Theaterfestival Avignon – `Nôt` von Marlene Monteiro Freitas – Kritik

NÔT“ von Marlene Monteiro Freitas: Eine rauschhafte, schonungslose, verstörende Anatomie patriarchaler Gewalt

Bei meinem Besuch des diesjährigen Theaterfestivals in Avignon hatte ich das Glück, die Produktion ‚Nôt‘ von Marlene Monteiro Freitas auf der großen Bühne im Papstpalast von Avignon zu sehen. Für mich war der Abend life-changing. Beim anschließenden Lesen der Rezensionen war ich überrascht und irgendwie unzufrieden, weil mir da viel fehlte, was ich gesehen habe und was mich nachhaltig beeindruckt hat. Daher hier noch meine persönliche `Kritik`/Rezension, für alle, die es interessiert und die es noch sehen wollen – im August laufen jetzt noch Vorstellungen in Hamburg (Kampnagel) und in Berlin (Haus der Berliner Festspiele).

Mit NÔT, ihrer neuesten Kreation, die das Festival d’Avignon 2025 eröffnete, entfesselt Marlene Monteiro Freitas ein theatral-performatives Beben, das nicht weniger als eine radikale Befragung von Macht, Ohnmacht, struktureller Gewalt und Widerstand in patriarchalen und kapitalistischen Gesellschaften ins Zentrum stellt. Wer das Stück durch die Linse von Märchen oder klassischer Narration zu fassen versucht, wird scheitern – NÔT ist keine Geschichte. Es ist das radikale Aufzeigen eines gesellschaftlichen Zustandes mit künstlerischen Mitteln – eine Vorstellung, die mir durch den gesamten Körper gegangen ist und deren krasse Bildsprache noch Tage weiter in mir gewirkt hat. 

Im Zentrum dieses so dichten wie verstörenden Abends steht die Frage: Was muss ein Mensch, der von normierten Erwartungen abweicht, alles tun, um zu überleben – in einer Welt, die ihm ansonsten das Menschsein abspricht? 

Die Referenz an Scheherazade, die in Tausendundeine Nacht durch kluge, endlose Erzählkunst ihrem Tod entgeht, wird hier nicht als exotisches Zitat, sondern als bitteraktuelles Prinzip aufgegriffen. NÔT ist der verzweifelte Tanz derer, die – wie Scheherazade – Tag für Tag neu performen müssen, um nicht „geschlachtet“ zu werden von einem System, das nicht für sie gemacht wurde. 

Die Bühne, ganz in Weiß gehalten, wirkt wie eine Versuchsanordnung – steril, fast medizinisch – und verweist auf die kalte, strukturelle Gewalt eines Systems, das „Anderssein“ systematisch pathologisiert. 

Feldbetten, Waschschüsseln, Wasserkrüge – alles erinnert an Lazarett, an Quarantäneräume, an Gefängnisse, Lager. Orte der Verwahrung, der Kontrolle – Orte, an denen Macht über verletzliche Körper ausgeübt wird. Und genau das sind die Körper hier: verletzlich, widerspenstig, hyperpräsent.

Freitas’ Performende erscheinen zunächst in geraden, schwarzen Samtkleidern, mit starren Blicken und maskenhaften Gesichtern – sie wirken wie lebendig gewordene Puppen. Die Choreografien, die sie vollziehen, sind durchzogen von Gehorsam und Zwang und rufen bildhafte Assoziationen an alles Autoritäre, an Rituale der Unterdrückung auf:

Marschieren, Synchronität, Trommeln im Militärstil, das immer wieder ‚Neu-Beziehen’ der von Blut besudelten Betten und zwanghaftes Reinigen in obsessiven Bewegungen. Diese Gesten verweisen auf eine Gesellschaft, in der Unterwerfung zur Überlebensstrategie wird – insbesondere für Frauen, für Kranke, für Queers, für Alte, für Schwarze, für nicht-normative Menschen jeglicher Art.

Die Musik – allen voran Strawinskys Les Noces – verstärkt die Ambivalenz des Abends: Die Komposition, eine Feier der Hochzeit, wird zur Kulisse für ein Ritual der Gewalt.

