Reiß dich zusammen! – Gefühle und ZuMUTungen in Zeiten der Pandemie

Im Moment sind viele Leute gereizt bis aggressiv. Trotz Sommer. Trotz Lockerungen. Die Pandemie, ihre Auswirkungen im Alltag, die Unsicherheit, wie es weiter geht, all das zerrt an den Nerven. Dazu kommt, dass viele von uns in der Pandemie überraschend mit „altem Schmerz“ konfrontiert werden. Irgendeine vermeintliche Kleinigkeit löst ein unverhältnismäßig unangenehmes Gefühl aus und wir „hüpfen aus dem Anzug“. Ich glaube: Wir haben ein Problem mit Gefühls-Regulierung. Weil viele von uns das nicht gelernt haben. Ich auch nicht. 

Wenn ich erlebe, wie meine Freundin und Kollegin Stefanie mit den Wutausbrüchen ihres kleinen Sohnes umgeht, bin ich beeindruckt – und ein bisschen neidisch: Er darf traurig sein. Er darf wütend sein. Er darf weinen und toben. Er darf sich seiner Mutter zuMUTen. Stefanie hält es aus. Sie kann für sich Grenzen setzen und ihm gleichzeitig vermitteln, dass er ok ist und seine Gefühle verständlich. Und – dass er natürlich trotzdem bedingungslos von ihr geliebt wird. Auch, wenn er sich im Supermarkt an der Kasse auf den Boden schmeißt und „durchdreht“.

Vielleicht hätten wir alle lernen sollen, dass manchmal „durchdrehen“ ganz sinnvoll ist. Und dass wir dann trotzdem noch geliebt und als „ok“ befunden werden. 

Aber so habe ich selbst das nicht erlebt. Wenn ich früher als Kind rumgebrüllt oder geheult habe, hieß es in eiskaltem Ton: Sei nicht hysterisch! Reiß dich zusammen! Später als Jugendliche wurde daraus dann der Satz: Mein Gott, benimm dich doch nicht so ORDINÄR. Oder: Jetzt mach nicht so ein Theater! Die Welt dreht sich nicht nur um dich! 

Ich sollte nicht schreien oder heulen oder laut werden „wie ein Fischweib“. PEINLICH! Bis heute entsteht in meiner Herkunftsfamilie oder bei Familientreffen eisiges Schweigen, wenn jemand Gefühle zeigt oder sich aufregt. Das ist „kein gutes Benehmen“. Aber auch schon authentisches Sprechen über die eigenen Gefühle löst Beklemmungen aus. Scheinbar gibt es die heimliche Abmachung, dass wir immer schön kontrolliert ruhigen, sachlichen Smalltalk machen sollen. Nicht von sich selbst sprechen. Nicht sich „selbst loben“. Nicht „zu viel Raum einnehmen“. Nicht emotional werden. Das ist alles PEINLICH. 

Ich wurde zur Höflichkeit erzogen. Höflich sein bedeutete: Sich anderen nicht inklusive Gefühle zuzumuten. 

Wenn ich jemanden achte und seine persönlichen Grenzen respektiere, finde ich das gut. Es gibt aber eine Form von Höflichkeit und angeblich „gutem Benehmen“, von dem ich heute glaube, dass es in Wahrheit nichts anderes ist, als Konfliktscheu und das Verhindern von echter Nähe. 

Das erscheint mir gerade in Pandemie-Zeiten und Social Distancing doppelt fatal. 

Beispiel Partner-Beziehung. Der Mensch, den ich liebe, macht etwas, das in mir einen Schmerz auslöst. Was ist jetzt – in Bezug auf eine gesunde Beziehung – zielführender? Nicht hysterisch werden? Sich zusammen reißen? Lieb lächeln und sagen: Alles gut, mein Schatz. Es macht mir nichts aus. Ich habs im Griff. Ich bin GANZ souverän! (Und dann den Hund im Vorbeigehen zur Seite kicken?) 

