Celina Bostic hat gerade einen Song und ein Musik-Video mit dem Titel „Resilienz“ herausgebracht, das für mich persönlich bereits jetzt eine bestärkende HYMNE ist.
Das Schöne ist: Celina fordert dazu auf, auch andere Menschen zu finden, die immer wieder aufstehen und ihnen „die Krone der Resilienz“ aufzusetzen. (Schau dir das Video unter dem link an, dann wird das klar mit der Krone…).
Und das tue ich jetzt:
Tim Wiegelmann, ich setze dir die Krone auf! Denn du kämpfst jeden Tag darum, die unmenschlichen Aspekte unseres Bildungssystems zum Einsturz zu bringen. Du baust aus den Steinen, die in deinem Weg liegen, nach und nach ein großes Haus. Jeden Tag und unermüdlich findest du die richtigen, berührenden und klugen Worte und hörst nicht auf, gegen ein System zu rebellieren, das so viele Menschen krank und traurig macht. Ich feiere deinen Mut, deine wunderbaren Worte, deine Sensibilität, deine Klugheit und deine RESILIENZ!
Und hier unter diesem Eingangstext veröffentliche ich mit großer Freude einen Text von dir: „Gedanken über Bildung“ (Tim Wiegelmann).
Lieber Tim! Mach weiter!
Wir alle machen weiter! Und setzen einander die Krone immer wieder auf!
Ich DANKE dir für deine Resilienz!!
Hier geht es zum Musik-Video und Song “Resilienz” von Celina Bostic (und darunter hier in diesem Blog zum Text von Tim Wiegelmann):
https://youtu.be/wgi1dKWSKSo
Tim Wiegelmann über sich:
„Ich bin Tim, 18 Jahre alt. Aufgrund meiner Körperbehinderung konnte ich nochmal aus einer ganz anderen Perspektive erleben, was es bedeutet, in einem System zu sein, in dem die meisten Schüler*innen die Erfahrung machen, dass sie als Person nicht zählen. Doch vor allen Dingen wurde mir klar, dass „behindert sein“ oft nur „behindert werden“ ist. Deswegen möchte ich nun nicht mehr leise sein!“
Gedanken über Bildung
Ich bin fest davon überzeugt, dass Einsamkeit und Alleinsein nicht dasselbe sind:
Allein sind manche gerne, andere weniger gern.
Obwohl wir alle sehr soziale Wesen sind, kann die Zeit, in der wir gerne mit anderen zusammen oder allein sind, von Person zu Person etwas variieren.
Doch Einsamkeit ist das Gefühl: „Das, was mich bewegt, hat hier keinen Platz. Ich habe das Gefühl, dass ich das, was mir wichtig ist, hier nicht zeigen darf. Ich als Person, so wie ich wirklich bin, zähle hier nicht. An meinem Kern ist hier niemand gelegen.“
Wie viele Kinder und Jugendliche spüren diese Einsamkeit schon in der Schule?
Den deutlichen Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinsein kann man auch sehr gut an folgendem Beispiel erkennen:
Stellen Sie sich vor, Sie haben den ersten Arbeitstag in einem neuen Unternehmen. Sie sind unheimlich aufgeregt, da dies ein sehr wichtiger Karriereschritt für Sie ist. Sie haben die ganze Nacht kaum ein Auge zu gemacht. Im Büro angekommen, werden Sie dann nur ganz flüchtig begrüßt. Niemand fragt Sie, wie es Ihnen geht! Niemand nimmt sich Zeit für ein Gespräch. Stattdessen bekommen Sie gleich einen riesengroßen Stapel Aufgaben auf Ihren Schreibtisch gelegt. In diesem Moment fühlen Sie sich bestimmt zutiefst einsam, obgleich in dem Großraumbüro noch 30 andere Menschen arbeiten.
