Gleichberechtigt miteinander reden – Die Anwendung der vier demokratischen Führungs-Joker trainieren
Demokratie von der Basis her erleben: Wie könnt ihr die vier demokratischen Führungs-Joker einführen?
(Die zwei dazugehörigen neuen Folgen von „Rede mal ordentlich, Frau Plath!“ findet ihr am Ende dieses Blog Textes).
Ihr kennt wahrscheinlich alle das Spiel „Wahrheit oder Pflicht“: Eine Person stellt einer anderen eine persönliche Frage und diese Person muss sich entscheiden, ob sie darauf wahrheitsgemäß antwortet, oder ob sie ausweicht und stattdessen „Pflicht“ sagt. Dann muss sie eine Pflichtaufgabe erfüllen. Die Person, die die persönliche Frage gestellt hat, gibt nun eine Pflichtaufgabe, wie z.B. „Mach mal fünf Liegestütze“. Im klassischen Wahrheit oder Pflicht Spiel können wir also einer zu persönlichen Frage mit einer Art Veto ausweichen, indem wir lieber Pflicht wählen und einen mehr oder weniger albernen Auftrag ausführen, wie z.B. fünf Liegestütze machen.
Ich habe dieses Spiel erweitert, um hier die Aspekte von Führen und Folgen erlebbar zu machen und den sinnvollen Einsatz des Vetos zu trainieren. Denn nach dem Prinzip Low Floor Wide Walls High ceiling brauchen wir einen einfachen Einstieg. Low Floor, um etwas Komplexeres tatsächlich von der Basis her erstmal zu verstehen.
Denn der sinnvolle Einsatz des Vetos ist – in unserer heutigen Gesellschaft – im Grunde spektakulär. Normalerweise sind wir nämlich so sozialisiert worden, dass wir folgen. Ohne uns zu fragen, ob das eigentlich im spezifischen Fall für uns selbst sinnvoll ist.
Wir sind auch naturgemäß, also als Mensch, erstmal gewöhnt uns anzupassen, um nicht aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden. Und zusätzlich lernen wir dann in der Schule, dass Anpassung belohnt wird und dass Widersprechen und Widerstand nicht gern gesehen ist und unangenehme Folgen hat. Ich könnte auch sagen: Uns ist die Fähigkeit zum sinnvollen Veto konsequent ausgetrieben worden.
Dabei ist genau das die Schlüssel-Kompetenz zur Erhaltung des eigenen Selbstwerts. Dieser Aspekt wird nur gerne mal übersehen. Wir lassen uns eigentlich – bildlich gesprochen – ununterbrochen vom 10-Meter-Brett Schubsen und sind anschließend damit beschäftigt, den Schaden zu kompensieren, den das innerlich in uns auslöst. Bzw. werden wir schrittweise dahingehend sozialisiert, dass wir den Schaden gar nicht mehr als solchen wahrnehmen. Der Schaden rutscht quasi eine Etage tiefer ins Unterbewusste, wo er dann weiter gärt und sich in seltsamen anderen Verhaltenweisen Bahn bricht: Zum Beispiel passiv aggressivem Verhalten anderen Menschen gegenüber…
Besonders schön lässt sich das im Straßenverkehr beobachten: Wer hat da nicht schon mal laut vor sich hingeschimpft oder andere seltsame Verhaltensweisen an den Tag gelegt… Auch im Umgang mit nicht funktionierender Technik lässt sich das beobachten: Wer wollte nicht schon mal eine Fernbedienung oder ein I-Pad zerbrechen? Was passiert da? Wir werden unfreiwillig im Status herabgesetzt. Das ist eine Demütigung und ein Verlust an Selbstwert und der muss kompensiert werden. Jemand oder etwas hat über uns die Führung übernommen und wir mussten unfreiwillig folgen.
Entweder es ist die Technik, durch die wir uns dumm und hilflos fühlen (beim Theater bekannt als „das Requisit als Gegner“) oder ein Mensch. Oder ein Arbeitsumfeld, in dem wir dauernd Sachen machen müssen, gegen die wir einen inneren Widerstand empfinden.
Jetzt ahnt ihr es wahrscheinlich. Genau. Da sind wir in der Schule angekommen. Ständig müssen dort Menschen ihre inneren Widerstände unterdrücken und Dinge tun, die sie nicht tun wollen. Unfreiwillig folgen. Schüler*innen- aber eben auch: Lehrkräfte. Und auch: Eltern, die beispielsweise oft ein unwohles Gefühl kompensieren müssen, wenn sie zum Elterngespräch in die Schule kommen müssen.