Oder- und das ist die damit direkt verwandte Reaktion: Sich innerlich abkoppeln vom anderen? Sich denken: Es REICHT! Das lass ich mir nicht gefallen! TSCHÜSS!! ?? 

ODER…: DA bleiben und sich ZEIGEN? 

Dem anderen Menschen zuMUTen, mit meinen echten Gefühlen klar zu kommen? 

Das sind keine rhetorischen Fragen. Denn noch bis vor einem Jahr hätte ich eindeutig (!!) die erste oder die zweite Variante gewählt. Niemals die dritte. Und zwar deswegen, weil ich mich unendlich geschämt hätte, mich mit meinen wahren Gefühlen zu zeigen. Mich jemandem so zuzuMUTen. Das MACHT man doch nicht! 

Was ich nämlich früher gelernt habe ist: Wenn ein schmerzhaftes Gefühl hochkommt, dann muss ich das unter allen Umständen verstecken. Denn sonst bin ich schwach. Und PEINLICH. Eine Zumutung für meine Mitmenschen. Dann erfahre ich Ablehnung und Ausschluss. PEINlich ist verwandt mit Pein. Ich möchte nicht „die Pein“ für jemand anderen sein. Don‘t ever be the PAIN in the ass for anybody! (DACHTE ich…) 

Aber ein Gefühl ist nicht weg, nur weil es versteckt und unterdrückt wird. Es sickert nur eine Etage tiefer und treibt dann von dort aus sein Unwesen. Und kommt an anderer Stelle wieder hervor. Getarnt als etwas anderes. Da sind wir dann bei der Pandemie und dem gereizten Verhalten, den Aggressionen gegen unsere Mitmenschen. Bei all diesen seltsamen, menschlichen Verhaltensauswüchsen, die diese Pandemie jetzt deutlicher an die Oberfläche gebracht hat – die aber natürlich vorher schon da waren. 

Soviel Schmerz, so viele Gefühle, die weg kompensiert werden. Weil: Ist ja PEINLICH, Schmerz zu haben. Darf keiner sehen. Schmerz zu haben ist schwach, hysterisch, ordinär, verdächtig. Für Gefühle haben wir nur zwei Ideen: Therapie (im Sinne von: Jemand ist krank und braucht HILFE – oder Verdrängung und stiff upper lip nach außen… SOUVERÄN und cool alles „im Griff haben). 

Also lüge oder verstumme ich in der Beziehung. Verstecke mich. Verhalte mich SOUVERÄN. Und kopple meine wahren Gefühle und meinen Schmerz ab. Ich will ja meinen Mitmenschen – also vor allem denen, die mir nah und wichtig sind – nicht ZUR LAST fallen. Nicht bedürftig erscheinen. Keine ZuMUTung sein. Und gehe mit dieser Haltung aber leider RAUS aus dem echten menschlichen Kontakt. Den ich ja aber eigentlich gerade JETZT brauche! Weswegen ich den Schmerz DARÜBER dann auch noch weg kompensieren muss. Was mich dann NOCH weiter vom anderen weg bringt. 

Was wäre, wenn wir neben Therapie oder Verdrängen und Abkoppeln einfach den ganz normalen menschlichen Kontakt als Option wählen würden? Rein gehen ins Gefühl, statt es weg zu drücken. Mut sammeln und Worte finden, für das, was ist. Sich zuzuMUTen mit dem was wirklich ist, wer ich bin und was ich brauche. Und vertrauen, dass das ok ist. 

Denn das ist vielleicht gar keine Zumutung für mein Gegenüber, sondern vielleicht eher ein Geschenk. Denn dann kann der jeweils andere sich wiederum auch MIR zumuten. Mit allen Gefühlen und seinem ganzen So-sein. Dann können wir füreinander ein bisschen das nachholen, was Stefanie für ihren kleinen Sohn macht: Gefühle einfach zulassen und erleben, dass wir dann NICHT peinlich sind. NICHT the „Pein“ in the ass. Nicht abgelehnt, ausgeschlossen und verlassen werden. 

