Qualität und Kritik

Am letzten Wochenende habe ich einen 2-tägigen Workshop zum Mischpult-Prinzip in Weimar gegeben. Zauberhafte Gruppe, wunderbare Arbeit, wahnsinnig schön. Bis auf die letzten 20 Minuten. Da kamen wieder diese Fragen, die eben nicht „mal eben kurz“ mit Ja oder Nein zu beantworten sind… und die bei mir immer diese Gehirnverknotung verursachen: Schnell soll ich noch kurz die Lösung für dieses oder jenes grundsätzliche Problem verraten… Aber nein. Ich habe keine Weltlösung in einem Satz. Tatsächlich nicht. Deswegen gibt es ja das Konzept.

Beispiel einer solchen Frage (zum Thema der „Lieblingsmomente“):

Was mache ich, wenn einige beim „Gespräch unter Freunden“ auch was Negatives zurück melden wollen, etwas, das NICHT so gut war…?

Ich denke mir: Dahinter steckt offenbar die Befürchtung, die Qualität ginge den Bach runter, wenn „alles gelobt werden muss“…

Erstens: Es soll nicht ALLES gelobt werden. Es soll nur trainiert werden, Qualität zu erkennen, wenn sie da ist. Und darüber hinaus frage ich mich: Ist das nicht bereits konzeptionell beantwortet? Trotzdem hier mal der Versuch einer (konzeptionellen) Antwort auf diese immer wieder geäußerte Skepsis in Bezug auf die „Lieblingsmomente“.

Erstens: Das sogenannte „Kritisieren“ ist zunächst einmal nichts anderes als ein Machtspiel, das denjenigen Vorteile verschafft, die ohnehin schon im Vorteil sind (Selbstbewusstsein, Sicherheit, Wissen, „Heimspiel“, Normativität,…, siehe Kapital-Mischpult).

Zweitens: Was ist „Kritik“ und wer kann sie äußern in Bezug auf welchen Maßstab?

Drittens: Mit welcher Absicht wird „Kritik“ geäußert? Geht es wirklich darum, jemand anderen in guter Absicht darin zu unterstützen, besser zu werden?

Und wenn ja, (was ich bezweifle), woher nimmt dann die Kritik-äußernde Person diese (erstaunliche!) Selbstgewissheit, dass ihre Einschätzung der kritisierten Person „hilft, besser zu werden“?

Meiner Erfahrung nach wird zu Beginn eines gemeinsamen Prozesses nicht in einer kooperativen Absicht „kritisiert“ – also damit das Gegenüber „besser“ werden kann – sondern vielmehr deswegen, um den eigenen Status zu heben und vor den anderen als „schlauer“ da zu stehen.

Mir geht es daher immer zunächst einmal darum, erstmal dafür zu sorgen, dass alle die gleichen Möglichkeiten haben zu „kritisieren“, denn erst dann wird Kritik überhaupt erst konstruktiv.

Dahinter stehen folgende Überlegungen:

Wenn wir mal ehrlich sind, dann ist „Kritik annehmen“ das Schwerste, was es gibt. Auch für Erwachsene übrigens.

Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, dass „Kritik“ in den meisten Fällen etwas kaputt macht und bei den „Kritisierten“ eben nicht selbstverständlich etwas Konstruktives in Gang bringt.

Wer den Mut zusammen gekratzt hat, eine eigene Idee oder einen eigenen Entwurf zu zeigen, macht sich verletzlich. Das erfordert Mut. Wenn wir anschließend durch Äußerungen der anderen eine persönliche Herabsetzung empfinden, verschließen wir uns ein Stück weit wieder und müssen erstmal Schmerz kompensieren.

Wer den Schmerz einer Herabsetzung kompensiert, verkapselt sich und befindet sich kurzzeitig (oder länger – je nach Intensität der Herabsetzung) in einer Art „Ego-Brummkreisel“. In diesem Zustand sind wir nicht mehr offen für den Prozess, nicht mehr offen für die anderen. Es ist eine Art Mini-Narzissmus-Tunnel, in dem wir dann sitzen: Wir müssen Energie aufwenden für schlüssige Argumente, die beweisen, dass WIR richtig liegen, die anderen aber „doof, unfähig, inkompetent“ sind, oder wir werten gleich das ganze Setting ab: „Theater ist Schwachsinn. Die Gruppe passt nicht zu mir. Das ist sowieso nichts für mich“,… usw.

Und wer nach außen die Herabsetzung verbirgt, weil das ja ein Beweis angeblicher Souveränität ist, der muss NOCH mehr Energie aufwenden. All das führt gerade NICHT dazu, dass ich mich für das Risiko eines Entwicklungs-Prozesses öffne.

Und interessant ist eben auch, wer zu Beginn eines Prozesses unbedingt „was Negatives sagen möchte“ und welche Motive diesem Impuls zu Grunde liegen (siehe oben).

Frag dich doch an dieser Stelle einmal kurz selbst, unter welchen Umständen und in welchen Situationen es dir leichter fällt, Kritik konstruktiv aufzunehmen und in welchen Situationen es dich aus der Bahn wirft und du die Kritik innerlich abwehrst („diese Idioten, die können mich mal…!“). Und dann frag dich noch kurz, was es braucht, damit du dich selbstsicher einer vielleicht berechtigten aber harten Kritik stellen kannst… Na eben.

Wenn ich zu Beginn eines Prozesses bewirken möchte, dass sich jemand für neue Erfahrungen und Erkenntnisse wirklich öffnet, dann ist „Kritik äußern“ zunächst mal das Ungünstigste, was ich tun kann. Denn so kann der für den Prozess erforderliche Mut gerade nicht entstehen. Und es sind dann nur diejenigen im Vorteil, die sich aufgrund besserer Startvoraussetzungen (Normativität, „Heimspiel“, usw., siehe oben) mehr Mut leisten können. Denn sie haben weniger zu verlieren.

Deswegen geht es mir immer darum, zunächst ungleiche Machtverhältnisse transparent zu machen und möglichst auszugleichen.

Um dieses Ziel zu erreichen besteht EIN konzeptioneller Teil des Mischpult-Prinzips darin, den Fokus aller Beteiligten zunächst einmal auf die GELUNGENEN Momente zu richten und ausschließlich ehrlich gemeinte Lieblings-Momente überhaupt zu FINDEN und diese konkret zu benennen.

Das ist übrigens gar nicht so einfach, weil wir natürlich alle so sozialisiert sind, dass wir

-erstens immer sofort das „Nicht-Geglückte“ sehen und

-zweitens gelernt haben, dass wir für intelligenter gehalten werden, wenn wir „den Kritiker geben“ und möglichst viel zu bemängeln haben.

Beides führt aber eben ÜBERHAUPT nicht zu einer Qualitäts-Steigerung. Es führt nur dazu, dass alle sich schützen und gegeneinander abgrenzen (Konkurrenz) und ungleiche Machtverhältnisse weiter verstärkt werden.

Und noch schlimmer: Es führt dazu, dass sich alle unbewusst nach dem „größten Kritiker“ im Raum ausrichten. Kann aber gut sein, dass „der größte Kritiker“ in Wahrheit einfach nur ein „Kläffer“ ist, jemand der durch sein „Kritisieren“ einfach nur ein mangelndes Selbstwertgefühl kompensiert. Und das soll dann der Maßstab für Qualität sein? Ich bezweifle das.

Ich habe solche Dynamiken, die die Qualität behindern, statt sie zu befördern immer wieder sowohl bei jungen als auch bei erwachsenen Menschen beobachtet.

Daraus habe ich für mich abgeleitet: Je höher der Selbstwert eines Menschen, desto größer seine Fähigkeit, das Positive, also die Qualität, in anderen zu sehen und der Weiterentwicklung dieser Qualität Raum zu geben.

Je geringer der Selbstwert eines Menschen, desto größer sein Drang, die Mängel der anderen zu benennen.

Deswegen geht es mir erstmal darum, den Selbstwert aller Beteiligten zu stärken, Vertrauen zu schaffen, damit der Mut zur Offenheit für Neues und für die Begegnung mit anderen entstehen kann.

Wer wochenlang Zeit hat, zu beobachten, dass wirklich nur ernst gemeinte (!) und tatsächliche Lieblingsmomente Raum bekommen und der Impuls zu „kritisieren“ von der Spielleitung „abtrainiert“ wird, der gewinnt an Selbstwert und öffnet sich zunehmend für das, was im Raum und während des Prozesses wirklich passiert. Der entwickelt Neugier. Die ganze Energie, die zuvor für den Schutz vor unfreiwilligen Demütigungen aufgewendet werden musste, kann nun frei in den Erkenntnis- und Gestaltungsprozess fließen. Das ist die Grundvorraussetzung dafür, dass Qualität entstehen kann.

Die Fähigkeit, in einem Szenen-Entwurf die gelungenen Anteile zu SEHEN und begründen zu können, woran genau die Qualität festzumachen ist, wächst auf diese Weise bei allen Beteiligten von Probe zu Probe. Mit der Zeit wird die Wahrnehmung für das, was die Qualität einer theatralen Umsetzung ausmacht zunehmend facettenreicher und die Freude am Feilen und Optimieren selbstverständlicher Bestandteil des gemeinsamen Prozesses. Dann wird „Kritik“ nicht mehr als ein abgrenzendes Gegeneinander und als Herabsetzung einzelner angesehen, sondern als natürlicher Bestandteil der gemeinsamen Suche nach Qualität.

Deswegen: Ja, ich verbiete in den Anfangsphasen des Prozesses negatives Feedback. Aber nicht, weil ich die Jugendlichen zur Unehrlichkeit erziehen will, sondern umgekehrt, weil ich den Boden dafür legen möchte, dass sie miteinander EHRLICH über die Qualität des Gegenstandes – nämlich über die Inhalte und den künstlerischen Ausdruck – sprechen und daran feilen lernen, statt sich unter dem Deckmantel vermeintlicher „ehrlicher Kritik“ übereinander zu erheben und gegenseitig abzuwerten.

Ich halte es für absurd rückwärtsgewandt und längst widerlegt, dass man einen Menschen nur erstmal richtig „kritisieren“ (=demütigen) muss, um einen Prozess in Richtung Qualität zu initiieren. Das Gegenteil ist der Fall.