Was all diese Situationen eint ist: Wir erleben eine unfreiwillige Statusherabsetzung, weil wir uns nicht als Herr unserer selbst erleben. (Ich würde gerne „Dame unserer selbst“ sagen, aber das führt jetzt zu Verwirrung und lenkt ab). Ich kann auch einfach sagen: In all diesen Situationen müssen Menschen unfreiwillig folgen, was einer Statusherabsetzung gleichkommt, und sei sie noch so klein. Eine Statusherabsetzung ist ein Verlust von Würde.
Demgegenüber steht die sinnvolle (!) Notwendigkeit in Bildungsprozessen, auch mal Dinge tun zu müssen, die wir ablehnen, weil wir sie als unangenehme Irritation empfinden, die aber für einen produktiven Erkenntnisprozess unerlässlich sind. Es kann also durchaus sinnvoll sein, auch mal zu folgen. Es wäre aber für unseren Selbstwert besser, wenn wir lernen könnten, selbstbestimmt zu folgen.
Denn auch das ist ja schon nicht ganz einfach: Sich auf etwas Neues einzulassen, was besonders in Bildungsprozessen und in künstlerischen Prozessen die Grundvoraussetzung ist, empfinden wir erstmal immer als unangenehm. Trotzdem wäre es blöd, wenn wir dann immer gleich Veto rufen würden. Genau das passiert aber am Anfang, wenn wir das Veto bei Jugendlichen einführen. Alle machen mit leicht schadenfreudigem Gesicht Veto. Warum?
Ganz einfach: Weil wir alle verlernt haben, zwischen einer für uns sinnvollen Irritation, also einer Art produktiven „Challenge“, und einer demütigenden Grenzüberschreitung (Verlust an Würde) zu unterscheiden. Weil in der Schule und in unserer Gesellschaft beides ständig durcheinander geht und ein Veto nicht vorgesehen ist.
Wer eine leicht unangenehme Irritation nie als positive Challenge erlebt hat, nie als Möglichkeit, Selbstwert zu GEWINNEN, der macht irgendwann aus Prinzip bei allem Veto. Das habe ich an der Hauptschule in Neukölln erlebt. Da war alles nur noch ein großes Veto gegen alles. Und das Gegenan-Regieren setzte die Jugendlichen im Status und im Selbstwert immer weiter herab, ein Teufelskreis.
Irgendwann habe ich verstanden, dass ein Kind, dass frech wird und sich widersetzt, unfassbaren Mut aufbringen muss, denn Veto gegen eine Lehrkraft einzulegen, ist für einen Menschen unfassbarer Stress. Denn dann riskieren wir, aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden.
Und das ist für jeden Menschen schmerzhaft. Kinder, die also ständig rebellieren, ziehen den Schmerz des Ausschlusses offenbar dem noch schlimmeren Schmerz vor:
Dem Verlust an Würde.
Dem Schmerz, NOCH mehr an Selbstwert zu verlieren. Denn das ist das letzte, was wir als Menschen verteidigen. Wie sehr müssen da also schon alle Grenzen des Selbstwerts überschritten worden sein, dass ich mich lieber ausschließe aus der Gemeinschaft als noch weiter Demütigungen in Kauf zu nehmen?
Als ich das verstanden habe, war mir klar, dass das Veto der Schlüssel zu allem ist: Wie bringe ich Menschen wieder bei, sinnvoll Veto einzulegen, rechtzeitig zu MERKEN, wann ich mich vor Herabsetzung und Demütigung schützen muss bzw. wann ich mich auf eine für mich sinnvolle Challenge einlassen möchte und das zu einem Gewinn an Selbstwert führt?
Dafür muss ich erleben, dass ich autonom handeln kann und selbst entscheiden darf. Ich muss zu 100 Prozent Vertrauen haben, dass mein Selbstwert nicht beschädigt wird, dass niemand meine inneren Grenzen verletzt und ich SELBST die Fäden in der Hand halte.
Erst DANN kann ich überhaupt wieder neugierig werden, erst dann habe ich die innere Basis, um mich auf etwas Neues, Schwieriges einzulassen. Solange ich aber immer fürchten muss, dass mich jemand vom 10 Meter Turm schubst, bin ich nur mit dem Gedanken beschäftigt, wie ich dieser Situation ausweichen kann. Ob ich überhaupt springen will, dieser Gedanke kommt gar nicht auf.
