Dagegenhalten: Mit dem Veto Prinzip die Demokratie stärken

Das Problem der Demokratie ist nicht Migration, sondern autoritäre Prägungen und wie sie sich auf unser Verhalten, unsere Kommunikation und unsere Strukturen auswirken. Das Autoritäre erlebt gerade ein massives Comeback und führt in Trennung und noch mehr Unrecht und menschliches Leid. Das Autoritäre zieht sich quer durch unsere gesamte Gesellschaft und führt zu immer weiterer Polarisierung und Vereinzelung.
Das Autoritäre erkennen wir an diesem einfachen Satz: “Ich weiß, was für dich richtig ist…” – sobald uns Widerstand entgegenschlägt.
Schon allein dieser Gedanke beim Sprechen mit einer anderen Person erzeugt Trennung, weil darin eine verdeckt autoritäre Haltung steckt. Wann immer ich denke, dass die andere Person „endlich mal was verstehen bzw lernen soll“, diese Person aber im Widerstand ist, dann passiert genau das NICHT.
So verständlich und nachvollziehbar dieser Gedanke manchmal auch sein mag und vielleicht auch berechtigt – er führt nicht zum Ziel.
Menschen öffnen sich für echte Lernprozesse, also für Veränderung, nur auf der Basis von Freiwilligkeit und Integrität – das bedeutet: Wenn ihr Selbstwert intakt bleibt. Das habe ich sowohl in meinen 17 Jahren als Lehrerin, als auch immer wieder in persönlichen Beziehungs-Situationen, (manchmal schmerzlich) lernen müssen:
Wenn „ich weiß, was mein Gegenüber noch lernen soll“, mein Gegenüber aber NICHT WILL, und ich dann in manipulative Verhaltensweisen verfalle (belohnen, bestrafen, beschämen, moralisieren, manipulieren, usw:) – dann lernt mein Gegenüber nichts. Das (vermeintlich) „Beste“, was dann passieren kann, ist äußere Unterwerfung und Schein-Kooperation. Meistens aber Rückzug und Verhärtung der Fronten. Ein echter Erkenntnis-Prozess wird auf diese Weise NICHT in Gang gesetzt.
Wann immer du dich ertappst, dass du dein sich verweigerndes Gegenüber dazu bringen möchtest, etwas zu VERSTEHEN, EINZUSEHEN oder zu LERNEN, was DU schon zu „wissen meinst“, greifst du (oft unbewusst!) auf manipulative Verhaltens- und Sprechweisen zurück und setzt damit eine autoritär geprägte Dynamik in Gang, die den Selbstwert deines Gegenübers herabsetzt und dazu führt, dass ihr euch immer weiter voneinander entfernt.

Wer sich an dieser Stelle selbst überprüft, wird feststellen, wie viel davon noch im eigenen System steckt. Und wie frustrierend sich das anfühlt!
Aber: Wir können einen grundsätzlich entgegengesetzten Weg wählen: Den in die echte Verbindung und Kooperation. Das ist ein Weg, der inneres Wachstum, Reflexion und Arbeit an sich selbst erfordert. Und nicht in drei Sekunden und mit populistischen Versprechungen zu schaffen ist. Aber es ist, aus meiner Sicht, der einzige Weg, wie Demokratien langfristig stabil und zukunftsfähig sein können.
Denn eine Demokratie ist so stark und kraftvoll, wie der Selbstwert der Menschen, die sie gestalten.
Autoritäre Denk- und Verhaltensweisen dagegen, höhlen sie Schritt für Schritt von innen aus, weil sie den Selbstwert der Menschen missachten. Eine Demokratie kann aber nur funktionieren, wenn sie durch Menschen mit einem intakten, gesunden Selbstwert in Kooperation miteinander gestaltet wird. Ansonsten verkommt sie – wie auch der Selbstwert ihrer Bürger*innen – immer mehr zu einer leeren Hülle und einem leblosen Ideal.
Ich schlage hier einen Weg vor, den wir gehen können, um uns trotz bestehender Ungleichheit und verschiedenster Perspektiven wieder menschlich begegnen und gemeinsam neue Lösungen für alte Probleme finden können. Und zusammen Ideen entwickeln können, wie eine Welt sein könnte, in der wir friedlich leben können und in der wir Sicherheit, Sinn und Verbundensein erleben.
Wie kann das gehen?

Wir können Ängste, Wut und Schmerz auflösen und heilen, wenn wir einander wirklich zuhören und uns auf das Abenteuer einlassen, andere Perspektiven zu verstehen.

Das gelingt aber nicht, wenn dabei unterschwellig moralische Bewertungen eine Rolle spielen. Wir spüren sofort, wenn es eine unsichtbare Norm von ‚richtig oder falsch‘ gibt. Und genau das verhindert, dass Menschen sich auf Neues und auf andere Perspektiven einlassen können.
Erst, wenn jede*r Mensch im Raum sich selbst mit all seinen Widerständen, Ängsten und ehrlichen Bedürfnissen spüren und diese zum Ausdruck bringen darf, ohne Herabsetzung und Demütigung fürchten zu müssen, kann gegenseitiges Mitgefühl und echtes Verbundensein entstehen. Und auf dieser Basis die Bereitschaft und Offenheit, Neues, auch bisher Unbekannntes und vielleicht erstmal auch Irritierendes an sich heranzulassen.
