Ich kann im Moment nicht verstehen, warum bloße MEINUNGEN Menschen plötzlich trennen – Menschen, die sich gut kennen und mögen. In meinem engsten Umkreis passiert das gerade. Und es ist wahnsinnig schmerzhaft. Vor allem verstehe ich es nicht.
Wieso können wir nicht zu unterschiedlichen Meinungen kommen und uns trotzdem weiter nah bleiben und mögen?
Das wäre für mich die Kernkompetenz der Stunde. Und ehrlich gesagt: Ist das denn nicht die Kernkompetenz gelebter Demokratie?
MEINE Meinung möchte ich im Folgenden anhand des Bildes der Schulklasse darstellen – aber ich versuche dabei niemanden zu überzeugen.
Ich glaube – schon seit langer Zeit – dass es wichtig ist, die eigene Position mit anderen zu teilen, sich gegenseitig zuzumuten und sich zu trauen, sicht- und hörbar zu sein. Denn nur dann sind alle Perspektiven verfügbar und nur dann können wir uns ein Bild von der Welt machen, in ihrer ganzen Komplexität.
Dies hier ist MEIN Bild, das ich derzeit im Kopf habe. Vielleicht hast du ein anderes: Dann schreib es doch auf und teile es.
Die Geschichte vom nutzlosen Widerstand
Stellen wir uns eine Schulklasse vor. Sie sitzt in ihrem Klassenraum und die Schule brennt. Die Lehrer*innen sind ins Lehrerzimmer gegangen und diskutieren, was zu tun ist. Sie trauen sich nicht, zu sagen:
„Ihr MÜSST sofort alle raus! Und wenn ihr nicht wollt, dann tragen wir euch mit Gewalt aus dem Klassenzimmer!“
Das machen sie nicht, weil sie nicht autoritär sein wollen. Es hätte zwar den Vorteil, dass dann alle mit dem Leben davonkommen würden. Und eventuell unter den Schüler*innen auch nicht soviel Streit entstehen würde. Denn die Schüler*innen würden dann empört rufen: Diktatur! Wir werden gezwungen! Und sie hätten einen gemeinsamen Feind – die Lehrer*innen. Und wir wissen ja: Ein gemeinsamer Feind verbindet.
Aber die Lehrer*innen wissen natürlich, welche Nachteile autoritäre Maßnahmen haben.
Deswegen RATEN die Lehrer*innen also nur, dass es sinnvoller wäre, den Klassenraum zu verlassen.
Diese Lehrer*innen haben leider nicht Jesper Juul gelesen. Dann wüssten sie, dass zwischen autoritärem Handeln und Laissez-faire („Macht doch, was ihr wollt:“) eine dritte Option möglich gewesen wäre: Nämlich gleichwürdige Führung.
Die würde bedeuten, dass die Lehrer*innen schon seit langem Selbstwert und Verantwortung statt Anpassung beigebracht hätten. Und dass sie Wissen und unterschiedlich verteiltes symbolisches Kapital transparent gemacht hätten, statt es zu verschleiern. Sie hätten zur Freiheit (Mündigkeit“) „erziehen“ können, statt zur Anpassung an Notenmaßstäbe (Unmündigkeit).
Jetzt fiel es den Lehrer*innen aufs Dach, dass sie damit nicht früher angefangen hatten.
