie angepasst, ängstlich bzw. „aufmerksamkeitsgeil“ („Guck mal, was ich Tolles gemacht habe?“). Geht es um Anpassungsleistungen und Wettbewerb? (Löwe) Gibt es „Gewinner“ und „Verlierer“? (Löwe) Entsteht ein Raum, in dem alle angstfrei von sich sprechen und sich einbringen? (Erdmännchen, Schildkröte) Herrscht eine ausgelassene, entspannte und zugleich konzentrierte Atmosphäre, in der alle Lust auf das haben, was sie tun? (Schildkröte) Sind alle auf die Bestätigung der Führung ausgerichtet (Löwe) oder sind alle frei von äußerer Bewertung und unterstützen sich gegenseitig? (Schildkröte). usw.

In kooperativen Systemen fühlen sich die Menschen miteinander verbunden und trauen sich, authentisch zu sprechen und zu handeln. In Konkurrenzsystemen verstecken und vergleichen sich alle – und es herrscht das Trennende. Die Perspektive des „Löwen“ ist der Maßstab, an dem sich alle ausrichten. Je näher ich dem Löwen bin, desto höher wird mein Status. Ich bin auf die Erwartungen des Löwen ausgerichtet, nicht auf das, was ich selber für richtig halte oder was mich selbst motiviert. In einem Löwensystem fühlen sich diejenigen am sichersten, die am meisten Vorteile haben und den Erwartungen des Löwen am besten entsprechen können. In diesen Systemen ist es ein Risiko, mit den eigenen Gefühlen und Gedanken sichtbar zu werden, weil Statusverlust droht, wenn diese von der Norm abweichen. In Löwensystemen entsteht grundsätzlich Schmerz und Herabsetzung durch Ausschlusserfahrungen. Selbst dann, wenn es nach außen nach „Demokratie“ aussieht. Es sind die INNEREN Prozesse der Beteiligten, die den Unterschied machen und die erst nach einiger Zeit nach außen sichtbar werden.

In Konkurrenzsystemen entstehen immer Hierarchien. Entweder offensichtliche Hierarchien – oder unsichtbare, die „nur“ psychologisch wirksam sind. Durch die Wertungen „besser“ und „schlechter“ und durch ungleich verteilte Vorteile (Privilegien, soziales und kulturelles Kapital) entstehen ungleiche Positionen und unfairer Wettbewerb.

Wenn wir Konkurrenzsysteme und autoritäre Führungsstile überwinden wollen, ist es aufschlussreich, sich mit dem „Führungstyp Löwe“ auseinanderzusetzen und die Dynamiken seines Handelns zu verstehen. (Wir tragen alle Prägungen der vier Status-Tiere in uns und sie sind nur als Bilder zu verstehen, um bestimmte Dynamiken zu begreifen. Selbstverständlich handelt es sich hier um eine bildhafte Vereinfachung, um ein komplexeres Phänomen zu veranschaulichen).

Der Löwe „fühlt nichts“. (Siehe auch Liv Strömqvist: „Ich fühl´ s nicht“, ), und das ist ein Problem. Denn wenn wir über Führung sprechen, lohnt es sich, dem Gefühl von Schmerz nachzugehen. Wo entsteht Schmerz – und in der Folge Widerstand? Und warum „fühlt der Löwe nichts“?

Schmerz entsteht immer durch Trennung und Ausschluss. Trennung MACHT Trauma. Sowohl auf privater, persönlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene. 

Löwen erfahren Ausschluss und Zurückweisung nicht im alltäglichen äußeren Leben, denn da verfügen sie über alle Vorteile und Privilegien. Löwen erfahren den Schmerz von Ausschluss und Zurückweisung auf privater Ebene: Als das Trauma nicht geliebt zu werden. 

Löwen erleben Ausschluss selten oder nie auf struktureller, gesellschaftlicher Ebene, sondern privat in ihrer eigenen Familie beziehungsweise in ihrem Umfeld – und zwar als etwas sehr persönliches, nämlich als den Schmerz, als MENSCH nicht zu gelten. Nicht geliebt zu werden. Dieser Schmerz ist so existenziell, dass sie ihn unterdrücken müssen. Löwen sind daher mit ihren echten Gefühlen nie in Kontakt. In der Folge erschaffen Löwen immer wieder zwanghaft ein System, in dem der Mensch als MENSCH nichts gilt. Denn das ist der unbewältigte Urschmerz des Löwen. (Leider sind Löwen häufig „therapieresistent“ und halten das „alles für QUATSCH“, was – nun ja – Teil des Problems ist). 

Das, was im Inneren unterdrückt und weg gesperrt ist, muss immer im Außen, dort wo es in Erscheinung tritt, bekämpft werden. Das ist der innere Schatten.

Bei Löwen meldet sich der eigene unterdrückte Schmerz in Form von unangenehmen Gefühlen, wenn Löwen mit den Emotionen – dem MENSCHLICH-SEIN – anderer Menschen konfrontiert sind. Löwen erzählen sich selbst die Geschichte ihres Erfolges durch das erfolgreiche „In-Schach-Halten“ der eigenen Gefühle. Stichwort: Stiff upper lip. Gefühle sind beim Löwen gleichgesetzt mit Schwäche. Ansonsten müsste „man“ sich ja mit dem weggeschlossenen eigenen Schmerz beschäftigen. 

Da Löwen im Außen über alle Vorteile verfügen und über die anderen herrschen, sehen sie keine Veranlassung, irgendetwas am bestehenden Konkurrenzsystem zu ändern. Das Trennende (und in der Folge Traumatisierende daran) können Löwen nicht SEHEN und nicht nachempfinden, weil sie von ihrem eigenen Trennungsschmerz entkoppelt sind. 

Abgekoppelt von echten Gefühlen und echtem Schmerz, beherrschen Löwen das Spiel des Wettbewerbs und der Konkurrenz perfekt. Da sie auch noch an den Schaltstellen unserer Gesellschaft Einfluss nehmen, bleiben jegliche Versuche von empowernder, systemischer Veränderung aller anderen immer irgendwo unterwegs „stecken“. 

Konkurrenz- und Wettbewerbsdenken und in der Folge alle Formen von Hierarchie erzeugen ständig, tagtäglich Auschluss, Schmerz und Trennung zwischen Menschen.

Im Großen durch Kriege, im „Kleinen“ durch Entfremdung, Depression und persönlichen „Ich-bin-allein-und-sinnlos-in-der-Welt-Schmerz“.

Die Löwen allerdings sind Meister in diesem Verlierer-Gewinner-Trennungs-Spiel – UND an den Schalthebeln der Macht, um es immer weiter zu spielen. Denn ihr Inneres ist eingefroren – zu Eis erstarrt. „Gewinnen ist geil. Nach mir die Sintflut. War noch was?“

Die Reaktion des Löwen auf Empowerment

Durch seine Position fehlt dem Löwen die Erfahrung von gesellschaftlichem Ausschluss und echter Not. Wird er damit konfrontiert, regen sich bei ihm einerseits unangenehme Gefühle wegen der eigenen unterdrückten persönlichsten Ausschlusserfahrung und andererseits Verachtung und Überheblichkeit. 

Der Löwe denkt: „Strengt euch halt an und jammert nicht! Ich habs ja auch geschafft! Wer sich nicht durchbeißen kann, wie ich, ist halt eine „Memme““. Der Löwe kann kein Mitgefühl. Er spürt sich selbst nicht. Und deswegen auch nicht die anderen

Der Löwe führt seinen gesamten Erfolg auf seine eigene Leistung zurück, weil er die gesellschaftlichen real existierenden Ausschlusserfahrungen der anderen nicht an sich ran lassen und daher nicht wahrnehmen kann. 