Diese Fähigkeit zur Differenz ist die Basis für Demokratie-Fähigkeit. Und weil Demokratien von Menschen gestaltet und gelebt werden müssen, um auf lange Sicht stabil zu sein, ist es diese Fähigkeit zur Differenz, die eigentlich überall gelehrt werden sollte.
Das Format „Open Mic“ aus dem Veto-Prinzip, ist ein bewährter Erfahrungsspielraum, in dem wir das erleben und üben können.
Auf dieser Basis kann dann auch im weiterführenden Veto-Format „Wahrheit oder Pflicht“ die Fähigkeit zu Differenz und echtem Verbundensein weiter trainiert und gestärkt werden.
Die Impulse für Open Mic sind der gegenwärtigen politischen Lage angepasst und können aber beliebig erweitert und thematisch variiert werden. In der im folgenden beschriebenen Variante geht es darum, dass alle den Raum bekommen, ehrlich sagen zu können, was sie bewegt – und dadurch sehr viele verschiedene und vielleicht auch sich widersprechende Positionen ohne Wertung da sein dürfen.
Wenn alle im Raum alles hören, wird deutlich, dass es „nicht nur meine Perspektive auf die Welt gibt“. Ich kann die Gefühle, die bei mir hoch kommen, wenn andere etwas erzählen, zulassen und muss mich nicht auf eine Norm hin verbiegen. Dadurch, dass ich nichts „wegdrücken“ oder anpassen muss, um einer inhaltlichen, moralischen oder politischen Norm zu entsprechen, ist der Anfang gemacht, meine unterdrückten Themen zu ‚befreien‘, statt sie auf andere zu projizieren.
Beispiel: Ich darf wütend darüber sein, dass mein Job unterbezahlt und anstrengend ist, merke aber durch die Sichtweisen der anderen, dass nicht EINE andere Personengruppe daran SCHULD ist.
Statt das Trennende weiter zu verschärfen, wird durch das Arbeiten mit den Erfahrungsspielräumen des Veto-Prinzips das Verbindende fokussiert – ohne dabei bestehende gesellschaftliche Ungerechtigkeit zu kaschieren.
Im Gegenteil: Was ungerecht ist, kann – für manche zum ersten Mal – fühlbar gemacht werden. Aber eben nicht im gegenseitigen Beschuldigen, sondern in der Erkenntnis, dass wir als Menschen durch Umstände getrennt, durch Gefühle, Bedürfnisse, Erfahrungen und Hoffnungen aber erstaunlich ähnlich und verbunden sind.
Dies ist die Basis für den sogenannten Kooperations-Impuls: Wenn ich MICH fühlen darf, kann ich auch die anderen fühlen – und Motivation entwickeln, gemeinsam mit ihnen nach neuen Lösungen zu suchen, die über die übliche Polarisierung von „Entweder Oder. Richtig und Falsch, Links oder Rechts. Usw.“ weit hinaus gehen.
Nach dem Format „Open Mic“ bietet sich der Erfahrungsspielraum „Wahrheit oder Pflicht“ an. Dabei können die inhaltlichen Impulse aus dem vorangegangenen „Open Mic“-Format Grundlage sein für ein weiter vertiefendes und intimeres Gespräch, das durch den Einsatz der sieben demokratischen Führungsjoker die Integrität und Würde aller Beteiligten schützt.
Ich wage zu behaupten: Wenn alle Menschen in Deutschland sich auf diese Weise austauschen und einander begegnen würden, gäbe es keinen Bedarf und keine Stimmen mehr für menschenrechts-verletzende Parteien.
Erfahrungsspielraum „Open Mic – Geschichten am Mikro“
Ziel: Durch Perspektivwechsel und Zeug*innenschaft Ausbildung von Mitgefühl und Fähigkeit zur Differenz (demokratische Kernkompetenz) Lernen, nicht im Außen ‚das Andere’/die ‚Gegnerinnen’/das „Falsche“ zu bekämpfen, sondern im Inneren die eigenen Bedürfnisse, Gefühle und (vielleicht auch nicht erfüllten) Erwartungen, Ungerechtigkeiten und Ängste WAHRZUNEHMEN, zu benennen, gehört zu werden und darüber in menschliche Verbindung zu kommen.
Aspekte:
• Präsenz/Integrität als Ausgangspunkt
• Authentisch mit dem Eigenen „da sein“
bedeutet: Sich den Raum nehmen für die eigenen Gefühle, die eigenen Gedanken und Erfahrungen und (optional) den eigenen „Auftritt“ am Mikro.
Ablauf:
Es wird Musik gespielt.
Alle gehen durch den Raum.
Es liegen Themenkarten im Raum (siehe unten).
Moderation der Führung: Wenn du Lust hast etwas zu sagen: Klatsch in die Hände, alle gehen in einen «Freeze». Du gehst zum Mic, klatschst erneut in die Hände, alle wenden sich dir auf dieses Klatschzeichen hin zu. Dann sprichst du zu einem ausgewählten Karten-Impuls. Wenn du fertig bist, gehst du einfach wieder in den Raum und mischst dich wieder unter die anderen. Dann wird die Musik wieder hoch gefahren und es geht weiter.
