Der Mensch im System Schule als Störung?

Ich komme mir vor wie eine „kaputte Schallplatte“: Ich sage und schreibe jetzt seit mehr als 15 Jahren, dass ich denke, dass unser Bildungssystem dringend verändert werden muss, ich weiß. Und ich komme mir dabei vor, wie der römische Typ Cato, der wohl über Jahrzehnte in Dauerschleife gesagt haben soll:

„Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss“.

Also: Im Übrigen bin ich der Meinung, dass unser Bildungssystem dringend verändert werden muss.

Passiert nicht. Passiert wieder nicht. Passiert weiterhin nicht. Aber vielleicht JETZT doch…? Wir haben jetzt mit dem Aufkommen des ChatGPT eine Situation, die wahrscheinlich ähnlich krasse, gesellschaftsverändernde Wirkung haben wird, wie das Zeitalter der Industrialisierung (- das übrigens Impulsgeber für und strukturelle Basis unseres heutigen Bildungssystems ist) . Ok. Aber darüber will ich jetzt mal nicht weiter jammern.

Wir haben jetzt 2023. Und jetzt reden alle über den Chat GPT. Und was ich so LUSTIG – oder nee – eher ABSURD finde, ist, dass in diesem Zusammenhang befürchtet wird, nun könnten die Schüler:innen MOGELN! Und wie kann ich denn nun ihre Leistungen bewerten?

Ernsthaft? DAS ist jetzt die Angst?

Ok. Ich habe vor was anderem Angst. Das wurde mir spätestens klar beim Anschauen des aktuellen Films von İlker Çatak: „Das Lehrerzimmer“. Und dafür hole ich jetzt doch noch mal kurz aus. Also…:

Dem Regisseur İlker Çatak geht es in seinem neuen Film „Das Lehrerzimmer“ nach eigener Aussage nicht darum, das System Schule zu hinterfragen, sondern es als Spiegelbild unserer Gesellschaft im Kleinen zu nutzen. Es ist aber quasi unmöglich, den Film anzuschauen, OHNE dabei das System Schule zu hinterfragen, jedenfalls dann, wenn mensch das System Schule in und auswendig kennt. Dann nämlich ist der Film kaum auszuhalten, so sehr gelingt es diesem Film, die Atmosphäre im „System Schule“ spürbar zu machen. Und was ist das für eine Atmosphäre? Kurz gesagt eine, in der alles Menschliche als zu behebende STÖRUNG wahrgenommen wird.

„No-Toleranz-Politik“ lautet das Motto der Schule im Film „Das Lehrerzimmer“. Was damit gemeint ist, wird in diesem bedrückenden Film in einer kaum-aushaltbaren Eskalations-Spirale auf den Punkt gebracht: Im System Schule ist der Mensch selbst die größte Störung und muss durch Vorgaben, Regeln und normierte Abläufe komplett kontrollier- und messbar gemacht werden. Alles was menschlich ist, wird in diesem System als unberechenbar und daher als störend angesehen.

Dieses unheimliche Gefühl, das der Film auf geradezu unerträglich perfekte Weise vermittelt, hat seine Ursache in knallharten Fakten. Denn dieses beklommene Unwohlsein, das jede:r Mensch im System Schule bewusst oder unbewusst spürt, ist eben nicht nur subjektive Einbildung oder hypersensible Befindlichkeit, sondern die logische Konsequenz der Strukturen, die Schule bestimmen – weil sie sich nicht am Menschen ausrichten, sondern an normierten Standards und der Mensch in diesem System zwangsläufig selbst zur Störung wird, sobald er/sie/es sich menschlich verhält. Denn „menschlich“ wird in diesem System mit Unberechenbarkeit gleichgesetzt.

Die rasanten Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz werfen jetzt allerdings die Frage auf, ob es nicht genau das „unberechenbare Menschliche“ ist, das wir jetzt genauer unter die Lupe nehmen und zum bestimmenden Faktor des Lernens und Gestaltens machen sollten – weil eventuell genau dort die Lösung liegt für ein zunehmend dringliches Problem, mit dem wir es zu tun haben: Dem Aufkommen und der Bedeutung von Künstlicher Intelligenz und seinen Auswirkungen auf unsere Gesellschaft.

Hierzu eine Zusammenfassung eines Textes aus der FAZ Sonntagszeitung

„Weckt ChatGPT die Schule auf?“, FAZ Sonntagszeitung, Feuilleton, 7. Mai 2023:

„(…)…
„Werden Mindeststandards über einen fest zu legenden Zeitraum verfehlt, müssen klar definierte Maßnahmen ausgelöst werden“.

Das klingt wie eine Anweisung für die Programmierung eines maschinellen Lernprozesses. Es handelt sich aber um eine Empfehlung, die die „ständige wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz“ für Schulen abgegeben hat, die von Menschen besucht werden:

Um eine Sicherung der Mindeststandards zu gewährleisten, müssen Kompetenzen regelmäßig erfasst und auf verschiedenen Ebenen Rückmeldungen darüber gegeben werden, inwieweit sie erreicht werden.

Was bedeutet es, dass die Sprache der Konzepte, die die Kultusminister:innen (KMK) den Schulen vorgeben, kaum von der Sprache der Konzepte zu unterscheiden ist, die ein Computer-Unternehmen seinen Programmierern vorgibt?

Offensichtlich hat sich das Bildungssystem darauf eingestellt, dass es nur mit einer Standardisierung, die so lückenlos ist wie bei einer Maschine, konkurrenzfähig sei.

Deutlich orientiert sich dieses System am Bildungsideal der OECD und deren Pisa Studien, das auf den systematisch betriebenen Erwerb bestimmter für die Wirtschaft wichtigen Kompetenzen ausgerichtet ist. Sein Rückgrat ist die einheitliche, von vornherein auf Messung und Vergleich angelegte Normierung des Unterrichts, (…) über fortlaufende Richtig – Falsch – Unterscheidungen bis zur permanenten Überprüfung, inwiefern die Schüler:innen mit den jeweils vorgegebenen Standard-Erwartungen übereinstimmen.

Diese Vorgaben wirken so, als solle einer Maschine erklärt werden, wie ein Mensch funktioniert. Da sich der Text aber an Menschen wendet, ist seine implizite Botschaft, eine andere: In der Schule soll man sich offenbar ganz auf den Verständnishorizont einer Maschine einlassen, also erst einmal verlernen, was ein Mensch ist, um es sich dann als Schulstoff, aus der Perspektive einer Maschine, gewissermaßen, von neuem anzueignen. Es war schon immer ein Rätsel, wie eine solche allein an ökonomischen Kategorien ausgerichtete Standardisierung es fertig gebracht hat, sich als fortschrittlich und sogar als individualistisch auszugeben.

Denn was, wenn sich das bisherige Bildungssystem durch die neuen KI-Entwicklungen auf einen Schlag als überholt erwiese? Ein Bildungssystem, das spätestens seit seiner Orientierung an den Maßstäben der PISA-Studien auf etwas ausgerichtet ist, das die Maschinen womöglich schon jetzt viel besser können?

Es rächt sich, dass sich die Bildungsdebatten der vergangenen Jahrzehnte fast ausschließlich auf Mittel konzentrierten (sei es nun den Zustand der Schulgebäude, die Digitalisierung oder die Methoden zur Herstellung von Chancen, Gleichheit) und die Frage, was überhaupt der Inhalt der Bildung sein soll, fast ganz außer Acht lassen. Seit Chat-GPT sollte das eigentlich nicht mehr möglich sein.

Würde sich herausstellen, dass die genormten Kompetenzen, auf die das jetzige Bildungssystem hinausläuft, von Computern, viel besser und vollständiger erbracht werden können, als von den darauf konditionierten Schulabgänger:innen, würde dessen bisher so fraglos hingenomme, ökonomische Rechtfertigung in sich zusammen fallen:

Dann würde der Unterricht in Wirklichkeit ja gar nicht auf den Wettbewerb vorbereiten, sondern bloß auf die Arbeitslosigkeit.

Was für ein Wissen wird also gebraucht, um nicht von Computern ins Abseits gestellt zu werden? Nur wenn die Menschen und deren persönliche Erfahrungen im Mittelpunkt des Bildungssystems stehen, kann unterrichtet werden, was die Maschinen nicht können:

Ein Wissen, dass sich den Standardisierungen der Automaten entzieht und zum Beispiel auch etwas von Ironie, Ambiguität, Widersprüchen, Erkenntnis und Freude versteht. All dies lässt sich allerdings wohl nur vermitteln, wenn Lehrer:innen und Schüler:innen mehr Freiheit zugestanden wird, sie nicht nur, als Administratoren eines quasi maschinellen Programms gefragt sind, sondern als Menschen, auf deren persönliche Erfahrungen es ankommt“.

Ok. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass unser Bildungssystem DRINGEND verändert muss.

Wir müssen die Erfahrungen, Gefühle und Fähigkeiten des MENSCHEN zum Ausgangspunkt aller Prozesse machen.

Und wenn es dann UNBERECHENBAR wird, empfehle ich die unzähligen Instrumente und Erfahrungsspielräume des Veto Prinzips. Weil es dieses Konzept schon GIBT. Und weil es funktioniert. Und so viel Zeit haben wir ja ehrlich gesagt gar nicht mehr.

Ich bin übrigens KEIN Roboter.

Und diesen Text habe ich selbst geschrieben.

Und das Veto Prinzip funktioniert nur in analogen Räumen mit echten Menschen.

Es wird also alles absolut unberechenbar. Super!

Und:

„Im Übrigen bin ich der Meinung, dass unser Bildungssystem dringend verändert werden muss“.