Der Blog und Podcast „Türwächter*innen der Freiheit“ wird in ungefähr einer Woche fortgesetzt. In den letzten Tagen ist mir – wie uns allen – das Leben um die Ohren geflogen und es gab Dringlicheres zu tun und zu retten, so dass ich keine Zeile schreiben konnte – bis auf die Projekt-Idee, die ihr hier unter diesem Text findet und die auch ihr gerne als Inspiration nutzen könnt. Allmählich gewöhnt sich mein Kopf an den Schock. Und so bald wie möglich, geht es dann hier weiter. Ich wünsche uns allen, dass wir es schaffen, trotz dieser Erschütterung, mit der Zeit allmählich auch die Chancen sehen zu können, die diese gewaltigen Veränderungen eröffnen. Und dass wir die Kraft und die Zuversicht entwickeln, sie zu nutzen – zum Beispiel für mehr MITEINANDER. Bis vor kurzem klang sowas wie ein frommer Wunsch vom Kirchentag. Jetzt finde ich den Satz ziemlich vernünftig. In diesem Sinne: Bleibt stark, zuversichtlich und gesund. Bis demnächst hier an dieser Stelle mit dem 19. Kapitel der „Türwächter*innen der Freiheit“. Möge die Kraft mit uns sein. 😉 Maike
ACT-PROJEKT IN KRISENZEITEN: «DECAMERONE» Von Maike Plath Decamerone (Klassiker von Boccaccio): Sieben Frauen und drei Männer fliehen vor der Pest im Jahre 1348 aufs Land und verbringen dort zehn Tage in einer Art Quarantäne in einem Landhaus in den Hügeln von Florenz, drei Kilometer vom damaligen Stadtkern von Florenz entfernt. Im Landhaus versuchen sich die zehn jungen Menschen gegenseitig zu unterhalten. Daher wird jeden Tag eine Königin oder ein König bestimmt, welcher einen Themenkreis vorgibt. Zu diesem Themenkreis hat sich nun jeder der Anwesenden eine Geschichte auszudenken und zum Besten zu geben. Nach zehn Tagen und zehn mal zehn Novellen kehrt die Gruppe wieder nach Florenz zurück. Bis vor wenigen Tagen hat wohl niemand von uns sich vorstellen können, wie schnell all die Dinge des täglichen Lebens, die wir ganz selbstverständlich fanden, zum Stillstand kommen könnten: Zuerst sollten wir nur die Hände waschen und die Armbeuge husten, dann aufs Händeschütteln und Umarmen verzichten. Dann wurden Großveranstaltungen abgesagt. In den sozialen Medien las man einiges, aber das war ja alles wieder Panikmache. Oder? Jedenfalls. Ganz plötzlich, von einem Tag zum anderen, veränderte sich die Stimmung und die Meldungen. Von einem Tag zum anderen ist unser Alltag weggefegt. Alle Planungen für die nächsten Wochen zusammengebrochen. Plötzlich ist: nichts. Und dazu eine unheimliche Stimmung. Leere Regale bei dm und rossmann, wo das Klopapier war. Erschreckende Meldungen aus Italiens Krankenhäusern. Leere Bürogebäude, leere Schulen, geschlossene Kneipen, Kinos und Theater. Wir sollen keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen. Nicht mehr aus dem Haus gehen, wenn nicht dringend nötig. Reisen und Termine absagen. Alles von zu Hause aus machen. Was bedeutet das alles? Und was macht das mit uns, wenn all das wegfällt, was bis gestern völlig selbstverständlich war? Wir erleben etwas, das uns noch lange beschäftigen wird. Und zwar insbesondere unter dem Aspekt Menschlichkeit und Solidarität. Die Entwicklungen der letzten Tage haben uns einen Schrecken eingejagt. Und das Schlimmste ist noch nicht überstanden. Unser Alltag wird sich sehr verändern. Aber all das könnte, wenn wir es überstanden haben, der Auslöser für eine längst notwendige gesellschaftliche Entwicklung sein. Ein Beispiel:Systemrelevante Berufe Für den Fall einer flächendeckenden Ausgangssperre ist die Rede davon, dass dann alle zu Hause bleiben müssen, bis auf diejenigen, die die «systemrelevanten Jobs» haben. Denn wenn DIE zu Hause bleiben, bricht unser ganzes System zusammen. Krass. Das sind also die Wichtigen, ohne die es nicht geht. Und wer ist das? Welche Menschen sind die mit den systemrelevanten Berufen? Das sind diejenigen im medizinischen, pflegerischen und sozialen Bereich, es sind diejenigen bei der Polizei und der Feuerwehr, in der Lebensmittelproduktion, in der Infrastruktur, Telekommunikation und der Müllabfuhr. Und jetzt kommts: Das sind die Berufe, in denen die allermeisten geringe Einkommen haben. Jetzt wird deutlich, dass all diejenigen, die wir brauchen, damit unser Alltag funktioniert und es allen einigermaßen gut geht, die mit dem wenigsten Geld sind. Und das geht noch weiter. Zweites Beispiel:Systemrelevante menschliche Wärme Was braucht der Mensch, um Krisen-Zeiten nicht nur körperlich zu überleben, sondern auch psychisch heile durchzukommen? Was braucht der Mensch, um Mensch bleiben zu können? Nehmen wir zur Anschauung einmal das Kinderbuch «Frederic»: Da muss eine Gruppe von Mäusen einen harten Winter überstehen. Quasi eine Krise. So, wie wir jetzt. Es gibt die systemrelevanten Mäuse, die tagein, tagaus Nahrung heranschaffen und alles gewährleisten, was die Mäuse benötigen, um körperlich zu überleben. Nur die Maus Frederic scheint sich an diesen Tätigkeiten nicht zu beteiligen. Stattdessen «sammelt er Farben, Gerüche, Worte, …». Als dann der harte Winter kommt, haben die Mäuse genug zu essen. Aber mit der Zeit wächst bei ihnen der Stress, sie fürchten sich, wissen nicht wohin mit sich, haben nichts zu tun und fühlen sich unglücklich. Da kommt Frederic und erzählt ihnen Geschichten. Und die Mäuse kuscheln sich aneinander und wärmen sich an den Geschichten von Frederic, denn während sie ihm lauschen, sind sie nicht nur körperlich miteinander verbunden, sondern auch mental in denselben Gedankenräumen. Wir wissen, dass Menschen «soziale Distanzierung» nicht lange aushalten, ohne Symptome zu bekommen. Der Mensch ist ein Herdentier, das ohne menschliche Wärme ganz schnell zugrunde geht. Seelisch und psychisch. Schon jetzt sind ältere Menschen in ihren Wohnungen allein und haben wegen dem Corona Virus Angst, raus zu gehen. Sie sind nicht über digitale Geräte mit anderen Menschen verbunden. Sie sind allein und haben Panik, können nicht schlafen, vermissen soziale Kontakte. Sie werden quasi krank, ohne sich überhaupt durch den Virus infiziert zu haben. Aber so geht es nicht nur Älteren. Wenn Menschen plötzlich in ihren Wohnungen aufeinanderhocken, niemand mehr zur Arbeit oder zur Schule muss, entstehen Spannungen und Konflikte. Und Menschen ohne Familie sind einsam und sorgen sich viel mehr, als wenn sie in Kontakt mit anderen sind. Menschen brauchen andere Menschen. Das heißt: Wenn wir diese Krise gemeinsam meistern wollen und uns deshalb für eine bisher ungewisse Zeit an die soziale Distanzierung gewöhnen müssen, dann brauchen wir trotzdem menschliche Wärme und Zusammenhalt. Wir brauchen erstens die Menschen in den systemrelevanten Berufen, damit wir körperlich heile durch den Winter kommen. Wir brauchen aber auch die Frederics. Und Netflix und Computerspiele können uns zwar zerstreuen und uns bei Langeweile helfen. Menschliche Wärme geben sie uns aber nicht. Was ist also die gegenwärtige Herausforderung? Wir leben in Zeiten, in denen wir wie nie zuvor über das Netz in Verbindung bleiben können. Bisher wird der Kommunikationsaspekt im Netz viel zu häufig durch Beschimpfungen und Hassbotschaften genutzt. Dies wäre der Zeitpunkt für eine Wende. Weg von Abgrenzung und Gegeneinander hin zu allem, was uns verbindet, uns tröstet und