Selbst, wenn keine Person an’s Mikro ginge, um etwas zu teilen, und sich alle nur still und im Innern mit den Karten-Impulsen beschäftigen würden, wäre das Ziel des Formats bereits erreicht. Daher muss die Führung überhaupt nicht aufgeregt sein oder Druck machen. Alles, was am Mikro gesprochen wird, ist eher ein zusätzliches Geschenk, das gedanklich und perspektivisch neue Türen öffnet.
Wie immer gelten alle sieben Führungs-Joker: Tempo. Klarheit. Verantwortung. Veto. Freispiel. Störgefühl. Blick von außen.
Moderation der Führung: Bleib bei dir, du musst gar nichts. Sensibilisiere dich für dein inneres Lustbedürfnis. Wenn du nichts am Mikro sagen möchtest, kannst du auch einfach im Raum umher gehen und dich gedanklich mit den thematischen Karten-Impulsen und den Sprechbeiträgen der anderen beschäftigen. Nimm wahr, was das, was andere erzählen bei dir auslöst, aber versuche dich dann wieder zu sammeln und bei dir selbst anzukommen. Wenn du wieder mit dir verbunden bist, kannst du ans Mikro gehen und deins daneben stellen/von dir erzählen. Es geht darum, nicht in eine Diskussion zu kommen, sondern zu üben, immer wieder bei dir selbst anzukommen, die Gefühle wahrzunehmen, die in dir hochkommen und diese aber NICHT gegen die anderen zu richten, sondern den Beziehungs-Modus zu trainieren:
Beziehungs-Modus:
Sich selbst wahrnehmen (Gedanken, Gefühle, Körper)
Von sich selbst sprechen (deutlich, offen und den anderen zugewandt)
Der anderen Person wirklich zuhören
Ambiguitätstoleranz (Unterschiede aushalten)
Erleben von Sicherheit und Verbundenheit
Anschließend Reflexion in der Kleingruppe:
Geh mit 4 anderen Personen zusammen, die gerade in der Nähe stehen und sprich darüber, wie es dir ging, und welche Gefühle und Gedanken aufkamen, während du an diesem Format teilgenommen hast.
Zu den Open Mic-Themenkarten kommen jetzt noch zwei weitere Karten-Impulse dazu:
Was hindert mich daran, bei mir selbst zu sein? (Während dieses Formats und im Alltag)
Was brauche ich, um bei mir selbst sein zu können, sprich: Aus einer Position der Integrität und Authentizität heraus zu agieren?
Teil 2: „Wahrheit oder Pflicht“
Moderation der Führung: Tauscht euch in Trios zu den thematischen Karten-Impulsen im „Wahrheit oder Pflicht-Format“ aus! (Genaue Beschreibung des Formats „Wahrheit oder Pflicht“ in „Das Veto-Prinzip – Die sieben Säulen gleichwürdiger Pädagogik“, Maike Plath, BELTZ 2023, Seiten 46-53)
In einem gemeinsamen Abschluss-Kreis können abschließend „Lieblingsmomente“ und „Lieblingserkenntnisse“ geteilt werden.
Open Mic Impulse
Zur Bundestagswahl:
Wen wähle ich und warum?
Das größte Problem derzeit in Deutschland
Was sollten alle Menschen wissen?
Als ich das erste Mal gewählt habe
Was macht mir Angst?
Darüber rege ich mich gerade am meisten auf
Was mir Mut macht
Warum ich nicht wählen darf und was das für mich bedeutet
Was mich im letzten Jahr enttäuscht hat und wie ich damit umgehe
Was mir gute Laune macht
Was ich über die Partei XY denke und warum ich das denke
Meine größte Hoffnung ist
Was mich vom Wählen abhält
Mein Wahlrecht heißt für mich…
Eine Politikerin, die ich richtig gut finde
Dafür schäme ich mich
Das würde ich eigentlich gerne tun
Wenn ich an die Wahl denke
Was ich derzeit als ungerecht empfinde
Warum aus meiner Sicht das Vertrauen in die Demokratie schwindet
Was wäre für mich die wichtigste Veränderung, die Deutschland meiner Meinung nach jetzt bräuchte?
Wenn ich Bundeskanzler*in sein könnte, was würde ich als erstes tun?
Wo begegne ich Menschen, die anders denken als ich? Welche Gefühle habe ich dazu?
Wann habe ich einmal von jemandem Mitgefühl erfahren, als ich es dringend gebraucht habe?
Persönliches
Ich erzähle eine Narbengeschichte aus meiner Kindheit. (Das können innere oder äußere Narben sein).
Ich erzähle euch, was ich mir als Kind immer gewünscht habe.
Ich erzähle euch, was ich als Kind vermisst habe.
Ich erzähle euch von einer Situation, als ich Gewalt erlebt habe.
Ich erzähle euch von einer Situation, die mein Leben bis heute prägt und auf welche Weise.
Ich erzähle euch von Menschen, die in meinem Leben Mentor:innen für mich waren.
Ich erzähle euch eine typische Familien-Situation aus meiner Kindheit.
Ich erzähle euch von einer Situation, in der ich mich allein gefühlt habe.
Ich erzähle euch von einer Situation, in der ich mich befreit habe.
Orientierung am Veto-Kompass:
Versuche dich sowohl während der Erfahrungsspielräume, aber auch zunehmend in deinem privaten Alltag für folgende Fragen zu sensibilisieren und dich entsprechend deiner inneren Impulse dazu zu verhalten:
1 Was will ich NICHT?
2 Was will ich? (‚Scannen und spüren: Wozu habe ich ein eindeutiges JA?)
3 WIE will ich das?
4 Was brauche ich dafür?
Ziel: Der Weg vom NEIN zum JA: Den eigenen Integritätsmuskel trainieren und stärken
Gute Grenzen für mich setzen statt mich ABZUGRENZEN (Wie kann ich DA bleiben?)
Veranschaulichung und Entstehung dieses Ansatzes:
1 Ausschnitt aus “Türwächter:innen der Freiheit”, Maike Plath, BoD 2021, Seiten 94-102:
Kapitel “Untergang und Wiederauferstehung”, Seiten 94-102, auch als kostenfreier Podcast (Hörbuch) unter gleichnamigen Titel bei Spotify und allen bekannten Podcast-Plattformen.

2 Ausschnitt aus “Befreit euch! – Anleitung zur kleinen Bildungsrevolution”, Maike Plath, BoD 2017, Seiten 52-64, hier gekürzt “Beispiel für exklusive Settings: Die Gruppenreise”:

Beispiel für unbewusst autoritär geprägte, ausschließende Settings – DIE GRUPPENREISE
Stellen wir uns eine Urlaubsreise von 12 erwachsenen Personen aus Berlin mit ihren Kindern vor. (Ich wähle bewusst ein Beispiel aus meiner (privilegierten) Lebenswelt und versuche hier humorvoll eine (selbst-) kritische Perspektive darauf einzunehmen – ohne irgendwelche Personen damit angreifen zu wollen. Also: Besagte Menschen um die 40 aus Berlin fahren in ein Ferienhaus an der Ostsee, das der Gastgeberin gehört.
Die Gastgeberin hat eingeladen. Sie ernährt sich vegan, macht viel Sport und Yoga, kauft ausschließlich in Biomärkten ein, trinkt und raucht nicht und wählt grün. Sie hat nur allerbeste Absichten im Sinn, möchte es ihren Gästen so richtig schön machen. Sie meint es gut.
Die Gastgeberin schlägt vor, dass sich ihre Freunde mit dem Kochen des Abendessens abwechseln. Am ersten Abend kocht sie selbst. Es gibt eine Gemüsesuppe, grünen Tee und Wasser, keinen Alkohol. Nach dem Essen beginnt sie ein Gespräch über ihre Ablehnung von Popmusik und neuen Medien. Es gibt keinen Fernseher im Ferienhaus. Gegen Ende des Abends regt sie an, gemeinsam zu meditieren. Diesen ersten Abend beschließt die Gastgeberin mit einer kurzen Willkommensrede. Sie verkündet, dass alle willkommen seien und jeder in den folgenden Tagen “machen könne, was er oder sie wolle”, es gäbe keinen Zwang, jeder solle es sich hier auf der Basis der eigenen Bedürfnisse gemütlich machen. Sie wolle auf jeden Fall einen “anarchischen Raum”, einen “Ort der Vielfalt, an dem alles möglich ist” und jede Person so leben kann, wie er/sie/es denkt. Danach wird noch gemeinsam über Waldorfpädagogik diskutiert und alle gehen gegen 22.30 Uhr ins Bett.
Wie geht dieser Urlaub weiter? Unabhängig davon, dass die Gastgeberin “auf keinen Fall die Führung haben möchte”, alle anderen auffordert, “sich ganz frei zu fühlen” und betont, dass “alles gemeinsam und demokratisch entschieden wird”, geschieht von allem das Gegenteil.
Niemand fühlt sich frei und nichts wird GEMEINSAM und DEMOKRATISCHentschieden – stattdessen greift der Mechanismus “Den König spielen immer die anderen”:
Es bildet sich eine unsichtbare Hierarchie: Diejenigen, die der (unbewusst aber dennoch offensichtlich) gesetzten Norm (Bio-Lebensmittel, Sport, Gesundheit, Yoga, Waldorfpädagogik, usw.) am nächsten sind, fühlen sich in dieser Gruppe am sichersten, haben den höchsten Status. Das Gegenteil ergibt sich von selbst. Sich über bewusste Ernährung, Sport, Yoga und alternative Schulpolitik zu unterhalten, steht in diesem Setting hoch im Kurs. Wer morgens dagegen länger im Bett liegt und womöglich beim späten Frühstück auch noch Wurstaufschnitt von Aldi auf sein (weißes) Brötchen legt, ist moralisch verdächtig und verliert in Windeseile an Status.