Was bedeutet es für uns Menschen als soziale Wesen, diese Art von Einsamkeit ständig zu erleben? Die Antwort darauf ist (leider) sehr eindeutig:
In Momenten, in denen wir erfahren müssen, wie wir aus einer Gemeinschaft ausgeschlossen werden, wenn wir die Erfahrung durchleben müssen, so wie wir sind, nicht dazugehören zu dürfen und nicht mit all unseren Talenten und Potentialen gesehen zu werden, kommt es zu Aktivierung jener Zentren unseres Gehirns, die auch immer dann aktiviert werden, wenn wir einen körperlichen Schmerz erleiden. 1,2 Tiefe Einsamkeit hat für unseren Organismus die gleiche Stressbelastung zur Folge wie ein körperlicher Angriff. 3
Allein aus diesen beiden (neuro-)biologischen Erkenntnissen lässt sich aus meiner Sicht etwas Weitreichendes ableiten:
Wenn wir die Erfahrung machen, dass da niemand ist, der uns als Person in unserer Einzigartigkeit sieht, wenn wir erleben müssen, dass jemand etwas aus uns machen will, dass wir gar nicht sind, ist es uns nicht möglich, auch nur ansatzweise unsere Potentiale zu entfalten.
Was mich zu diesem kleinen Essay führte, war mein Bedürfnis, das Wesentliche dessen, was mich am Bildungssystem stört, so kurz und prägnant wie möglich auf den Punkt zu bringen. In der Kürze dieses Textes liegt für mich, so paradox es klingt, sein besonderer Reiz und seine Schönheit.
Meine eigenen Schulerfahrungen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse habe ich ausführlich in meiner ersten Publikation: „Ich weiß, dass du nur Gutes willst: Ein 18-Jähriger erzählt, wonach sich junge Menschen wirklich sehnen“ ausgeführt. Hier scheint mir nicht der richtige Ort dafür zu sein.
Dieser Text ist eher eine Art Handreichung für alle, die zu spüren beginnen, dass es so wie bisher in der Bildung nicht weitergehen kann. Eine Anstiftung zum Umdenken, eine Ermutigung, Begriffe wie „Lernen “ oder „Bildung“ neu zu verstehen. Jetzt!
Vor ein paar Wochen schrieb ich auf Instagram: „Liebes Bildungssystem, Du tust mir manchmal sehr leid, wenn ich Dich hier so hart angehe! Doch ich möchte, dass Du weißt, dass ich mir eigentlich gar nicht viel von Dir wünsche: Uns Schüler*innen würdest Du schon ein großes Geschenk machen, wenn wir einfach keine Angst mehr vor Dir haben müssten: keine Angst mehr davor, dass Fehler, Misserfolge oder schlechte Leistungen, die wir bei Dir erbringen, unsere Zukunft noch lange negativ beeinflussen könnten! Einfach völlig angstfrei sein zu können, wenn wir mit Dir in Kontakt kommen, das zählt zu unseren größten Wünschen!“
Wer mein erstes Buch gelesen hat, der weiß, dass ich empirische Evidenz liebe und mir Quellen sehr wichtig sind. Ich habe in meinem ersten Buch auch Zahlen zu Häufigkeit von Depressionen bei Kindern und Jugendlichen veröffentlicht.
Hier habe ich mich aus zwei Gründen dagegen entschieden, Zahlen zur Häufigkeit von Schulangst oder Stresssymptomen bei Kindern und Jugendlichen zu erwähnen:
- Schulangst oder chronischer Stress bei Kindern und Jugendlichen ist ein multifaktorielles Geschehen, sprich es hat viele Ursachen. Das familiäre Umfeld beispielsweise oder Mobbing können dabei eine große Rolle spielen. Die zwei genannten Faktoren wechselwirken zwar auch in vielfältiger Weise mit dem Schulsystem, dies zu untersuchen ist jedoch die Aufgabe anderer Publikationen und kann an dieser Stelle von mir nicht geleistet werden.
- Ich möchte nicht darüber sprechen, ob nun 10 % oder 50 % aller Schülerinnen unter Schulstress oder sogar Schulangst leiden. Denn dann bleibt immer die Frage offen, was denn mit den anderen 90 % beziehungsweise der anderen Hälfte sei, die nicht unter diesen Beschwerden leiden. Warum sind sie resilienter? Und wie kann man diese Resilienz bei den nicht so resilienten Kindern steigern? Durch Trainingsprogramme, spezielle pädagogische Maßnahmen oder Stressbewältigungstechniken? Stattdessen möchte ich dafür sensibilisieren, dass ich das Recht auf angstfreie Bildung schlicht und einfach für eine ethische Forderung halte! Vielleicht irre ich mich, aber ich glaube, Zahlen würden an dieser Stelle den Blick darauf versperren, dass die Schule niemals ein Ort der Angst, Furcht und des Leistungsdrucks sein darf! Ich möchte das Wort Bildung systematisch von Angst und innerer Spannung entkoppeln! Eine 17-jährige Schülerin schrieb einmal: „Unter Bildung wird meist das Aneignen von Wissen unter Leistungsdruck (und damit auch Angst) verstanden.“ […] 4 Und das dürfen wir nicht hinnehmen! Was kommen in Ihnen für Gefühle hoch, wenn Sie an das Wort Bildung denken? Ich will in keiner Weise schöne Schulerfahrungen leugnen, doch insgesamt kann man schon sagen, dass Bildung als etwas angesehen wird, dass es durchzustehen gilt! Manchmal frage ich mich, wie zukünftige Generationen (wenn sie noch über ausreichend Lebensgrundlagen verfügen sollten!), das Bildungssystem von heute bewerten würden? Ich könnte mir sehr gut vorstellen, dass sie sagen werden: „Damals wurde es als „Bildung“ bezeichnet, vorgegebene Inhalte an einem vorgegebenen Ort zu einer vorgegebenen Zeit auswendig wiedergeben zu können! Außerdem wurde von vielen geglaubt, dass dieses „Lernen“ eine gewisse Form von Druck bräuchte! Dieser Druck wurde durch Bewertungen in Form von Zahlen zwischen 1 und 6 ausgeübt! Und wenn man die falsche Zahl auf dem Papier stehen hatte, konnte das die eigene Zukunft noch lange negativ beeinflussen! Was müssen das damals für Menschen gewesen sein?“ Der renommierte Bindungsforscher und Kinder- und Jugendpsychotherapeut Prof. Dr. Karl Heinz Birsch schrieb einmal: „Bindungssicherheit ist eine Voraussetzung für kognitive und emotionale Lernprozesse.“ 5 Ja, wahrscheinlich hat Birsch damit vorwiegend die Phase der frühkindlichen Entwicklung gemeint, doch wenn wir dieses Wissen einmal vergessen und den Satz „Bindungssicherheit ist eine Voraussetzung für kognitive und emotionale Lernprozesse“, so lesen, als sei uns das nicht bewusst, wird uns doch schnell klar, dass schon dieser eine Satz so ziemlich unser ganzes Schulsystem ad absurdum führen könnte, oder etwa nicht? In so vielen Lehrbüchern für Psychotherapie wird die Wichtigkeit der Eltern-Kind-Beziehung für die emotionale Entwicklung betont. 6 Dort lautet überall der Tenor: Wenn sich Kinder so angenommen fühlen, wie sie sind, entwickeln sie eine Art „Sicherheit in sich selbst“, die ihr gesamtes Leben positiv beeinflussen wird. Ich stelle das keinesfalls infrage, sondern stimme dem sogar zu. Unbestritten hat das häusliche Umfeld den größten Einfluss auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Doch mich ärgert es auch, dass die emotionalen Auswirkungen unseres Schulsystems in diesen Lehrbüchern scheinbar keine Rolle spielen. Mir ist jedenfalls noch kein Lehrbuch für Psychotherapie begegnet, dass unser Schulsystem im Hinblick auf die Frage unter die Lupe nimmt, ob Kinder und Jugendliche sich dort in ihrer einzigartigen Individualität gesehen fühlen – also jene Bedingungen vorfinden, die die besagten Psychotherapeutinnen schon als überaus entwicklungsfördernd erkannt haben.
Als ich darüber nachdachte, wurde mir klar, dass meine Forderungen für eine neue Bildung gar nicht so radikal sind, wie ich bis dahin dachte. Mir wurde klar, dass man nur in der Antwort auf zwei Fragen mit mir übereinstimmen muss, um Bildungsrebell*in zu sein: - Sollte Bildung dasjenige Werkzeug sein, das Kinder und Jugendliche befähigt, mit einem starken Vertrauen in sich selbst, in die Mitmenschen und in das Leben hinaus in die Welt zu gehen?
- Könnte es sein, dass Kinder und Jugendliche zum Aufbau dieses Vertrauens vor allen Dingen das Gefühl brauchen, dass sie gut so sind, wie sie sind? Also etwas, dass man als „bedingungslos annehmende Begegnung“ bezeichnen könnte?
Alle, die diese zwei Fragen mit „ja“ beantworten können, sind ebenfalls Bildungsrebell*innen!
Denn die Botschaft von gefühlt allen Kinderbüchern lautet: „Du bist einzigartig! Du hast so viele besondere Talente! Vertraue dir und vergleiche dich nicht mit anderen!“ Ich bin mir sicher, es ist ein großer Wunsch der meisten Eltern, dass ihre Kinder dieses tiefe Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten entwickeln! Doch in unserem Schulsystem ist dieser Wunsch in keiner Weise erkennbar!
Um welchen Schritt könnten wir heute schon weiter sein, wenn wir verstehen würden, dass uns alleine immer etwas fehlt?
Wir werden ja alle als extrem hilfsbedürftige Wesen geboren. Ein Fohlen erblickt morgens das Licht der Welt und noch am selben Tag kann es schon selbständig laufen. Bei uns Menschen ist das bekanntlich anders! Und diese Bezogenheit auf andere Menschen, dieses Angewiesensein auf Resonanz bleibt unser ganzes Leben lang bestehen. Kennen wir nicht alle die sehr beängstigende Erfahrung, dass wir auf etwas angewiesen sind, was wir nicht beschreiben können?
Es gibt immer wieder Momente, in denen wir es spüren, doch wenn wir versuchen, es zu beziffern, gleitet es uns durch die Finger. Ich muss gerade an die Tage nach Weihnachten denken, als ich noch klein war: Die Spielzeuge hatten nur solange ihren Zauber, bis ich sie vollständig verstand! Sobald ich jede Funktion kannte, sobald ich das Spielzeug im wahrsten Sinne des Wortes BENUTZEN konnte, war ich zwar sehr glücklich, doch es erlisch auch ein kleines bisschen das Leuchten in meinen Augen!
Viele Eltern können ein Lied davon singen: Da hat man das neuste und tollste Spielzeug aus dem Interessenbereich des Kindes gekauft und geht davon aus, dass sich das Kind nun drei Monate lang mit nicht viel anderem beschäftigen wird, schließlich wurde doch schon seit drei Monaten um eben dieses Spielzeug gebettelt. Es liegt nun unterm Weihnachtsbaum und die ersten drei Tage wird in einer unvorstellbaren Intensität damit gespielt, doch nach zwei Wochen wird es schon viel seltener aus dem Schrank geholt und schon nach drei Monaten liegt es größtenteils in der Ecke! Was ist passiert?
In dem Maße, in dem das Spielzeug immer mehr verstanden wurde und man irgendwann auch noch das letzte Detail kannte, verlor es zumindest ein Teil seines Zaubers! Krass, oder?
Jetzt spreche ich etwas poetisch: Etwas verliert für mich dann seinen Zauber, wenn es mir nichts mehr „zu sagen hat“. Daraus lässt sich schließen, dass mir die Welt, meine Mitmenschen oder die Natur nur dann „etwas zu sagen haben“, wenn ich versuche, sie nicht zu BENUTZEN, so wie man im Falle des Spielzeuges tatsächlich von BENUTZEN spricht! Das würde aber bedeuten, dass ich mich aufrichtig dafür entscheiden müsste, das, was mir in diesem Moment als „das Andere“ begegnet, gerade wegen seiner Verschiedenheit von mir wertzuschätzen. Erst dann kann ich mich von diesem „Anderen“ wirklich berühren lassen! Mir fällt keine schönere Beschreibung der Grundlagen von Demokratie ein! Der Soziologe Hartmut Rosa nennt dies in seinem großartigen Buch „Unverfügbarkeit“ die Erfahrung von „Resonanz“. 7
Er sieht in dieser Resonanzfähigkeit sogar eine wesentliche Voraussetzung der Demokratie, was in dem von ihm stammenden Satz zum Ausdruck kommt: „Demokratie bedarf eines hörenden Herzens, sonst funktioniert sie nicht.“ 8
Ich habe am Beispiel des Spielzeuges zu erklären versucht, dass wir dann, wenn uns unsere Resonanzfähigkeit verloren geht, beginnen, zu der Welt in eine Beziehung zu treten, in der wir sie als Objekt betrachten und zu benutzen beginnen. Das Drama der Klimakatastrophe liegt genau darin, dass wir irgendwann begonnen haben, die Natur zu benutzen. Hartmut Rosa würde sagen, die Welt ist für uns zum „Aggressionspunkt“ geworden. 9
Warum konnte unser Bildungssystem das nicht verhindern? Oder hat es sogar zu dieser Entwicklung beigetragen? Bei Instagram habe ich einmal den sehr provokanten Satz geschrieben: „Wenn ich mir Wissen anzueignen versuche, verliert es seinen Zauber!“ Wir sagen ja zum Beispiel tatsächlich auch: „Ich BEHERRSCHE die englische Sprache!“
Wenn Wissen seinen Zauber nicht verlieren soll, müssen wir von ihm berührt werden! Wir haben dafür ein wunderbares Wort: Es heißt Bildung! Ich meine damit natürlich nicht, dass Dinge dann ihren Zauber verlieren, wenn wir sie erkunden, erforschen und entdecken wollen. In diesem Moment sind wir in einem „Resonanzverhältnis“ zur Welt, weil wir davon ausgehen, dass uns eben die Dinge, die wir erforschen wollen, „etwas zu sagen haben“. Wir sind von Ihnen berührbar.
Doch ich wage zu behaupten, dass man in dem Moment, in dem man am Abend vor der sehr wichtigen Englischklausur verzweifelt die letzten Vokabeln in sein Gehirn zu stopfen versucht, noch von der Schönheit der englischen Sprache berührt werden kann. Es ist ganz so, wie Rainer Maria Rilke einmal dichtete:
„Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. Sie sprechen alles so deutlich aus: Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus, und hier ist Beginn, und das Ende ist dort. Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott, sie wissen alles, was wird und war; kein Berg ist ihnen mehr wunderbar; […] Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern. Die Dinge singen hör ich so gern. Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm. Ihr bringt mir alle die Dinge um.“ 10
Ich glaube, diese Desillusionierung erleben auch einige Kinder in der Schule, nämlich immer dann, wenn sie merken, dass die große Vielfalt der Welt nun zu sogenanntem „Lernstoff“ verkommt, den man sich in möglichst kurzer Zeit und bisweilen sogar mit der Angst, ob man ihn zum richtigen Zeitpunkt ordnungsgemäß abrufen kann, anzueignen versucht. Doch meine radikale Gegenthese lautet, dass Bildung immer erst dann gelingt, wenn man zu staunen beginnt. Es ist diese Art des Staunens, die der Starpianist Igor Levit in einem Interview mit „Die Zeit“ beschrieb. Er wurde gefragt: „Können Sie den ersten Satz der Mondscheinsonate noch hören?“
„Ja. Ich habe die Sonate erst kürzlich gespielt. Je häufiger ich eine Sonate spiele, je mehr ich damit arbeite, desto weniger verstehe ich sie, desto mehr entfernt sie sich von mir, desto glücklicher werde ich damit, und desto öfter, will ich sie spielen. […] Ich möchte nie sagen: Das habe ich verstanden, das Nächste, bitte. [Das] Ziel ist: Ich möchte immer wieder am Anfang ankommen.“ 11
Ist das nicht wunderschön? Wäre es nicht toll, wenn Kinder möglichst früh Gelegenheit hätten, mit diesem Staunen, dieser Ehrfurcht in Berührung zu kommen? Ich gehe sogar so weit, mich zu fragen, ob das nicht die wichtigste Aufgabe von Bildung wäre. Denn wie würde unsere Welt aussehen, wenn wir alle diese Ehrfurcht vor unseren Mitmenschen und der Natur leben würden?
Ich hoffe sehr, dass an diesem Punkt deutlich wird, dass dies keine elitären Überlegungen ohne praktischen Wert sind. Denn unsere Welt wäre jetzt schon eine andere, wenn wir diesen tiefen Respekt vor dem Leben intensiver verinnerlicht hätten. Wenn ich als Kind oder Jugendlicher möglichst häufig Gelegenheit bekomme, mit etwas in Berührung zu kommen, das mich zum Staunen bringt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ich das, worüber ich staune, in seiner einzigartigen Individualität bewahren möchte.
Was sind das für Gelegenheiten? Es sind Momente, wie sie beispielsweise in dem von Margret Rasfeld an der „Evangelischen Schule Berlin Zentrum“ (ESBZ) eingeführten Schulfach „Verantwortung“ entstehen. Ich zitiere hierzu zwei Beispiele aus dem Buch „Schulen im Aufbruch – Eine Anstiftung“ von Magret Rasfeld und Stephan Breidenbach (2014, S. 18- 19, Kindle Edition): 12
Hermann (13 Jahre): „Ich besuche jede Woche Frau Hensel im Seniorenheim. Sie sitzt im Rollstuhl, weil sie einen Schlaganfall hatte und nicht richtig laufen kann, auch sprechen kann sie kaum. Deshalb habe ich einen Rollstuhlführerschein gemacht, damit ich sie herumfahren darf“, erzählt Hermann stolz. Er bringt die Dame jedes Mal in die Kapelle des Seniorenheims, in der ein Klavier steht. Hermann schiebt den Rollstuhl so vor das Klavier, dass die Frau die Tasten sehen kann. „Ich spiele ihr immer vor, dann freut sie sich.“ Die ältere Dame freut sich jedes Mal aufs Neue über den Besuch, den strahlenden Hermann und die schönen Klänge. Nach den ersten Treffen hat Hermann gespürt, dass hier etwas Gutes und Besonderes geschieht. Er ist Autist, hat das Asperger Syndrom und ist ein hochsensibles Kind. Er war sich sicher, dass das Klavierspielen für die ältere Dame Bedeutung hat. In den gemeinsamen Treffen schiebt er sie deshalb immer wieder an das Klavier, legt manchmal ihre Hände ganz bedacht auf die Tasten und drückt sie sanft gemeinsam mit ihr. „Seitdem Hermann da ist, haben wir das Gefühl, dass Frau Hensel sich wieder freuen kann. Sie tritt wieder mehr mit uns in Kontakt und wirkt viel lebhafter“, so die Pflegerin. „Vor zwei Wochen habe ich erfahren, dass Frau Hensel früher Pianistin war“, erzählt Hermann bewegt. Ein magischer Moment.
Sophia, 13 Jahre alt, macht ihr Verantwortungsprojekt in einer Grundschule mit 90 % Schülern mit Migrationshintergrund. Sie ist eine der vier Schulen im Kooperationsverbund »Sprachbotschafter«. Sophia erzählt: „Wenn ich komme, werde ich meistens von der Klassenlehrerin begrüßt, und sofort kommen dann Schüler angerannt und hängen sich an mich und freuen sich und rufen „Sophia, hallo, kannst du heute mit mir arbeiten? Bitte!“ Sophia arbeitet seit einigen Monaten mit Nguyen, einer Schülerin, die bis zur zweiten Klasse kein Wort zu Blatt gebracht hat. „Wir spielen miteinander und ich lese Nguyen Geschichten vor. Es war schön zu erleben, dass sich Nguyen immer mehr zugetraut hat. Sie hat dann mal ein Wort geschrieben und später Sätze und dann ging es immer weiter. Und dann geschah das Unglaubliche: Nguyen hat eine kleine Geschichte geschrieben.“ Sophia beendet ihren Vortrag mit dem Satz: „Die Zeit mit Nguyen hat mich verändert. Es hat mir Sinn gegeben. Ich habe gemerkt, dass ich nicht das kleine Kind bin, das in der Ecke steht und nichts kann. Ich habe gemerkt, dass ich gebraucht werde. Leute schätzen das wert, was ich mache. Am meisten berührt mich, wie sehr die Kinder mir vertrauen. So etwas habe ich noch nie erlebt.“
Man könnte diese Erfahrungen auch so zusammenfassen: „Ich bin dankbar, für all die große Vielfalt, der ich begegne und ich darf selbst ein Teil der großen Vielfalt sein, der andere begegnen!“ Die Philosophin Hannah Arendt hat es folgendermaßen ausgedrückt: „Wir können etwas beginnen, weil wir Anfänge und damit Anfänger sind.“ 13
Daraus folgt, dass Bildung etwas ganz anderes ist als Wissen. Vielleicht ist eine der wesentlichen Aufgaben von Bildung, mir zu ermöglichen, eine Ehrfurcht vor dem Leben zu entwickeln, so wie sie Albert Schweitzer als Grundvoraussetzung für ethisches Handeln postulierte. Das Wort Ehrfurcht scheint sehr altmodisch, doch ich persönlich liebe dieses Wort über alles. Es bringt genau das auf den Punkt, worum es meiner Ansicht nach geht: Ich ehre etwas so sehr, dass ich schon bei dem Gedanken daran, es nach meinen Vorstellungen verändern zu wollen, zurückschrecke, mich also vor diesem Gedanken fürchte.
Was diese Ehrfurcht gegenüber anderen Menschen bedeutet, fasste der Psychologe Carl Rogers in ein sehr poetisches Bild: „Menschen sind genauso wundervoll wie ein Sonnenuntergang, wenn ich sie sein lassen kann. Ja, vielleicht bewundern wir einen Sonnenuntergang gerade deshalb, weil wir ihn nicht kontrollieren können. Wenn ich einen Sonnenuntergang betrachte, wie ich es vor ein paar Tagen tat, höre ich mich nicht sagen: „Bitte das Orange etwas gedämpfter in der rechten Ecke und etwas mehr Violett am Horizont und ein bisschen mehr Rosa in den Wolken. Das mache ich nicht. Ich versuche nicht, einem Sonnenuntergang meinen Willen aufzuzwingen. Ich betrachte ihn mit Ehrfurcht.“ 14
Auch diese Gedanken sind keineswegs so elitär, wie sie klingen, denn der Grundsatz „Ehrfurcht vor dem Leben!“ von Albert Schweitzer steht in schulischen Lehrplänen für Ethik und Religionslehre. 15
Ich möchte natürlich nie irgendjemand etwas unterstellen. Ich weiß, dass alle an der Schule Beteiligten nur die besten Absichten haben. Doch ich frage mich schon, ob die Verantwortlichen für diese Lehrpläne daran gedacht haben, dass diese Ehrfurcht vor dem Leben auch eine Ehrfurcht vor den unvorstellbaren Potentialen eines jeden Kindes bedeuten müsste.
Während dem Schreiben kommt mir gerade ein Text der weniger bekannten A-cappella-Gruppe Maybebop in den Sinn:
„Doch was mir fehlt, sind ab und zu ein paar Geigen, die mich tragen und begleiten Während ich durchs Leben geh. Ja, was mir fehlt, sind ab und zu ein paar Geigen, die mir das, was schön ist, zeigen, damit ich’s nicht überseh.“ 16
Wir wissen heute eines sehr genau: Jeder Mensch braucht in dem Universum, das in uns allen verborgen liegt, auch einen Leitstern. Dieser Leitstern ist das Gefühl: „Du bist gut so wie Du bist!“ Wie viele Kinder und Jugendliche haben dieses Gefühl, diesen Leitstern viel zu selten oder sogar noch nie gespürt? Könnte Bildung zu einem Teil dieses Leitsterns werden? Ist das nicht sogar ihr Kernanliegen? Jetzt kommt eine kindlich-naive Überlegung: Seit ich mich mit diesen Themen beschäftige, habe ich mich schon oft gefragt: „Kann es sein, dass der liebe Gott wollte, dass es den Begriff „Bildung“ gibt? Wenn es nur um Wissen oder Lernstoff gehen sollte, wäre es doch viel einfacher, unser Bildungssystem „Wissensvermittlungssystem“ oder „Lernstoffvermittlungssystem“ zu nennen? Doch alleine der Begriff Bildung zeigt mir, dass es da noch mehr geben muss.
Der Pädagoge Georg Kerschensteiner sagte einmal: „Bildung ist das, was zurückbleibt, wenn man das Gelernte wieder vergessen hat.“ 17 Nun bleibt also nur noch die Frage: Was soll unseren Kindern zurückbleiben?
Quellen:
- Eisenberger, Naomi I.; Lieberman, Matthew D.; Williams, Kipling D. (2003). „Does rejection hurt? An fMRI study of social exclusion“. Science. 302 (5643): 290–292. doi:10.1126/science.1089134. PMID 14551436.
- Eisenberger, N. : The neural bases of social pain: Evidence for shared representations with physical pain (2012)
- John T. Cacioppo und William Patrick, Loneliness: Human Nature and the Need for Social Connection (New York: W.W. Norton, 2008), S. 94 f.
- Reinke, Andreas: VertrauensBildung: Wege aus der Schulangst (familylab-Schriftenreihe) (S.5). Mathias Voelchert GmbH edition +plus. , 2017, Kindle-Version.
- Birsch, Karl Heinz: „Schütze mich, damit ich mich finde“ Bindungspädagogik und Neuerfahrung nach Traumata S. 150 [Kindle Edition] in: Bausum, Jacob; Besser, Lutz Ulrich; Kühn, Martin; Weiß, Wilma (Hrsg.) : Traumapädagogik: Grundlagen, Arbeitsfelder und Methoden für die pädagogische Praxis, Belz Juventa, 2013.
- Ausgewählte psychotherapeutische Literatur, die die Wichtigkeit der Eltern-Kind Beziehung für die emotionale Entwicklung betont:
Hartmann-Kottek, Lotte: Allgemeine Psychotherapie: Schulenübergreifende Wirkprinzipien und gemeinsame Theorieaspekte (Psychotherapie: Praxis), Springer Fachverlag, 2021.
Behr, Michael; Hüsson, Dorothea; Luderer, Hans-Jürgen; Vahrenkamp, Susanne: Gespräche hilfreich führen: Band 1: Praxis der Beratung und Gesprächspsychotherapie: personzentriert – erlebnisaktivierend – dialogisch (Edition Sozial), Kapitel 1 und 2, Belz Juventa, 2017.
Eife, Gisela: Analytische Individualpsychologie in der therapeutischen Praxis
Das Konzept Alfred Adlers aus existentieller Perspektive, Kohlhammer 2016.
- Rosa, Hartmut: Unverfügbarkeit (Unruhe bewahren) Residenz Verlag, 2018 Kindle-Version.
- Rosa, Hartmut: Demokratie braucht Religion: Mit einem Vorwort von Gregor Gysi (S.55). Kösel-Verlag, 2022. Kindle-Version.
- Rosa, Hartmut: Unverfügbarkeit (Unruhe bewahren) (German Edition) (u. a. S. 15, S. 29). Residenz Verlag. Kindle-Version.
- Rilke, R. M. (1899): Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. In: Mir zur Feier. Gedichte. Berlin: Georg Heinrich Meyer.
- Die ZEIT: https://www.zeit.de/2016/22/igor-levit-pianist-jubilaeum-ludwig-van-beethoven-klaviersonaten
veröffentlicht am 19. 5. 2016 zuletzt abgerufen am 5. 5. 2023, leider hinter einer Paywall) - Rasfeld, Margret; Breidenbach, Stephan: Schulen im Aufbruch – Eine Anstiftung (S.18-19). Kösel-Verlag, 2014. Kindle-Version.
- Arendt, Hannah: Die Freiheit, frei zu sein (S.37). dtv, 2018. Kindle-Version.
- Rogers, Carl R: Der neue Mensch (Konzepte der Humanwissenschaften) (S.31). Klett-Cotta, 2017. Kindle-Version.
- Ehrfurcht vor dem Leben/ der Schöpfung in schulischen Lehrplänen“ : Siehe z. B. :
Lehrplan für katholische Religion im Gymnasialen Bildungsgang Hessen:
Hessen:file:///C:/Users/User/Downloads/g9-katholische-religion.pdf (S. 12,14)
Oder auch:
Lehrplan des Faches Ethik für die Oberschule (Haupt- und Realschule in Sachsen):
file:///C:/Users/User/Downloads/20190809-Eckwertepapiere_und_ueberarbeitete_Lehrplaene-LP_OS_Ethik.pdf (S.28)
(Möglicherweise funktioniert der Link bei Ihnen nicht. Dann einfach „Lehrplan Ethik Oberschule Sachsen“ bei Google eingeben und den 1. Suchtreffer anklicken). - Aus dem Lied „Ab und zu ein paar Geigen“ von Maybebop
- Precht, Richard David: Anna, die Schule und der liebe Gott: Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern (S.25). Goldmann Verlag, 2013 Kindle-Version.