Daher sieht der Löwe in jeglicher Form von Empowerment nur den lächerlichen Aufstand unreifer Kinder – UND – einen nervigen Angriff auf seine – aus seiner Sicht ehrlich und hart erkämpfte Position. Löwen nehmen Widerständige als defizitär wahr, da sie den Kern von Empowerment – nämlich das „In-Kontakt-Sein-mit-sich-selbst“ – bei sich selber unterdrücken und daher als Schwäche bzw. als Makel betrachten müssen, während sie sich gleichzeitig unbewusst bedroht fühlen.

Warum?

Jegliche Form von Empowerment gründet auf echten Selbstwert und Integrität.

Jeder unterdrückte Mensch, der erkennt, dass der eigene Schmerz nicht selbst verschuldet ist, sondern durch real existierenden strukturellen Ausschluss erzeugt wird, initiiert in sich einen Heilungsprozess und erobert sich den eigenen Selbstwert und damit auch sein gesamtes Potential zurück. 

Damit wird dieser Mensch weniger „beherrschbar“. Menschen mit geringem Selbstwert und hohem Anpassungsbedürfnis (gehört beides zusammen), lassen sich viel besser steuern, kontrollieren, ausbeuten und gegeneinander ausspielen (Gewinner-Verlierer Dings. Trennung. Konkurrenz).

Wer aber mit sich selbst und den eigenen Gefühlen in Kontakt ist, kann den Schmerz und die Gefühle der anderen nachempfinden und Mitgefühl entwickeln und in menschliche VERBINDUNG gehen. Dies wiederum ist die Grundvoraussetzung für echte Kooperation und Überwindung von trennenden Konkurrenzsystemen und Hierarchien. 

Solange sich allerdings nur die Unterdrückten befreien und sich zusammen tun, nicht aber erkennen, wie sie die Herrschaft der Löwen beenden können, werden sie INNERHALB des Löwensystems strukturell immer nur in der Rolle der unreifen, emotionalen Kinder wahrgenommen werden, die hier und dort Freiräume erkämpfen, im Ganzen aber weiterhin Teil eines kapitalistischen Konkurrenzsystems bleiben. 

Um ein trennendes und traumatisierendes Konkurrenzsystem WIRKLICH durch ein menschlich-verbindendes, empowerndes Kooperationssystem zu ersetzen, müssen die Glücksgefühle, die durch ECHTEN Selbstwert entstehen, auch die Löwen erreichen. Ansonsten erkennt der Löwe keinen Veränderungsbedarf.

Wie machen wir das? Die Aufgabe, die vor uns liegt wäre vielleicht zusammengefasst: 

Den gefrorenen See zum Schmelzen zu bringen. Indem wir den Löwen vorleben, was sie natürlich längst wissen, aber aus Selbstschutz als Kitsch abtun müssen:

Dass jede echte menschliche Verbindung tausendmal wertvoller und zur Lösung der Weltprobleme effektiver ist, als einsame Leistung im Konkurrenzsystem.

Die größte Wucht der Veränderung entsteht dort, wo der Mensch aus sich selbst heraus glücklich ist und sich die Frage stellt: Wie müssen wir die Welt verändern, damit ALLE glücklich sind? 

Denn das ist der Witz: Wer wirklich glücklich ist, will es nicht alleine sein.

Da müssen wir hinkommen. 

Lasst uns also den Kern jeglichen Empowerments als Kompass unseres Denken und Handelns in den Fokus nehmen: Echten menschlichen Selbstwert ermöglichen. Wo immer es geht. Das Trennende überwinden – und falls nötig, die Löwen entwaffnen. Im aussichtslosen Fall durch Angriff – im besten Fall aber durch „niederkuscheln“, siehe oben, Selbstwert-Sollbruchstelle reparieren. Denn DAS wäre gelingende Inklusion – und der erste Schritt in eine neue Welt. 

Maike Plath, 28.06.2022