Besonders übel wird es, wenn sich in der Gruppe Personen befinden, die in ihren sonstigen beruflichen oder sozialen Kontexten stark hierarchischen Systemen ausgesetzt sind, dort einen sehr niedrigen Status haben und daher – oder aus anderen Gründen – ständig Kränkung kompensieren müssen. Im beschriebenen Urlaubs-Setting sind es genau diese Personen, die hier plötzlich eine Chance zum Aufstieg wittern und sich dann besonders eifrig der herrschenden Norm anpassen (sich also in diesem Setting ganz besonders bio- und sportbeflissen geben) und dabei keine Gelegenheit auslassen, abweichendes Verhalten der anderen abzuwerten und milde zu denunzieren (geschieht sehr subtil aber nicht weniger wirksam). Dieser Mechanismus ist auch durch die Statuslehre zu erklären: Jemand mit einem geringen Selbstwert (innen tief) kann das schmerzende Gefühl der eigenen Minderwertigkeit auf einfachste Weise kompensieren, in dem er andere im Status herabsetzt, denn dadurch steigt der eigene Status (Prinzip: Status-Wippe), und die unangenehme Unsicherheit schwindet für kurze Zeit. Nach diesem „Kläffer-Prinzip“ (siehe Statuslehre) wird immer im Status nach unten „getreten“ (Herabsetzung) und nach oben „gebuckelt“ (Anbiederung an die durch die Führung vorgebenden Werte/Ideologie).
Da die Gastgeberin aber an der romantischen Idee der ganz und gar demokratischen, “freien” und angeblich führungslosen Gemeinschaft festhält und keine Verantwortung übernimmt, breiten sich in der Folge ziemlich schnell unmenschliche Dynamiken ungehindert aus. Das Fatale ist: Nach außen wirkt alles harmlos wie eine Hippie-Freizeit. Wer sich zunehmend unwohler fühlt (durch rapiden Status-Verlust), kann dies immer weniger zum Thema machen, weil es gerade dieser Statusverlust ist, der ein rasant schwindendes Selbstwertgefühl nach sich zieht. Das heißt, ich fange an, mir selbst die Schuld zu geben, mich selbst abzuwerten, mich klein zu fühlen. Die Zuschreibungen und Bewertungen der anderen werden zur sich-selbst-erfüllenden- Prophezeiung und machen meine Wort- und Meinungsbeiträge zunehmend wertlos, weil sie nur noch in meinem (niedrigen) Rollen-Kontext gelesen werden. Und all das kann nach außen aussehen wie ein Heile-Welt-Werbe-Clip von Apple.
Und hier haben wir jetzt noch gar nicht über Ausschluss durch Herkunft, Ethnie, religiösen, geschlechtlichen oder sozialen Hintergrund gesprochen. Geben wir unserem Beispiel nur eine ganz leichte Abweichung von dem als Norm gesetzten sozialen Hintergrund dazu und es wird noch schlimmer.
Diejenigen, die NICHT jeden Morgen um 7 Uhr fit und gutgelaunt am Strand entlang joggen, haben zunächst einmal vielleicht nur ein leicht unangenehmes Gefühl. Vielleicht können sie dieses Anfangsstadium eines Außenseiter*innen-Gefühls noch mit einem einigermaßen hohen Selbstwertgefühl, also vielleicht mit Humor, kompensieren. Was aber ist beispielsweise mit der wesentlich jüngeren, alleinerziehenden Mutter aus Marzahn, die nur als “Freundin einer Freundin” mitgekommen ist, die anderen Gäste kaum kennt und sich vor allem bisher wenig um Bioprodukte gekümmert hat, weil sie mit dem “Überleben im Alltag” beschäftigt ist und für 6 Euro-Stundenlohn arbeitet?
Das Problem des Ausschlusses wird bei der demokratisch beabsichtigten Idee des abwechselnden Kochens dann ganz offensichtlich. Stellen wir uns die junge alleinerziehende Mutter beim Einkauf im Supermarkt vor. Sie ist “dran” mit Kochen. Überfordert steht sie vor den Regalen und traut sich nicht, die ursprünglich von ihr geplanten Lebensmittel einzukaufen. Denn ihr ist klar, dass man dann auf sie herabschauen wird. Gleichzeitig aber weiß sie eben nicht, WAS genau “korrekt” wäre oder wo man das “Korrekte” herbekommt, bzw. hat nicht ausreichend Geld dafür. Aufgrund der unsichtbaren Hierarchie, die durch die deutliche Setzung der vorgelebten Norm entstanden ist, fühlt sie sich bereits so sehr im Status herabgesetzt (im Selbstwertgefühl herabgewertet), dass sie sich auch nicht traut, eine andere Person aus der Gruppe zu fragen.
All dies sind klassische Anzeichen eines ausschließenden und damit autoritär geprägten Settings:
Hierarchie: Verteilung der Rollen auf einer Skala von “Eifrigen” über “Angepasste” über “Rebellische”, „Resignierende“ bis hin zu “Außenseiter*innen”
Die Werte, bzw. die gesetzte Norm beschert einigen in der Gruppe Vorteile durch ungleiche Vor-Verteilung von Wissen (Herrschaftswissen) und (ungerecht verteilte) Mittel.
Die einzelnen Mitglieder der Gruppe haben durch diese Voraussetzungen keine gleichberechtigte Stimme und keine Möglichkeit, den Anderen auf “Augenhöhe” (nämlich unabhängig von Status) zu begegnen.
Denn: Der durch die gesetzte Norm notwendigerweise entstehende Statusabstand verhindert eine konstruktive, fruchtbare Kommunikation (K. Johnstone: “Das Gespräch unter Freunden”).
Und zwar sind diejenigen am meisten benachteiligt und haben den geringsten Status und damit das höchste zu überwindende Statusgefälle, die am meisten abweichen von der gesetzten Norm.
Zurück zum Beispiel der alleinerziehenden jungen Mutter: Sie wird natürlich wissen, dass sie in ihrer gegenwärtigen Urlaubsgemeinschaft nicht mit Coca Cola oder Fast Food zu kommen braucht. Aber auch Spagetti mit Tomatensauce erscheint ihr hier nicht adäquat. Sie weiß aber trotzdem nicht, was denn umgekehrt in dieser Situation die “korrekten” Produkte wären, wo diese zu kaufen und wie diese zuzubereiten sind. Und noch dazu – und nicht zuletzt! – würde ihr für das “korrekte” Abendessen ganz einfach das nötige Kleingeld fehlen.
Was auch immer sie also versuchen wird, sie wird weiter (an Status) verlieren.
Dies ist die Ungerechtigkeit, die sich in den zahlreichen exklusiven Settings unserer derzeitigen Gesellschaft auftut. Hier absichtlich noch völlig unabhängig von dem kulturellen, ethnischen oder religiösen Hintergrund.
Denn stellen wir uns nunnoch vor, diese alleinerziehende Mutter hätte einen türkisch-muslimischen Hintergrund – als Einzige in diesem weißen, bürgerlich-akademischen „Yoga-Kreis“…
Das Beispiel ist frei erfunden. Aber es ist in sehr ähnlicher Weise derzeit überall vorstellbar. Und es ist ein typisches Beispiel für einen sich durch und durch exklusiv entwickelnden Gruppenprozess, wie wir ihn alle kennen – obwohl alle es “gut meinen”. Von Gleichwürdigkeit und Vielfalt ist hier aber keine Spur.
Das Wertekonstrukt der Gastgeberin wird unausgesprochen zur moralischen Norm und die Gruppenmitglieder verhalten sich nicht mehr entsprechend ihrer individuellen Persönlichkeiten, sondern entlang der Rollen, die sie in diesem Konstrukt unbewusst einnehmen.
Es sollte dabei klar sein, dass ich hier nicht eine bewusste Ernährung, gesunde Lebensweise oder Bioprodukte kritisiere, sondern die Tatsache, dass sich sehr häufig die Menschen, die eine gesunde und ökologisch korrekte Lebensweise pflegen, nicht darüber im Klaren sind, dass diese Bewusstheit ein Privileg ist – und nicht etwa ein Grund, sich moralisch überlegen zu fühlen.
Diejenigen, die in irgendeiner Weise privilegiert sind – durch Wissen, durch Herkunft, durch Bildung, durch Status, durch materielle Vorteile oder symbolisches Kapital, sollten anderen Menschen, die nicht über dieselben Privilegien verfügen, in DEMUT und RESPEKT begegnen, statt sich innerlich moralisch über sie zu erheben.
Vor allem sollten sie nicht versuchen, den anderen dabei „zu helfen“ so zu werden, wie sie selbst! In dieser Denkweise steckt eine unbewusst autoritäre Haltung („Ich weiß, was für die Menschheit am besten ist“), eine große Überheblichkeit und eine Ignoranz anderen Perspektiven gegenüber.
Das „Andere“ wird dadurch nur defizitär wahrgenommen. Schon allein dadurch entsteht ein Statusgefälle, das jeglichen ECHTEN konstruktiven Austausch verhindert.
Im Falle des hier genannten Beispiels müsste also von vornherein (von der Führung!) ein Setting geschaffen werden, in dem die Voraussetzungen aller Gruppenmitglieder zunächst mal gleichWERTIG sind und sich alle willkommen fühlen.
Die Gastgeberin im oben geschilderten Beispiel hätte beispielsweise gleich zu Beginn einer Person, die gerne Cola trinkt, eine große, kühle Flasche Cola hinstellen können, und der Person, die gerne Wein trinkt, ein Glas seines Lieblingsweines eingießen, den Raucher*inneneinen Aschenbecher auf den Balkon stellen und ein Kissen und eine Kerze dazu, … usw.
Das wäre die konkrete Umsetzung des Prinzips: „Die Gastgeberin macht den ersten Fleck in die Tischdecke“.
Darum geht es: Dass ich von den Vorlieben und Eigenarten meiner Gäste ausgehe und ganz bewusst mögliche Statusabstände von vornherein aufhebe.
Erst dann können die Gäste ihr gesamtes Spektrum auch an anderen Perspektiven, Erfahrungen und Potentialen aufmachen.
Erst dann kann deutlich werden, dass es zahlreiche andere Aspekte des „Cola-trinkenden“ Gastes zu entdecken gibt, die für alle anderen bereichernd sein können.
Weiterführend würde das auch heißen, dass zunächst einmal alle Gruppenmitglieder gemeinsame Erfahrungen und Kommunikation erleben, in denen die äußeren Referenzsysteme, auf die sich die Gruppenmitglieder ansonsten beziehen, KEINE Rolle spielen.
Als gute und inklusive Führung müssten wir also zunächst einmal ein Setting schaffen, in dem alle Gruppenmitglieder zusammen etwas tun, bei dem die üblichen Rollen und Vorerfahrungen der einzelnen keine Rolle spielen. Es bräuchte also quasi einen “unmarked space”, einen unmarkierten Raum, in dem alle auf ein gemeinsames Ziel bezogen das einbringen können, was sie jeweils denken, fühlen, erlebt haben, am besten können und/oder mögen, ohne dass sich daraus eine Wertung ergeben kann.