Denn dann hätten die Schüler*innen gewusst, dass sie aus sehr unterschiedlichen Perspektiven auf die Welt blicken. Sie hätten gewusst, dass die, die „vorne sitzen“ und gut in der Schule sind, nicht deswegen „vorne sitzen“, weil sie schlauer oder besser sind. Sondern, weil sie über Vorteile beim symbolischen Kapital verfügen. Sie hätten gewusst, dass jetzt folgendes Problem da war und ein gemeinsames, lösungsorientiertes Handeln verhinderte:
Die Schüler*innen, die „vorne saßen“, konnten die Welt bisher als friedlichen, freiheitlichen, gerechten Ort wahrnehmen, weil sie – beispielsweise – weiß waren (Normativität bezogen auf Hautfarbe), weil sie ein Zuhause hatten (und das für selbstverständlich hielten), weil sie gesund waren (und das für das Normale hielten), weil sie Familie und Freunde hatten (und das für das Normale hielten), weil sie bisher keine Kriege erlebt hatten (und das… genau, ihr wisst schon), weil sie nie in größere Not geraten waren, weil sie sich auskannten in dem Ort, in dem sie lebten, weil sie überall in ihrer Muttersprache sprechen konnten, weil sie sich mehr oder weniger SICHER fühlen konnten. Seit sie denken konnten, war das ihre Wahrnehmung der Welt.
Schon wenige Reihen hinter ihnen im Klassenzimmer saßen aber Schüler*innen, für die all diese „normalen Dinge“ nicht normal waren und die diese Welt noch nie als einen friedlichen, freiheitlichen und gerechten Ort wahrnehmen konnten. Diese Schüler*innen wussten, dass Sicherheit, Gesundheit, Wohlstand, Freiheit und Zusammenhalt sehr prekäre Luxus-Zustände sind, die von tausend ungerecht verteilten Variablen abhängen und sich ständig ändern können. Sie wussten, dass die Welt ungerecht und grausam sein kann.
Aus diesem Grund waren diese Schüler*innen nicht so besonders überrascht, als es anfing zu brennen. Ihnen war klar: Das kann passieren. Und dann geht es entweder um einen brutalen Konkurrenzkampf um Sicherheit, Gesundheit, Wohlstand, Freiheit und Zusammenhalt – manchmal mit äußerster Grausamkeit und auf Leben und Tod – oder es geht um Kooperation und Mitgefühl. Im letzteren und leider selteneren Fall nehmen diejenigen, die Vorteile bei Sicherheit, Gesundheit, Freiheit, usw. haben, Nachteile in Kauf, um es für ALLE sicherer, gesünder, freier, usw. zu machen.
Dann hätten die Schüler*innen sich gegenseitig geholfen, das Klassenzimmer möglichst schnell zu verlassen. Sie hätten die getragen, die nicht laufen konnten und denen gut zugeredet, die in Angststarre verfallen waren, sie hätten auf die gewartet, die langsamer waren und diejenigen vorgeschickt, die sich am besten im Gebäude auskannten.
Aber so kam es nicht. Denn die Schüler*innen, die vorne saßen, waren sich ihres Glücks nicht bewusst, sie kannten so eine Brand-Situation vorher nicht und waren erschrocken, dass jetzt sowas Ungemütliches passierte. Nervig! Sie waren Sicherheit, Gesundheit, Freiheit, Wohlstand und Zusammenhalt gewohnt. Vor allem, dass sie die besten Noten hatten und alle ihnen zuhörten!
Jetzt sollten sie plötzlich aufspringen und mitten im kalten Winter das Gebäude verlassen? Nur, weil jemand sagte: Es brennt!?
Das konnte nicht sein! Man konnte die Flammen ja gar nicht sehen! Und außerdem wollten diese Schüler*innen sowieso schon mal AUS PRINZIP nicht einfach einer Ansage folgen und mit allen anderen gemeinsam rauslaufen. Sie waren ihre grenzenlose, persönliche Freiheit gewohnt. Nahmen diese Freiheit für selbstverständlich. Hatten nie dafür gekämpft. Sie waren ihre Sonderstellung gewöhnt. Den Platz vorne. Und das mit dem Rauslaufen war ja gar nicht sicher! Das konnte Nebenwirkungen haben! Man könnte sich unterwegs verletzen!