Besser, gleich wieder vom Turm runter klettern, oder gar nicht erst rauf steigen.
Jede Situation, in der jemand führt und ich folgen muss, ist ein Risiko für meinen Selbstwert. Wer führt ist im höheren Status. Wer folgen muss ist im niedrigeren Status. Das ist ein Statusgefälle. Das kann nur produktiv werden, wenn derjenige, der folgen muss, mit einem Instrument ausgestattet ist, mit dem er den Statusabstand im Zweifel ausgleichen und wieder Gleichstand herstellen kann.
Im Zweifel heißt: Wenn mein Selbstwert, meine Würde, gefährdet ist. Dann MUSS ich etwas in der Hand haben, mit dem ich wieder Statusgleichstand herstellen kann, in dem ich nicht folgen MUSS, sondern dadurch wieder selbst die Führung übernehmen kann, in dem ich Veto sage.
Wenn ich dieses Instrument, die Veto Karte, SICHER habe, dann kann ich mich auch auf das Risiko des Folgens einlassen. Dann folge ich selbstbestimmt und kann dadurch auch etwas Neues lernen. Aber eben nur dann. Deswegen müssen alle Menschen führen UND folgen lernen. In der Schule lernen aber alle nur folgen:
Was muss ich machen, damit ich eine „1“ bekomme?
Kommen wir zu Wahrheit oder Pflicht. So, wie ich das Spiel leicht verändert habe, können Jugendliche (und Erwachsene natürlich auch!) niedrigschwellig (Low Floor) lernen, selbstbestimmt zu folgen, also ihren Selbstwert eigenständig zu verwalten und im Zweifel produktiv Veto einzulegen und damit die Führung zurück zu gewinnen und den Statusabstand aufzuheben.
Wahrheit oder Pflicht – Demokratische Variante des Spiels:
Das Spiel geht so: Person A stellt Person B eine persönliche Frage. Wer eine Frage stellt, führt. Denn die Person B ist im Stress, antworten zu müssen, also zu folgen. Jetzt kann aber Person B Veto einlegen, wenn sie die Frage nicht beantworten möchte, weil diese Frage eventuell ihre innere Grenze überschreitet.
Person B kann mit der Sicherheit des Vetos jetzt überhaupt erst anfangen, darüber nachzudenken, ob sie die Frage beantworten WILL. Denn der Stress ist weg. Ich kann ja Veto machen. Sehr oft ist schon alleine dadurch die Bereitschaft größer, sich auf ein Risiko einzulassen.
Aber nehmen wir mal an, Person B macht Veto. Dann hat Person A jetzt die Rückmeldung erhalten, dass die Frage zu persönlich war. Person A hat ein Veto bekommen. Jetzt hat Person A eine zweite Chance und darf sich eine „Pflicht“ ausdenken, also einen Auftrag. Auch hier muss Person A abwägen, ob durch diesen Auftrag Grenzen des Gegenübers überschritten werden könnten.
Wenn Person B auch die „Pflicht“ mit Veto verweigert, hat Person A die erste Runde verloren und muss die Führung an Person B abgegeben. Das heißt, jetzt darf Person B führen und eine persönliche Frage stellen, usw.
Wenn aber in der ersten Runde Person B die Pflicht in Ordnung findet und beispielsweise fünf Liegstütze macht, dann darf Person A NOCH eine persönliche Frage stellen und darf also weiter führen. Denn Person B hat signalisiert: Bei „Pflicht“ war ich bereit, selbstbestimmt zu folgen. Usw.
Die Herausforderung („Challenge“) für die fragende, also führende Person ist also: Wie kann ich möglichst etwas Persönliches von meinem Gegenüber erfahren, das mich wirklich interessiert und gleichzeitig ein Veto vermeiden? Wenn ich zu sehr auf Nummer sicher gehe und risiko-lose Fragen stelle, wie : Was ist dein Lieblingsessen? bekomme ich zwar vielleicht kein Veto, aber ich erfahre leider auch nicht viel. (Hier wird wieder das Skalen-Prinzip wirksam. Ich habe ein Ziel und muss auf einer Skala der Möglichkeiten abwägen).