Beispiel: Erfahrungsspielräume „Open Mic“ und „Wahrheit oder Pflicht“ – in beiden Fällen sind Autonomie, Humor und Lust am Scheitern wichtige Komponenten.
Erst, wenn ein gemeinsamer und wirklich demokratischer Raum etabliert ist, in dem sich alle frei von wertenden Urteilen in ihrer Verletzlichkeit UND mit ihren individuellen STÄRKEN zeigen und zueinander in vertrauensvolle Beziehungen eintreten konnten, können die einzelnen Mitglieder auch wieder ihre Vorerfahrungen mit einbringen – aber dann in Form geteilten Wissens und als Erweiterung des allen zugänglichen Wissen-Pools (Beispiel: Immer wieder neue, eigene Karten einbringen in das Mischpult).
Weil in unseren Schulen aber genau das NICHT stattfindet, meiden insbesondere weiße, akademische Eltern jegliche Formen von „Gesamtschulen“ für ihre Kinder. Dies führt zu einer Wohlstands-Ghettoisierung.
Die weißen, gebildeten Schichten grenzen sich ab.
Alle anderen müssen Vorlieb nehmen mit unseren noch immer zukunftsresistenten Schulen, die sich „Vielfalt“ auf die Fahnen schreiben, dennoch aber an allen Grund-Prinzipien eines autoritär geprägten, exklusiven Systems festhalten (wie z.B. Noten oder Berichtzeugnisse) und weder eine Vision noch überzeugende und wirkmächtige Konzepte haben, um Vielfalt und Demokratie wirklich produktiv zu machen und damit Qualität zu gewährleisten.“ (…)
3 Ausschnitt aus der BELTZ-Publikation „Das Veto‐Prinzip® – Die sieben Säulen gleichwürdiger Pädagogik“, Seiten 36-38:
„In welchem Maße sich Systeme und Strukturen positiv oder negativ auf das Verhalten von Menschen auswirken, konnte ich in meiner Zeit als Lehrerin im Berliner Schulsystem erfahren (siehe auch „Türwächter:innen der Freiheit“, Buch und kostenfreies Hörbuch auf Spotify unter gleichnamigem Titel).Dort hatte sich eine Mehrheit der Menschen in einer „Opfer“-Perspektive eingerichtet – als Reaktion auf ein blockierendes, potenzial-hemmendes System. An den untergehenden Hauptschulen hatten sich die Beteiligten gegen die angeblich schuldigen ANDEREN in Stellung gebracht (das Trennende fokussiert statt Verbindendes zu sehen und zu stärken). Die jeweils eigene, verengte (Opfer)- Perspektive war maßgebend. Die einzelnen Persönlichkeiten wurden nicht mehr individuell gesehen, sondern in „Gruppenhaftung“ genommen.Die Stimmung an den Schulen war wie eine toxische Mischung aus Depression, Ohnmachtsgefühlen, unterdrückter Wut, Zynismus und unterschwellig schwelender Gewalt. Solidarisch unter Kolleg:innen bedeutete, gegen die „furchtbaren“ Jugendlichen zusammenzuhalten. – Null Kooperationsimpuls.
Die Jugendlichen verweigerten bockig bis aggressiv den Unterricht, schmissen Möbel und andere Dinge aus dem Fenster und warfen mit Beleidigungen um sich. Du Hurensohn! Ich ficke diese Schule! – Null Kooperations-Impuls.Die Eltern schienen sich innerlich und äußerlich komplett verabschiedet zu haben und verweigerten jedes Elterngespräch und jegliche Zusammenarbeit. Mensch bekam sie eigentlich nie zu Gesicht. – Null Kooperations-Impuls.Die Berliner Senatsverwaltung schien das Problem nicht sehen zu wollen. Es hieß: Egal, was Sie da machen. Sorgen Sie einfach dafür, dass die Polizei nicht kommt. – Null-Kooperations-Impuls. Erklärungsnarrative, die damals kursierten, waren allesamt negativ und trennend: Diese Jugendlichen sind einfach Abschaum. Und sie werden immer dümmer und immer krimineller. Das Niveau ist abgrundtief gesunken. Vor zehn Jahren waren die Kinder wohlerzogener und schlauer. Aber es wird alles immer schlechter und immer schlimmer.
Es liegt an den vielen „Ausländerinnen“, wahlweise an den Menschen „mit Migrationshintergrund“. (Thilo Sarrazin steuerte ein ganzes Buch dazu bei und beschwor den „Untergang des Abendlandes“). Die Eltern sind schuld, weil sie sich nicht kümmern und weil sie ihre Kinder nicht im Griff haben bzw. falsch erziehen. Die Lehrerinnen sind schuld, weil sie „faule Säcke“ sind bzw. unfähig. Die Politikerinnen sind schuld, weil sie sich nicht für Bildung interessieren und allesamt inkompetent sind. Die Medien sind schuld, weil sie immer nur Skandale sehen wollen und nicht an einer differenzierten Berichterstattung interessiert sind. „Die“ berichten nie die Wahrheit. „Die“ wollen sich nicht integrieren. „Die“ teilen unsere Werte nicht.„Die“ sind alle Gangster. „Die“ wollen hier nur Transferleistungen abgreifen und den Staat unterwandern. „Die“ sind antisemitisch.„Die“ sind nicht kooperativ. „Die“ sind gewaltbereit. „Man kann nichts machen“.„Alles wird immer nur schlechter“.