Die anderen Schüler*innen sagten: „Wenn wir jetzt nicht raus laufen, dann sterben wir alle!“
Aber das taten die Muster-Schüler*innen als manipulative Hysterie ab und blieben bockig sitzen. „Dann sollen uns die Lehrer*innen doch eine klare Ansage machen, dass wir den Raum verlassen MÜSSEN! Das wäre wenigstens ehrlich! Dann wüssten wir, in was für einer Diktaturschule wir hier sind!“
Die anderen Schüler*innen sagten: „Ja genau. Wir sind eben NICHT in einer Diktaturschule. Dann wären wir längst gefesselt und rausgetragen worden! Aber bei uns hat jede*r Rechte. Und jede*r ist für seine eigene Entscheidung selbst zuständig. Wir sind in einer Notlage und wenn wir jetzt zusammen das brennende Haus verlassen, können wir uns gegenseitig helfen und dann sind die Chancen für alle größer, sicher raus zu kommen“.
„Das ist doch eine Propaganda-Lüge“, sagten die „Vorne-Sitzer*innen, „Ihr seht doch: Sie behandeln uns wie Schafe, die nicht selbst entscheiden können! Ich will selbst entscheiden, wann ich gehe oder ob ich verbrennen will! Stattdessen versprechen mir die Lehrer*innen jetzt ein Eis, wenn ich raus gehe – ich bin doch kein Tier, dass für ein Leckerli durch den brennenden Reifen springt! Ich habe meine eigene Meinung!“
„Ja, das könnt ihr ja auch“, sagten die anderen. „Wir wissen nur: Das wird schrecklich. Und ihr wisst es offenbar nicht. Weil ihr die ganze Zeit eure Sicherheit, Gesundheit, Freiheit, Gerechtigkeit und Zusammenhalt für selbstverständlich gehalten habt. Und durch euer bockiges Warten bringt ihr jetzt alle anderen in Gefahr, die schon längst aus dem brennenden Haus hätten raus laufen können. Ihr sitzt mental in Happyland und merkt, dass es weh tut, diese Perspektive zu verlassen. Es wird ein bisschen ungemütlich. Das stimmt. Aber vielleicht auch gerechter und menschlicher – wenn wir jetzt zusammen Entscheidungen treffen und kooperieren – statt uns zu streiten!“
DAS fanden die „Vorne-Sitzer*innen“ jetzt richtig unmöglich. Dass sie auch noch moralisch als Sündenböcke hingestellt wurden.
„Dann bleibe ich jetzt erst recht hier sitzen“, sagten sie, „da könnt ihr mal sehen, was das bringt, wenn ihr solchen moralischen Druck macht!“
„Moralischer Druck? SEHT ihr nicht, dass es brennt??“
Draußen züngelten die Flammen an den Hauswänden hoch. Die „Vorne-Sitzer*innen sahen es. Aber sie kannten Flammen nur aus Filmen. Der Schrecken von wirklichem Unglück hatte sie noch nie getroffen. Deswegen zögerten sie weiter.
Obwohl die Schüler*innen befreundet waren, entschied sich der Großteil der Klasse irgendwann, diese Diskussion aufzugeben und sich vor dem Feuer zu retten, so lange es noch ging.
Die Vorne-Sitzer*innen blieben im Klassenraum. Sie lasen Michael Kohlhaas und spielten Titanic-Orchester. Ein einziges Mal im Leben fühlten sie sich wie Helden des Widerstands.
ALLE Schüler*innen verloren ihre Schule und einen sicheren Ort zum Lernen. Viele zogen sich bei der verspäteten Flucht aus dem brennenden Gebäude Verletzungen zu. Aber das Leben ging weiter und später erzählte man sich die zahlreichen Geschichten, wer wem und unter welchen krassen Umständen geholfen hatte.
Was aus den Vorne-Sitzer*innen geworden ist, weiß niemand. Vielleicht sind sie doch noch rechtzeitig in den Wald geflüchtet, als sie merkten, dass es unangenehm heiß wurde und der Rauch in den Lungen schmerzte. Oder sie haben es nicht mehr geschafft.
Wir wissen es nicht. Wir sind jetzt damit beschäftigt, eine neue Schule zu bauen.