Wir könnten dann erleben, dass Gefühle die stärksten Wachstumsbeschleuniger überhaupt sind – was persönliche Entwicklung, Resilienz und Selbstwert angeht. Und dass sie uns miteinander verbinden. 

Stattdessen verdrängen wir unsere Wut, unsere Angst, unseren Schmerz, unsere Einsamkeit, unseren inneren Schrecken. Rasten im Straßenverkehr und im Supermarkt ein bisschen aus – oder im Netz ein bisschen mehr – oder heulen alleine im Auto oder auf dem Fahrrad. 

Höflichkeit kann auch Harmoniebedürftigkeit aus den falschen Gründen sein. Wir vermeiden das direkte Gespräch, die direkte Auseinandersetzung und reden uns ein, dass wir das ja nur machen, um den jeweils anderen zu schützen! Wir sind ja gute Menschen! Wir nehmen RÜCKSICHT! 

Aber in Wahrheit wäre es gesünder, unsere Gefühle zu kennen und darüber sprechen zu lernen. Vertrauen zu lernen, dass wir damit ok sind und dass dadurch Nähe entsteht. 

Die eigenen Gefühle nicht zu kennen und sie dauernd erschrocken weg zu schieben, wenn sie sich melden, führt nämlich auch zu diesen erschreckenden Abstürzen in alte Muster, in denen ich mich plötzlich in völlig unsinnigen Beziehungs-Hick-Hack-Gesprächen oder destruktiven Verhaltensweisen wieder finde, die mich sehr unangenehm an Situationen von früher erinnern – und mit weiterem Schmerz und Geheule allein auf dem Fahrrad enden. 

Harmoniebedürftigkeit, innerer Rückzug oder Absturz in alte Muster sind alles Seiten derselben Medaille: Vermeidung der echten Gefühle. Vermeidung des Wegs nach vorn. Lieber das vertraute Schlechte wählen, als die fremde und schmerzhaft irritierende Befreiung – zum anderen Menschen HIN. 

Weil wir das so gelernt haben. Sei nicht hysterisch. Das ist doch keine Art! Reiß dich zusammen! „Den Kindern in Afrika geht es doch noch viel schlechter“. Also denken wir: Besser abgetrennt bleiben. Besser Sicherheitsabstand wahren. Besser alleine klarkommen. Weil wir das KENNEN. 

Und das alles, obwohl wir uns das GEGENTEIL wünschen. Nämlich, dass jemand DA bleibt, auch wenn wir PEINlich sind. Und laut. 

Tja. Aber dazu müsste irgendjemand ja mal damit anfangen, mit dem DA-bleiben. 

Und deswegen müssten wir trainieren, diese Gedanken-Blockade zu korrigieren: Es stimmt nicht, dass wir keinen Schmerz zeigen dürfen. Wir sind dann keine Last, sondern einen wesentlichen Schritt weiter. Denn das ist die beste Art zu lernen, DA zu bleiben, wenn ein ANDERER aufmacht und sich ZEIGT. So wie Stefanie mit ihrem kleinen Sohn. 

Ich bin sicher: Dann hätten wir weniger Corona—Aggressions-Wahnsinn. Weniger Kummer. Weniger Einsamkeit. Weniger Stress. 

Und zum Schluss noch zu meiner eigenen Prägung aus Kindertagen. Zu diesem eiskalten: Reiß dich zusammen! : 

Vor ein paar Tagen las ich, dass in Berlin das „Zentrum für Flucht und Vertreibung“ eröffnet wurde. Sofort dachte ich „Oha“. Bilder von Erika Steinbach, PEINlichen Vertriebenenverbänden, PEINlichem Revanchismus kamen auf. Ich erinnerte mich an diese PEINliche Situation bei Dussmann: Da stand ich vor dem Themenregal „Flucht und Vertreibung“, weil ich dachte: Ich muss mich doch mal für meine Familiengeschichte interessieren. Die Familie meines Vaters sind Baltendeutsche. Mein Vater war 1945 fünf Jahre alt. Er erlebte als kleiner Junge die Flucht nach Deutschland. Zwei meiner Tanten sind auf der Flucht „verschollen“. Die Mutter meines Vaters hat sich später das Leben genommen. Wo immer ich versuchte, die Decke des Schweigens zu lüften, lag ein schweigendes Grauen darunter. Aber Gefühle hatte niemand dazu. Auch keine Worte. Nur so insgesamt fünf immer gleiche, roboterhaft abgespulte „Geschichten“, die auf Nachfrage nicht lebendiger wurden, sondern immer seltsam abgekoppelt und ausgedacht klangen. Souverän erzählt halt. Kein Problem. So war das damals. Ach so. Aha. Für mich fühlte sich das immer SO seltsam an. Aber ich war ja auch hysterisch… 

Bei Dussmann wollte ich dann trotzdem mal schauen, ob ich zu diesem ganzen Thema nicht Literatur finde. Wie war das mit der Flucht? Was haben die erlebt, gefühlt, gedacht? Aber als ich dann vor diesem Bücherregal bei Dussmann stand, konnte ich mich kaum konzentrieren und schaute immer nervös über meine Schulter, ob mich jemand dabei „erwischt“. Denn ich dachte: Die Deutschen sind die TÄTER*INNEN. Es geht nicht, dass ich mich mit den Baltendeutschen in der Opferperspektive beschäftige. Dass ich jetzt IHRE Perspektive verstehen will. Die Deutschen waren SCHULD. Ihre Gefühle sind also egal. Oder dürfen nicht sein. Das ist PEINlich und nicht richtig, was ich hier mache. 

Aber jetzt denke ich manchmal, dass die Menschen in Deutschland ja alle eine unfassbare Klatsche haben müssen (mich eingeschlossen), wenn sie diese ganzen traumatischen Erlebnisse und Gefühle einfrieren mussten. Was für eine Horror-Tiefkühltruhe im Keller! Und kann es nicht vielleicht sein, dass gerade ganz viel neuer Schmerz produziert wird, weil der alte immer noch nicht aufgetaut wurde? Weil die Fakten zwar sein dürfen, aber NICHT die Gefühle? 

Diese ganzen beunruhigenden Aggressionen gegen Menschen, gegen Maßnahmen, gegen Politik, gegen Demokratie, gegen alles… könnte es nicht sein, dass wir stattdessen mal weinen sollten? Und uns trauen sollten, eine ZuMUTung zu sein? Und zu sagen: Kannst du mich bitte in den Arm nehmen, denn es geht mir nicht gut. Weil… 

Ich werde jetzt erstmal das Zentrum für Flucht und Vertreibung in Berlin besuchen. Und mir in Ruhe alles anschauen. Ohne nervös über die Schulter zu schauen. 

Denn natürlich waren die Deutschen die Täter*innen. Aber sich trotzdem auch mit ihren Geschichten und Gefühlen auseinanderzusetzen ist jetzt scheinbar nicht mehr PEINlich. Sie dürfen sein. Mein Vater hätte das brauchen können. Was wäre gewesen, wenn er eine Mutter wie Stefanie gehabt hätte? Aber er hatte nur eine traumatisierte, verstummte Mutter. Und ein Leben lang Schweigen. Und Höflichkeit. 

Reiß dich zusammen. 

Ich fange an, mich jetzt zuzumuten. Auch mit diesem Text. Ich trainiere jetzt, die Scham zu überwinden und den Weg nach vorne anzutreten. Ein normaler, peinlicher Mensch mit Gefühlen zu sein. 

Denn zwischen Therapie und Verdrängen gibt es noch was anderes. Und das ist Menschlichkeit. 

Und dann ist mir natürlich noch was aufgefallen: Sich zusammen reißen. 

Wie genau sollte das eigentlich gehen?