Denn auch die Ehe ist hier natürlich null eine Liebesgeschichte, sondern ein Tauschhandel, ein Vertrag über Besitz, über den weiblichen Körper. Die blutigen Laken, die rituellen Waschungen, der scheinbar festliche Mahlgang – all das entlarvt die Brutalität, die sich hinter den Fassaden kultureller Normen verbirgt.

Fast unerträglich lang erscheint die  Szene des ‚Vollzugs der Ehe’ – die in Sounds, Bewegungen und Bildern deutlich macht, worum es sich natürlich EIGENTLICH handelt:

Um eine Vergewaltigung – eine Szene, in der durch das Zusammenspiel von präzisen und überwältigenden Lichteffekten, Musik, Kostüm und Choreografie die brutale Einsamkeit und Ohnmacht der sexuell ausgebeuteten, objektifizierten, misshandelten Frau im Zentrum steht und den Zuschauenden keine Möglichkeit lässt, sich emotional zu entziehen. 

Es schreit geradezu von der Bühne: SEHT ihr den Irrsinn der patriarchalen, autoritär geprägten Narrative?? All das Müssen und das Sollen, all das „NORMALE“, das alles Menschliche, Verbindende im Keim erstickt und unendliches Leid und Unrecht produziert? SPÜRT ihr den Schmerz?? DAS lasst ihr ZU? DAS soll normal sein??

Die Fülle der Zeichen, die Wucht der Bilder, die Präsenz der Sounds und der Musik, die Energie der Performer:innen: All das ein scheinbar notwendiger Kraftakt an überwältigender Intensität und Radikalität, um eine Gesellschaft in merkwürdiger Lethargie und Gleichgültigkeit (im Angesicht all dieser Zustände und der Lage der Welt) in irgendeiner Weise zu ERREICHEN, zu erschüttern.  

Die Masken der Darsteller:innen – puppenhaft, mit gelbem Teint, glotzenden Augen – machen aus ihnen Objekte, entindividualisieren sie, zwingen sie in Rollen. Sie verweisen auf die Objektifizierung durch den männlichen Blick, auf ein System, das nicht fragt: „Wer bist du?“, sondern nur: „Bist du brauchbar?“ Die Performer:innen antworten darauf nicht mit Worten, sondern mit Körpern, Bewegungen, Blicken, die zurückstarren. Ihre Körper werden zur Sprache. Ihre Gesten zur Anklage.

Doch NÔT bedient keine Opferästhetik. Die Groteske, das Überzogene wird hier zur Strategie des Widerstands. Immer wieder erheben sich die Performer:innen, die changierend jeweils weiblich oder männlich gelesen werden können, in unerwarteten Ausbrüchen, in komisch-skurrilen Überzeichnungen und ungebändigter Energie.

Der Körper, der in der patriarchalen Ordnung sexualisiert, diszipliniert und normiert wird, wird hier zum Ausdrucksträger seiner eigenen Widerspenstigkeit. Das Lachen, das hier aufkommt, bleibt im Halse stecken – zu schmerzhaft ist die Wahrheit, die sich darin zeigt: Die Selbstinszenierung als letzte Waffe der Machtlosen.

Ich weiß: Auch dieser Text deckt nicht ansatzweise all das ab, was ich gesehen und vor allem auch emotional und im Körper „durchgemacht“ habe beim Schauen dieser unglaublichen Inszenierung. Kann nur dringend empfehlen, selber hinzugehen und dieses krasse, kluge und extrem aufwühlende Theater selbst zu erleben. Abschließend bleibt nur noch zu sagen:

„NÔT“ ist nicht leicht zu ertragen – aber das soll es auch nicht sein. In einer Welt, in der rechte Ideologien erstarken, in der Frauenrechte rückgebaut, queere Existenzen bedroht und Schwäche verachtet wird, ist dieses Stück ein lauter, verstörender Aufschrei. Freitas zeigt: Die Bühne ist hier ein sinnbildliches Schlachtfeld – (Abbild eines gesellschaftlichen Zustandes, den eine Mehrheit verrückterweise noch irgendwie als ‚normal’ abnickt) – UND aber auch ein Ort des Überlebens, der Magie und der Selbstermächtigung.

So wird NÔT zum Spiegel unserer Zeit – und zu einer Hommage auf all jene, die wie Scheherazade Tag für Tag mit Fantasie, mit Klugheit, mit Körper und Stimme um ihr Leben erzählen und sich und diese Welt noch nicht aufgegeben haben.