So lange ich diese Erklärungen glaubte und ihnen Raum gab, ging es mir selbst (!) immer schlechter. Ich war abwechselnd wütend auf die Jugendlichen, auf die Eltern, auf meine Kollegeninnen, auf die Politik – und befand mich in einer Art Weltuntergangsstimmung: Alles wird immer schlimmer. Niemand sieht, was ICH sehe und keiner macht was! Eine sich immer schneller drehende Spirale aus Hilflosigkeit und Wut, genährt aus der Opfer-Perspektive und einem Feindbild, für das sich im Alltag immer mehr Beweise zu finden schienen. Die übliche Strategie, diese Spirale immer weiter zu befeuern, war das Märchen vom heldenhaften Widerstand: Ich gegen den Rest der Welt. Grollend boykottierten die Lehrerinnen jegliche Vorgabe „von oben“ und grollend boykottierten die Schülerinnen jegliche Vorgabe der Institution Schule. Alle fühlten sich „frei“ im „Grundsätzlich-und-Diffus-Dagegen-sein“. Mir war das zu düster. Und auf Dauer zu anstrengend. Wut, Ohnmachtsgefühle und die Erwartung, dass alles immer schlimmer wird – das alles kostet wahnsinnig viel Kraft und macht krank.
Mein persönlicher Weg raus aus diesem Zustand und zurück in die Freiheit bestand darin, von diesem systemimmanenten trennenden und wertenden Denken weg zu kommen und stattdessen das Verbindende zu suchen, dabei die Personen um mich herum wieder differenzierter als einzelne Menschen wahrzunehmen und von Augenblick zu Augenblick kleine, EIGENE Entscheidungen zu treffen. Ich konzentrierte mich auf den jeweiligen Moment und versuchte, irgendetwas zu tun, was sich für MICH ruhiger und besser anfühlte. „Lass die Situation so deprimierend sein, wie sie ist. Ich schau jetzt erstmal, was ich jetzt hier in diesem Moment machen kann, damit es MIR besser geht“.
Rückblickend würde ich das beschreiben als: Vom Modus der „Freiheit gegen einen (vermeintlichen) Feind“ in den Modus der „Freiheit zur Verantwortung“ zu wechseln. Denn wie gesagt: Nicht die Menschen an sich sind unsere Gegner:innen. Es sind die Strukturen, die Menschen in ihrem Verhalten deformieren. Sobald ich nicht mehr die systemische Erwartung zur Maxime meines Handelns und Denkens mache, sondern Integrität und menschliche Würde, gewinne ich wieder Handlungsspielraum und Motivation – vor allem aber wieder Ressourcen, um in Kooperation mit anderen zu kommen.
Ich fand heraus, dass DIE Jugendlichen weder dumm noch kriminell, sondern in Wahrheit auf der Suche nach Liebe waren. Nach Aufmerksamkeit, Zuwendung, Geborgenheit, Sicherheit und Anerkennung. Und dass sie insgeheim hofften, ich würde sie mögen und an sie glauben. Und als ich damit anfing, wuchsen sie über sich selbst hinaus. Mit einigen von ihnen arbeite ich bis zum heutigen Tag zusammen.
Ich fand heraus, dass die Eltern in ihrem Alltag überfordert und am Rande der Verzweiflung waren und dass sie hofften, ich wäre an ihrer Seite und würde ihrem Kind eine bessere Zukunft ermöglichen. Ich verstand, warum sie die demütigenden Termine in der Schule vermieden und arbeitete Schritt für Schritt daran, ihr Vertrauen wieder herzustellen. Ich war beschämt, unter welch unfassbar schwierigen Umständen, sie jeden Tag aufs Neue ihr Bestes gaben, um ihre Kinder zu unterstützen.
Ich fand heraus, dass viele meiner Kollegen*innen sich heimlich wünschten, mutiger zu sein und das zu verändern, was sie krank machte und dass ich bei einigen von ihnen Aggressionen auslöste, weil mein Verhalten ihnen das vor Augen hielt, was sie sich selbst nicht trauten zu tun. Und dass wiederum andere mich hoffnungsvoll beobachteten und mich unterstützen wollten. Und es Schritt für Schritt auch taten. Und zu Freunden wurden.Ich fand heraus, dass das Hauptproblem aller Beteiligten in dem Gefühl von Selbstentfremdung und Resignation lag und dass sich alle unfrei fühlten und daher nicht mehr kooperieren wollten. Mit der Zeit entwickelte ich für mich selbst einen Fahrplan, wie ich Schritt für Schritt bei den Jugendlichen wieder ein Gefühl von Freiheit und Selbstbestimmung herstellen konnte. Aus diesem „Fahrplan“ wurde mit der Zeit das Konzept des „Veto-Prinzips“. Ich selbst lernte dabei am meisten und fand heraus, dass es nicht nur bei Kindern funktioniert, sondern bei jedem von uns.“