Hochachtung für den Lehrberuf

Oder: Die Kunst, eigenständige Prozesse zu ermöglichen – und warum wir diese Kunst nicht vernebeln sollten und die “Schildkröte” grundsätzlich beim Namen nennen sollten.

(c) Friederike Faber

Zum ZEIT Artikel „Plötzlich ist der Wurm drin – Deutschlands Grundschulen sind in Gefahr: Es fehlen Tausende Lehrer und die Leistungen brechen ein. Wie konnte es soweit kommen?“ (DIE ZEIT, 30. Mai 2018, Chancen, Seite 61,62)

In der letzten ZEIT Ausgabe erfahren wir im oben genannten Artikel von Martin Spiewak: „Die Personalnot erwischt die Grundschulen zum ungünstigsten Zeitpunkt. Kein anderer Lernort in Deutschland steht stärker unter Druck. Die Grundschule ist die einzige Schule für alle Kinder; ihre Lehrerinnen und Lehrer nehmen viele Entwicklungen zuerst wahr: Dass die Gesellschaft auseinanderdriftet. Dass zu den einheimischen Migranten Hunderttausende Flüchtlinge hinzukommen. Dass sich in einem Teil der Elternschaft pädagogisches Analphabetentum breitmacht. Dass Inklusion viel schwieriger ist, als gedacht. Die Grundschulen sind ein Frühwarnsystem für Erfolg oder Misserfolg der Schule insgesamt“.

Gegen diese Not sollen Seiteneinsteiger die Lösung sein:

„Was in anderen Professionen undenkbar ist, wird an immer mehr Grundschulen Praxis: Seiteneinsteiger ohne pädagogischen Abschluss ziehen in die Schulen ein…“

Im Gegensatz zu Herrn Spiewak ziehe ich die Qualität unserer pädagogischen Abschlüsse , insbesondere des Referendariats, in Zweifel. Aber grundsätzlich sehe auch ich eine zunehmend naive Haltung auf das, was Lehrkräfte in Wahrheit KÖNNEN müssen. Ob da unsere derzeitige pädagogische Ausbildung so viel weiter hilft, sei mal dahin gestellt. Fakt bleibt aber, dass immer mehr Leute offenbar erstaunt sind, dass Jugendliche eben nicht so ohne weiteres selbständig lernen, denken und handeln und unsere hehren Bildungsziele sich nicht „einfach so“ erreichen lassen.

Dazu mein folgender kleiner Essay:

Stellen wir uns drei Schulklassen vor. In allen drei Klassen lautet das Ziel, dass die Schüler*innen selbständig denken und handeln lernen sollen. Am besten auch noch kreativ. Und vergleichen wir mal spaßeshalber, was in diesen drei Klassen im Verlaufe eines Schuljahres an Fortschritt passiert ist. Auf der Basis meiner Erfahrungen mache ich hier mal folgende drei Möglichkeiten auf:

In der ersten Schulklasse ist nach einem Jahr genau gar nichts passiert. Alle haben irgendwie und mit großem Aufwand und vielen Gesprächs-Stuhlkreisen alles mögliche ausdiskutiert, viele bunte Karten an der Wand befestigt und versucht, alles richtig und ganz toll kreativ zu machen – aber raus gekommen ist – NICHTS.

In der zweiten Schulklasse ist im Verlaufe des Jahres Chaos ausgebrochen. Alle sind miteinander verstritten und frustriert. Die Jugendlichen „machen, was sie wollen“, aber in Wahrheit offenbar nicht, denn dann müssten sie ja bessere Laune haben. (…!) Die haben sie aber ganz offensichtlich nicht. Ganz im Gegenteil sind alle frustriert und latent aggressiv. Die Lehrkraft hat den Eindruck, dass ein solcher „Sauhaufen“ eben auch nicht selbständig arbeiten KANN und es das nächste Mal wieder „klare Ansagen“ braucht.

In der dritten Schulklasse sieht es im Verlaufe des Jahres nach außen manchmal etwas chaotisch und ungeordnet aus. Aber überraschenderweise hat diese Klasse am Ende eines Jahres einen Naturwissenschafts-Wettbewerb gewonnen, einen Film gedreht, ein Theaterstück entwickelt und aufgeführt und ist zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammen gewachsen, die bestens im Team zusammen arbeitet.

Am Ende ist die allgemeine Meinung: Alle Jugendlichen in allen drei Klassen haben in diesem Jahr ganz selbstbestimmt und eigenmächtig gearbeitet. Aber die Jugendlichen in der dritten Klasse waren einfach die „tolleren Jugendlichen“. Da hat die Lehrkraft Glück gehabt.

 

Genau diese allseits verbreitete Ansicht ist der Grund dafür, warum der Lehrerberuf kein Ansehen genießt und das Wort Pädagogik bei den meisten Würge-Reflexe auslöst.

Denn drunter liegt folgendes:

In der ersten Schulklasse war die Lehrkraft menschlich in der Lage, Beziehungen aufzubauen. Deswegen blieb die Stimmung im ganzen gut. Aber es wurde nichts oder wenig gelernt und schon gar nichts entwickelt oder produziert, weil die Lehrkraft dachte, dass es ausreicht, die Jugendlichen „selbständig arbeiten zu lassen“ – ohne Ideen zu haben, welche Impulse und Strukturen es braucht, damit Menschen LERNEN, selbständig zu arbeiten, ihren eigenen Ideen zu vertrauen und diesen eine entsprechende Form zu geben.

In der zweiten Schulklasse glaubte die Lehrkraft selbst nicht daran, dass Jugendliche „selbständig arbeiten“ können. Sie hielt das Projekt von vornherein für gescheitert. „Wenn man denen nicht sagt, wo es längs geht, passiert doch nix!“ dachte die Lehrkraft. Obwohl sie dies nicht sagte, strahlte sie diese Haltung ein Jahr lang aus.

Dadurch konnte keine vertrauensvolle Beziehung zwischen Lehrkraft und Jugendlichen entstehen. Diese Klasse war also doppelt allein gelassen: Ohne funktionierende Beziehungs- und Kommunikationskultur und ohne konkrete Impulse, Strukturen und Ideen seitens der Lehrkraft, wie selbständige Denk- und Arbeitsprozesse denn überhaupt fruchtbar werden KÖNNEN. Den Frust darüber ließen sie also zunehmend aneinander und an der Lehrkraft aus. Am Ende des Jahres war nichts entstanden außer Erleichterung bei allen Beteiligten, dass es jetzt endlich vorbei war und sich alle in die Ferien verabschieden konnten.

 

In der dritten Schulklasse war die Lehrkraft GANZ OHNE ZWEIFEL ein*e „Zauber*in“, bzw. eine „Schildkröte“ – also eine sehr erfahrene Expert*in demokratischer Führung. Gerade WEIL die Jugendlichen TATSÄCHLICH alles „alleine“ und selbstbestimmt entwickelt und das Ganze zu einem sichtbaren ERFOLG gebracht hatten, muss es eine sehr versierte und kluge Führung seitens der Lehrkraft gegeben haben. (Denn anders ist es gar nicht möglich).

 

Diese Kunst (der klugen Führung) ist eine der wichtigsten, die wir derzeit in unserer Welt brauchen. Aber wir können nie wirklich anfangen, diese hochkomplexe Fähigkeit in der Tiefe zu vermitteln, weil wir sie scheinbar gar nicht BENENNEN wollen.

Denn der Weg dahin, auf diese Weise – nämlich zur Mündigkeit hin – zu führen, ist sehr anstrengend, mühevoll und hochkomplex. Wer diese Kunst lernen will, muss einen langen Atem haben und den Willen, auch sich selbst immer wieder in Frage zu stellen, an sich zu arbeiten und niemals aufzuhören, immer besser werden zu wollen. Und dies anhand von ausformulierten Qualitäts-Maßstäben, bzw. wie ich es nenne: Anhand von Koordinaten, die unserem Denken, Handeln und Weiterdenken eine professionelle Richtung geben.

Mir fallen in Bezug auf diese Kunst (etwas albern, aber ihr wisst schon, wie ich es meine) berühmte Filme ein wie Starwars, in denen es um die Ausbildung zum Jedi-Ritter geht, oder Bücher wie Siddartha von Hermann Hesse. „Ein Meister werden zu wollen“ geht eben nicht in zwei, drei Abendkursen und „einfach irgendwie mal so“…

Das Schlimmste aber an unserer heutigen Situation ist, dass diejenigen, die diese hohe Kunst beherrschen, am Ende zu hören kriegen, dass sie nur „Glück“ – nämlich „tolle Jugendliche“ – hatten.

Zweifellos sehen solche Lehrkräfte ihre Schüler*innen genauso: Sie sehen das „Tolle“ in ihnen. Das ist aber etwas anderes, als das, was mit dieser hingeworfenen Bemerkung gemeint ist. Wer sagt: Ach, da hattest du ja Glück, dass du so „tolle Jugendliche“ hattest, entwertet damit die Leistung der Lehrkraft. Und tut so, als bräuchte es gar keine professionelle Führung, bzw. als sei diese ein Kinderspiel – nicht der Rede wert – die Kinder können es ja alles allein. Aber das können sie – zunächst – eben nicht.

Ich habe immer wieder gezögert, diese Tatsache so klar zu benennen, weil ich immer befürchtete, dass es dann so wirken könnte, als wolle ich mal wieder „nur Werbung für mein Konzept“ machen. Das will ich natürlich auch, weil ich daran glaube, dass es – natürlich neben vielen anderen guten Ideen – tatsächlich eine Lösung bietet. Aber darum geht es hier gar nicht in erster Linie.

Im Angesicht der immer weiter stattfindenden Abwertung dieser hohen Kunst, die ich gegenwärtig für gesellschaftlich ziemlich relevant halte, finde ich es viel interessanter, warum wir so verdruckst überhaupt mit dem ganzen Thema umgehen, warum wir das Thema FÜHRUNG scheinbar nicht sehen wollen.

Wahrscheinlich, weil wir FÜHRUNG (zur Mündigkeit) noch immer verwechseln mit HERRSCHAFT (patriarchalischen, protektionistischen, autoritären Führungsstilen, die zur Unmündigkeit führen). Aber aus Angst vor Herrschaft nicht mehr führen zu wollen, ist im Bildungsbereich fatal. Denn dann rutschen wir erst recht – aus Hilflosigkeit – in genau die autoritären Verhaltens- Muster hinein, die wir so sehr bestrebt sind, zu vermeiden!

Das Ziel all unserer Bemühungen muss also sein, im besten Sinne „Zauberer des demokratischen Menschlichen“ zu werden – und zwar in DEM Sinne, dass die uns anvertrauten Menschen selbständig denken und gemeinsam kreativ handeln lernen – und das passiert bei höchstens einem Prozent der Menschen einfach so von selbst!

Dafür braucht es die hochkomplexe (und langfristig übrigens erfüllende!) Kunst der (demokratischen) Führung. Und der Erfolg einer in diesem Sinne gelungenen Führung misst sich im ERGEBNIS.

Das heißt: WENN Jugendliche selbständig gearbeitet und selbst etwas Produktives geschaffen haben, das als Erfolg nach außen sichtbar ist – dann steht dahinter eine „Zauber*in“! Beziehungsweise meiner neuen Wortschöpfung folgend: Eine Schildkröte (Siehe Folge 16 bei Rede mal ordentlich, Frau Plath: „Herrschaft und Führung“). Und jedes Mal, wenn ein solch hochkomplexer Prozess wirklich geglückt – und eben nach außen wirksam ist ! – dann verdient die Lehrkraft die allerhöchste Anerkennung!

Wenn wir DAS nicht einsehen wollen, sind wir völlig naiv. Denn dann verlassen wir uns darauf, dass Lehrkräfte grundsätzlich Persönlichkeiten wie Nelson Mandela oder Mutter Theresa sind, die vollkommen uneigennützig und altruistisch bis zur Selbstaufgabe in stiller Bescheidenheit ihr Leben lang selbstausbeuterisch ihr Licht unter den Scheffel stellen. Und so funktioniert diese Welt nicht.

Das heißt:

Erstens: Der Erfolg einer Lehrkraft bemisst sich im Ergebnis: Wenn die Jugendlichen selbständig denkend und handelnd etwas Neues, Produktives in die Welt stellen, ist die Arbeit erfolgreich. Ansonsten nicht. (Es reicht nicht, Stuhlkreise zu organisieren und bunte Zettel an die Wand zu kleben).

Zweitens: Wenn die Arbeit nach außen sichtbar erfolgreich ist, dann gilt neben aller berechtigten Anerkennung für die Jugendlichen der größte Respekt der Lehrkraft, die dahinter steht. Punkt.

Alles weitere kann erst von hier aus diskutiert und weiter differenziert werden.

Im Moment aber gibt es zum Thema Bildung nur entweder Katastrophenmeldungen oder euphorische Berichte über Jugendliche, die partizipativ, demokratisch und kooperativ alles „ganz alleine gemacht haben“.

Das ist grober Unfug. Und es ist gefährlich. Weil dann ständig Lehrkräfte verzweifeln und sich fragen: Warum sind die „tollen Jugendlichen“ nie bei MIR? Und natürlich auch, weil wir die Verantwortung dafür tragen, dass Jugendliche in der Schule bestmöglich auf die Zukunft vorbereitet werden und wir einsehen müssen, dass das UNSERE Aufgabe ist.

Wie genau das gemacht werden kann, wie schwer das ist, was das erfordert und wie wir das lernen können, das muss offen thematisiert und auch ANERKANNT werden. Dann wird nämlich auch klar, dass überhaupt nicht „jeder Lehrer werden kann“. Wir müssen endlich den Wert einer pädagogisch hochwertigen (demokratischen) Führung sehen, benennen und wertschätzen lernen. Ansonsten gibt es sie irgendwann nicht mehr.

Ich zolle daher hiermit meinen tiefsten Respekt all jenen Lehrkräften und Anleitenden, die immer wieder das Wunder eigenständigen Denkens, Handelns und Neu-Erschaffens in die Welt gebracht haben und es täglich weiter tun –  und dafür noch keinen Friedensnobelpreis erhalten haben. Sie hätten ihn alle verdient.

Maike Plath, 04. Juni 2018