Vom Gehorsam zur Selbstverantwortung – das Mischpult-Prinzip
Maike Plath
Vom Gehorsam zur Selbstverantwortung – das Mischpult-Prinzip
Eskalierende Gewalt an der Berliner Friedrich-Bergius-Schule
Die derzeitige Berichterstattung über die Berliner Friedrich-Bergius-Schule in Berlin Friedenau macht mich grad fassungslos. Ich war selbst fast zehn Jahre an einer sog. ‘Brennpunktschule’ in Neukölln Lehrerin (2004-2013), habe den Rütli-Skandal miterlebt und in all den Jahren sehr eindrücklich erfahren, wie nutzlos autoritär geprägte Verhaltensweisen und Maßnahmen in solchen Situationen sind – und welche Eskalations-Dynamiken dadurch langfristig VERURSACHT werden.
Ich bin keineswegs unkritisch bzw naiv gegenüber solchen Buzz-Words wie ‘Partizipation’ – aber ich weiß aufgrund meiner ganzen Praxis-Erfahrung, dass Lernprozesse ausschließlich über Respekt, menschliche Würde und gelingende Beziehungen initiiert werden und langfristig erfolgreich sein können. Ich erlebe seit über 20 Jahren, dass unsere Arbeit mit dem Veto-Prinzip genau hier hilfreich und nützlich ist und deswegen veröffentliche ich hier einen Ausschnitt aus meiner aktuellen Publikation bei BELTZ. Es geht hier nicht um MICH. Es geht darum, dass ich wirklich denke, es muss was passieren. Und das hier ist nützlich:
Ausschnitt aus der BELTZ-Publikation „Das Veto‐Prinzip® – Die sieben Säulen gleichwürdiger Pädagogik“: „In welchem Maße sich Systeme und Strukturen positiv oder negativ auf das Verhalten von Menschen auswirken, konnte ich in meiner Zeit als Lehrerin im Berliner Schulsystem erfahren (siehe auch „Türwächter:innen der Freiheit“, Buch und kostenfreies Hörbuch auf Spotify unter gleichnamigem Titel). Dort hatte sich eine Mehrheit der Menschen in einer „Opfer“-Perspektive eingerichtet – als Reaktion auf ein blockierendes, potenzial-hemmendes System. An den untergehenden Hauptschulen hatten sich die Beteiligten gegen die angeblich schuldigen ANDEREN in Stellung gebracht (das Trennende fokussiert statt Verbindendes zu sehen und zu stärken). Die jeweils eigene, verengte (Opfer)- Perspektive war maßgebend. Die einzelnen Persönlichkeiten wurden nicht mehr individuell gesehen, sondern in „Gruppenhaftung“ genommen. Die Stimmung an den Schulen war wie eine toxische Mischung aus Depression, Ohnmachtsgefühlen, unterdrückter Wut, Zynismus und unterschwellig schwelender Gewalt. Solidarisch unter Kolleg:innen bedeutete, gegen die „furchtbaren“ Jugendlichen zusammenzuhalten. – Null Kooperationsimpuls.
Die Jugendlichen verweigerten bockig bis aggressiv den Unterricht, schmissen Möbel und andere Dinge aus dem Fenster und warfen mit Beleidigungen um sich. Du Hurensohn! Ich ficke diese Schule! – Null Kooperations-Impuls. Die Eltern schienen sich innerlich und äußerlich komplett verabschiedet zu haben und verweigerten jedes Elterngespräch und jegliche Zusammenarbeit. Mensch bekam sie eigentlich nie zu Gesicht. – Null Kooperations-Impuls. Die Berliner Senatsverwaltung schien das Problem nicht sehen zu wollen. Es hieß: Egal, was Sie da machen. Sorgen Sie einfach dafür, dass die Polizei nicht kommt. – Null-Kooperations-Impuls. Erklärungsnarrative, die damals kursierten, waren allesamt negativ und trennend: Diese Jugendlichen sind einfach Abschaum. Und sie werden immer dümmer und immer krimineller. Das Niveau ist abgrundtief gesunken. Vor zehn Jahren waren die Kinder wohlerzogener und schlauer. Aber es wird alles immer schlechter und immer schlimmer.
Es liegt an den vielen „Ausländerinnen“, wahlweise an den Menschen „mit Migrationshintergrund“. (Thilo Sarrazin steuerte ein ganzes Buch dazu bei und beschwor den „Untergang des Abendlandes“). Die Eltern sind schuld, weil sie sich nicht kümmern und weil sie ihre Kinder nicht im Griff haben bzw. falsch erziehen. Die Lehrerinnen sind schuld, weil sie „faule Säcke“ sind bzw. unfähig. Die Politikerinnen sind schuld, weil sie sich nicht für Bildung interessieren und allesamt inkompetent sind. Die Medien sind schuld, weil sie immer nur Skandale sehen wollen und nicht an einer differenzierten Berichterstattung interessiert sind. „Die“ berichten nie die Wahrheit. „Die“ wollen sich nicht integrieren. „Die“ teilen unsere Werte nicht.„Die“ sind alle Gangster. „Die“ wollen hier nur Transferleistungen abgreifen und den Staat unterwandern. „Die“ sind antisemitisch.„Die“ sind nicht kooperativ. „Die“ sind gewaltbereit. „Man kann nichts machen“.„Alles wird immer nur schlechter“.
So lange ich diese Erklärungen glaubte und ihnen Raum gab, ging es mir selbst (!) immer schlechter. Ich war abwechselnd wütend auf die Jugendlichen, auf die Eltern, auf meine Kollegeninnen, auf die Politik – und befand mich in einer Art Weltuntergangsstimmung: Alles wird immer schlimmer. Niemand sieht, was ICH sehe und keiner macht was! Eine sich immer schneller drehende Spirale aus Hilflosigkeit und Wut, genährt aus der Opfer-Perspektive und einem Feindbild, für das sich im Alltag immer mehr Beweise zu finden schienen. Die übliche Strategie, diese Spirale immer weiter zu befeuern, war das Märchen vom heldenhaften Widerstand: Ich gegen den Rest der Welt. Grollend boykottierten die Lehrerinnen jegliche Vorgabe „von oben“ und grollend boykottierten die Schülerinnen jegliche Vorgabe der Institution Schule. Alle fühlten sich „frei“ im „Grundsätzlich-und-Diffus-Dagegen-sein“. Mir war das zu düster. Und auf Dauer zu anstrengend. Wut, Ohnmachtsgefühle und die Erwartung, dass alles immer schlimmer wird – das alles kostet wahnsinnig viel Kraft und macht krank.
Mein persönlicher Weg raus aus diesem Zustand und zurück in die Freiheit bestand darin, von diesem systemimmanenten trennenden und wertenden Denken weg zu kommen und stattdessen das Verbindende zu suchen, dabei die Personen um mich herum wieder differenzierter als einzelne Menschen wahrzunehmen und von Augenblick zu Augenblick kleine, EIGENE Entscheidungen zu treffen. Ich konzentrierte mich auf den jeweiligen Moment und versuchte, irgendetwas zu tun, was sich für MICH ruhiger und besser anfühlte. „Lass die Situation so deprimierend sein, wie sie ist. Ich schau jetzt erstmal, was ich jetzt hier in diesem Moment machen kann, damit es MIR besser geht“.
Rückblickend würde ich das beschreiben als: Vom Modus der „Freiheit gegen einen (vermeintlichen) Feind“ in den Modus der „Freiheit zur Verantwortung“ zu wechseln. Denn wie gesagt: Nicht die Menschen an sich sind unsere Gegner:innen. Es sind die Strukturen, die Menschen in ihrem Verhalten deformieren. Sobald ich nicht mehr die systemische Erwartung zur Maxime meines Handelns und Denkens mache, sondern Integrität und menschliche Würde, gewinne ich wieder Handlungsspielraum und Motivation – vor allem aber wieder Ressourcen, um in Kooperation mit anderen zu kommen.
Ich fand heraus, dass DIE Jugendlichen weder dumm noch kriminell, sondern in Wahrheit auf der Suche nach Liebe waren. Nach Aufmerksamkeit, Zuwendung, Geborgenheit, Sicherheit und Anerkennung. Und dass sie insgeheim hofften, ich würde sie mögen und an sie glauben. Und als ich damit anfing, wuchsen sie über sich selbst hinaus. Mit einigen von ihnen arbeite ich bis zum heutigen Tag zusammen.
Ich fand heraus, dass die Eltern in ihrem Alltag überfordert und am Rande der Verzweiflung waren und dass sie hofften, ich wäre an ihrer Seite und würde ihrem Kind eine bessere Zukunft ermöglichen. Ich verstand, warum sie die demütigenden Termine in der Schule vermieden und arbeitete Schritt für Schritt daran, ihr Vertrauen wieder herzustellen. Ich war beschämt, unter welch unfassbar schwierigen Umständen, sie jeden Tag aufs Neue ihr Bestes gaben, um ihre Kinder zu unterstützen.
Ich fand heraus, dass viele meiner Kollegen*innen sich heimlich wünschten, mutiger zu sein und das zu verändern, was sie krank machte und dass ich bei einigen von ihnen Aggressionen auslöste, weil mein Verhalten ihnen das vor Augen hielt, was sie sich selbst nicht trauten zu tun. Und dass wiederum andere mich hoffnungsvoll beobachteten und mich unterstützen wollten. Und es Schritt für Schritt auch taten. Und zu Freunden wurden. Ich fand heraus, dass das Hauptproblem aller Beteiligten in dem Gefühl von Selbstentfremdung und Resignation lag und dass sich alle unfrei fühlten und daher nicht mehr kooperieren wollten. Mit der Zeit entwickelte ich für mich selbst einen Fahrplan, wie ich Schritt für Schritt bei den Jugendlichen wieder ein Gefühl von Freiheit und Selbstbestimmung herstellen konnte. Aus diesem „Fahrplan“ wurde mit der Zeit das Konzept des „Veto-Prinzips“. Ich selbst lernte dabei am meisten und fand heraus, dass es nicht nur bei Kindern funktioniert, sondern bei jedem von uns.“ (Das Veto‐Prinzip®- Die sieben Säulen gleichwürdiger Führung, BELTZ Verlag 2023, Seiten 36-38)
Weitere Infos findest du auf www.vetoinstitut.de Es muss nicht alles immer schlimmer werden. Es kann – trotz allem – sogar was BESSER werden.
Probier das vielleicht einfach mal aus. Im Moment ändert sich gerade sowieso alles. Dann kann sich an dieser Stelle AUCH endlich mal was ändern. Zum Positiven.
Und abschließender Buchtipp: Rutger Bregman: Moralische Ambition – Wie man aufhört, sein Talent zu vergeuden, und etwas schafft, das wirklich zählt. Rowohlt 2024