uns hilft, zu leben. Hin zu menschlicher Wärme. Das wäre die zweite systemrelevante Komponente für unsere Gesellschaft: In diesem Fall könnten wir es «Fernwärme» nennen. Projekt Fernwärme «DECAMERONE»: Alle ACT-Projektgruppen könnten ihre begonnenen Projekte so weit denken, wie sie jetzt sind. Bei einer späteren Präsentation — eventuell im Juni, eventuell aber auch später — würde das Projekt bis zu dem Punkt gezeigt, bis wohin «noch alles normal war». Dann bricht die Theaterproduktion, der Film, die Tanzproduktion, usw. ab. Es wird dunkel. Und dann kommen eure Stimmen, eure Eindrücke, Geschichten und Erlebnisse aus der Zeit der Corona-Krise. Eure Gedanken für eine bessere Gesellschaft. Eure Ängste. Eure persönlichen Berichte von Ereignissen aus dem weltweiten Ausnahmezustand. Wie ihr eure Geschichten, Gedanken, Beiträge verfasst, ist euch selbst überlassen. Denkbar wären gemeinsame Plattformen, in denen ihr eure gegenseitigen Beiträge lesen oder per Video anschauen — und auch aufeinander reagieren könnt. Denkbar wäre die Produktion eines Podcasts mit mehreren Folgen. Oder eine Film-Serie, die ausschließlich mit Handy oder sehr einfacher Kamera gefilmt ist: Jede*r von euch filmt sich dabei selbst und erzählt — beim Spaziergang durch die Stadt, oder beim «Durchdrehen im eigenen Zimmer», wenn es auch mal unerträglich ist. Denkbar wäre auch, dass ihr dokumentiert, wie ihr anderen in der Nachbarschaft, die in Quarantäne sind, helft, für sie Einkäufe erledigt oder mit ihnen telefoniert, ihnen Witze erzählt oder am Telefon etwas vorlest. Oder sie zu ihren Gedanken oder Erinnerungen befragt. Oder ihr dokumentiert Begegnungen in Berlin mit anderen (nur zu zweit und zwei Meter Abstand halten, versteht sich). Oder ihr erstellt ein graphic novel, ein Daumenkino, ein Musikvideo, oder oder oder… Bedingung aber ist: Ihr seid dabei jeweils allein wie Frederic. Jede*r verfolgt seine eigene Idee, teilt sie aber mit allen anderen und darüber bleibt ihr in ständigem Austausch. Wer technische oder andere Hilfe benötigt bei der Umsetzung der eigenen Idee, kann in der Gruppe (online) um Unterstützung bitten. Es ist fast immer alles benötigte Wissen in einer Gruppe vorhanden, wenn ihr kommuniziert. Und haltet es einfach: Auf eure Stimme, eure Gedanken, Erlebnisse, Gefühle und Beobachtungen kommt es an. Nicht auf Perfektion. So könnten wir menschliche Wärme und Zusammenhalt erzeugen. Weil wir in gemeinsamen Gedankenräumen sind. Und eine gemeinsame Sache erschaffen. Die auch andere trösten und ablenken wird von wiederum ihren Krisen und einsamen Momenten oder einfach nur ihrer Langeweile. Mit vielen Formaten (wie z.B. Podcasts ) könnt ihr darüber hinaus auch noch weiter — quasi in jedes Zimmer — wirken und auch fremde Menschen aufmuntern. Und das alles wird auch uns helfen, diese Zeit zu überstehen und beieinander zu bleiben. Solange, bis wir uns wieder umarmen dürfen. Am Ende hätten wir all diese Geschichten, Kommentare und Materialien aus einer Zeit, die wir alle nie vergessen werden. Und die uns dann auch zusammengeschweißt haben wird. Und vielleicht entstehen aus euren Beobachtungen und Gedanken aus dieser Zeit neue Ideen für die Zukunft. Das halte ich durchaus für möglich. |
Lasst uns noch heute anfangen mit dem neuen ACT-Projekt «Decamerone». (Und denkt daran, dass es in jeder Gruppe jemanden braucht, der ein bisschen die Verantwortung und Steuerung übernimmt. Dabei könnt ihr euch auch abwechseln). Und: Wir bleiben natürlich in Kontakt. Haltet uns auf dem Laufenden! Auf unserer Seite www.act-berlin.de findet ihr erste Ideen zu möglichen Umsetzungen. |