Dieses Spiel kann, wie beschrieben, in Duos gespielt werden, also in jeweils intimen Zweier-Konstellationen: Zwei Personen sitzen sich gegenüber. Oder aber im Kreis. Dann ist immer nur eine Person dran und wählt eine andere aus, der sie eine Frage stellt. Wahrheit oder Pflicht im Kreis zu spielen ist aber bei weitem die größere Challenge, weil alle zuhören. Deswegen würde ich erstmal jeweils zu zweit spielen lassen und erst später im Kreis.
Damit das Spiel funktioniert, ist es wichtig, dass wir vorher die Bedeutung des Vetos mit allem, was ich jetzt hier beschrieben habe, den Jugendlichen gegenüber thematisieren und transparent machen. Das lohnt sich. Denn meiner Erfahrung nach sind die Jugendlichen dann gebannt. Es ist abgefahren, zu beobachten, wie Leute sich dann teilweise ewig schweigend gegenüber sitzen und grübeln und gleichzeitig wahnsinnig gespannt sind. Also, das ist alles andere als langweilig.
Dieses Spiel in der beschriebenen Weise, ist ein Beispiel dafür, wie etwas zunächst einmal sehr leicht klingt (Low Floor) aber unendlich viele Möglichkeiten und Erkenntnisse aufmacht (Wide Walls).
Wenn alle dieses Spiel mit Veto spielen können, werden die anderen drei Demokratischen Führungs-Joker dazu genommen.
Tempo heißt dann: Du kannst riskantere Fragen stellen, bisher fragst du zu vorsichtig. Ich bin bereit, dir persönlicher zu antworten.
Klarheit heißt dann: Ich verstehe deine Frage nicht. Formuliere noch mal anders.
Verantwortung heißt: Deine Frage ist zwar ok, aber eventuell willst DU die Antwort nicht hören. Ich übernehme also hier Verantwortung für DICH. Aber wenn du trotzdem fragst, mache ich kein Veto, und du musst dann mit der Antwort klar kommen. Aber dann bitte nicht jammern…
Wie grundsätzlich in diesem Gesamtkonzept, lassen sich auch in diesem kleinen einfachen Spiel die Grundprinzipien des ganzen Ansatzes nachweisen. Das Kleine steht auch hier wie immer in diesem Konzept zugleich für das Große.
Die Grundprinzipien werde ich demnächst alle auf einem Blick erläutern. In diesem Spiel greifen beispielsweise die Prinzipien: Low Floor, Wide Walls, High Ceiling. Und der Drei-Schritt: 1 Ziele formulieren. 2 Eine Erfahrungs-Spielwiese eröffnen auf der Basis eines gemeinsamen Referenzsystems (das gemeinsame Referenzsystem sind in diesem Falle die vier Demokratischen Führungs-Joker) und 3 Reflexion.
Reflexion: Wenn eine Zeitlang gespielt wurde, treffen sich alle im Kreis und berichten von ihren subjektiven Erfahrungen. Was habe ich bei mir erlebt, wo fiel es mir schwer? Wann habe ich Veto machen wollen und es doch nicht gemacht? Wie hat es sich angefühlt zu führen? Zu folgen? Was war überraschend für mich? Usw.
Und warum das alles? Warum gleichberechtigt reden üben, warum das Veto, warum diese ganze Arbeit, die unserem Schulsystem zu widersprechen scheint?
Ich sehe tagtäglich: Auf der Basis von Selbstwert wächst der Wille, sich auf Neues, Unbekanntes (Lernen) einzulassen und stufenweise dann auch der Wille zur Selbstverantwortung. Dies ist die Basis, um irgendwann auch Verantwortung für gemeinsame Ziele übernehmen zu können. Es ist ein langer Weg, aber einer, der sich lohnt.
Also: Je mehr Selbstwert, desto mehr Kompetenz für eine menschliche, demokratische und freie Gesellschaft. Das wäre „das Große dahinter“. Und Selbstwert und Würde beginnen im Kleinen. Beim Veto.
Das wars für heute und ich wünsche euch viel Spaß beim Spielen. Denn euch ist ja klar: Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt… Das stimmt! Probiert es aus!
Hier jetzt direkt zu den dazugehörigen Folgen von „Rede mal ordentlich, Frau Plath!“:
Link zur YouTube Folge 4: Demokratie von der Basis her erleben – Gleichberechtigt miteinander reden:
Link zur YouTube Folge 5: Störungen – was tun, wenn alle Veto machen?: