Tear down this school! – Zur Notlage und zum Lehrer:innenmangel an Schulen

(Vorweg – für diejenigen, die nichts über mich wissen: Ich war 17 Jahre lang verbeamtete Lehrerin mit voller Stelle im Schuldienst. 8 Jahre lang als Lehrerin an einer Integrierten Gesamtschule in Schleswig Holstein, 9 1/2 Jahre an einer sogenannten „Brennpunktschule“ (damals Hauptschule) in Berlin Neukölln. In den fast 10 Jahren als Lehrerin in Neukölln gelang es mir nur durch ein grundsätzliches „In-Frage-Stellen“ der mir bis dahin bekannten Unterrichtsmethoden und Inhalten überhaupt zu „überleben“ – sprich: Unterricht zu gestalten, der für mich UND die Jugendlichen Sinn erzeugte, sie motivierte und persönlich wachsen ließ. Dies war nur durch die Entwicklung eines systematischen Vorgehens möglich: Während der Jahre in Neukölln entwickelte ich im täglichen Scheitern und Neu-Probierens die Grundlagen für das Führungskonzept, das heute als Veto-Prinzip immer mehr Menschen bekannt ist. Das Veto-Prinzip geht nicht von einer normierten Erwartungshaltung oder standardisierten Leistungsanforderungen aus – sondern von der Integrität und den individuellen Potentialen aller Beteiligten. Die Integrität jedes Menschen ist durch ein institutionalisiertes Veto-Recht geschützt. Von dort aus beginnen alle Lern- Entwicklungs- und Gestaltungsprozesse. Das Veto-Prinzip erwies sich als gleichwürdiges Führungskonzept in allen Gruppen, in denen es über längere Zeiträume intensiv praktiziert und konsequent umgesetzt wurde, als extrem erfolgreich. Ich habe 2012 den Schuldienst samt Verbeamtung aufgegeben und leite jetzt gemeinsam mit zwei Kolleginnen die Organisation ACT e.V., über die wir das „Veto Prinzip“ in verschiedensten Gruppen an Schulen und Kultureinrichtungen umsetzen und es im Weiterbildungsbereich deutschlandweit und in der Schweiz und Österreich an Führungspersonen weitergeben – schwerpunktmäßig im Bildungsbereich, aber zunehmend auch in anderen Führungskontexten. Meinen Weg „vom Gehorsam“ (innerhalb des verbeamteten Schuldienstes) zur Selbstverantwortung (als eigenständige Führungsperson, Herzblut-Pädagogin und Autorin) beschreibe ich in dem Doku-Fiktionsroman: „Türwächter:innen der Freiheit“. Das Veto-Prinzip ermöglicht verschiedenste methodische Zugänge, welche in zahlreichen Publikationen bei Beltz und in „Befreit euch!“ beschrieben sind. Im März 2023 erscheint im Beltz Verlag die Publikation zum Gesamt-Konzept mit dem Fokus auf „Führung“: „Das Veto-Prinzip. Die sieben Säulen gleichwürdiger Führung“, Maike Plath).


„Die ganze Schule ist verrostet!“ (Kerem, 13)

„Ich wünsche mir einen Lehrer, der FRÖHLICH ist!“ (Dennis, 14)
„Ich wünsche mir einen Lehrer, der mir HILFT!“ (Sarah, 13)
„Ich wünsche mir einen Lehrer, der mich versteht!“ (Ibo, 13 Jahre)
(Original-Zitate, daher nicht gegendert, sorry).

Und:
„In jedem dieser Gespräche geht es an irgendeiner Stelle um den momentanen Lehreralltag, der geprägt ist von den Coronajahren – ein stetiges Balancieren auf der Belastungsgrenze. Viele haben sie längst überschritten: keine Schule ohne langfristige Ausfälle, wegen Überarbeitung, Burn-out, Depressionen. Welche Maßnahme könnte vor diesem Hintergrund ergriffen werden, um den Lehrkräftemangel zu beheben? Richtig: noch mehr Arbeit für die, die noch stehen“. (Aus: „Der Spiegel“, ein Gastbeitrag von Bob Blume, „Noch mehr Arbeit, für die, die noch stehen“, vom 31.01.2023)

Also.
Ich sach ma so:

Wenn keine:r mehr so richtig Lust auf Schule hat, sollten wir vielleicht mal anfangen, uns zu fragen, was mit der SCHULE nicht mehr stimmt – und nicht mit ALL den Menschen, die keine Lust mehr haben…

Von politischer Seite gibt es allerdings kein Problembewusstsein zum Thema Lehrer:innenmangel oder überhaupt zum Thema Bildung. Läuft doch alles!

Ich find‘s so lustig (GAR NICHT!!), dass schon damals, 2004, in der US-amerikanischen Fernseh-Serie „The Wire“ wunderbar realistisch auf den Punkt gebracht wurde, dass beim Thema Bildung Lösungen von politischer Seite NULL zu erwarten sind.

In „The Wire“ wird einem aufstrebenden Politiker in Staffel 4 wortwörtlich geraten: „Halten Sie sich von den Schulen fern!“ Klar, denn ECHTE Lösungen für die immer größer werdende Problembaustelle Schule würden eine bahnbrechend positive Wirkung erst nach ein paar Jahren entfalten – zu lang für die Legislaturperiode machtinteressierter Politiker:innen. Da ist es doch einfacher, nach der Devise „Nach mir die Sintflut“ zu handeln und die Verantwortung immer wieder an die Leidtragenden selbst abzuschieben:

An die „störenden“ Schüler:innen und die im System Schule jeglicher Freiheit beraubten Lehrpersonen, die nicht DÜRFEN, wie sie eigentlich KÖNNTEN und WOLLTEN.

Dabei ist offensichtlich, dass nicht die Schüler:innen oder die Lehrer:innen das Problem sind.

Sondern ein Schulsystem, das inhaltlich und strukturell aus einer weißen, heteronormativen, bildungsbürgerlichen und – bewusst oder unbewusst – noch immer autoritär geprägten Perspektive heraus gedacht und umgesetzt wird. Dieses Schulsystem wirkt auf der Beziehungsebene (dem wichtigsten Kanal gelingender Kommunikation) strukturell und institutionell trennend und erzeugt bei allen Beteiligten Stress und unnötige Emotions- und Kommunikationsblockaden, die den Zweck der gesamten Institution unterlaufen.

Junge Menschen erkennen (bewusst oder unbewusst), dass die Strukturen und die Kommunikation an Schulen noch immer nicht gleichwürdig sind und integritätsverletztend wirken.

Sie nehmen wahr, dass zwischen Schule und den Herausforderungen einer zunehmend komplexen Welt ein tiefer Graben verläuft und Schule keine Antworten parat hat auf all die Fragen, die sich ihnen immer dringlicher stellen.

Und die Lehrpersonen sind dienstlich aufgefordert, sich gegen diese zurecht skeptische und zunehmend unwilligere bis „störende“ Schüler:innenschaft DURCHZUSETZEN. Sie werden mit sinnlosen und ausufernden Arbeitsabläufen einerseits von direkter Kommunikation mit den Heranwachsenden abgehalten (agiles Arbeiten UNBEKANNT!) und andererseits daran gehindert, mal inne zu halten und NACHZUDENKEN, ob das alles denn so Sinn macht – nee, bloß keine Zeit für Selbstreflexion oder gar Selbstfürsorge – das ginge ja GAR NICHT, dann könnten sie ja plötzlich auf blöde (KLUGE?) Ideen kommen…:

Zum Beispiel darauf, dass mit einem Veto-Recht für alle Beteiligten die menschliche Integrität als Ausgangspunkt aller Denk-und Handlungsprozesse genommen werden könnte… (- und nicht länger eine fragwürdige Norm!).

Wenn durch ein Veto-Recht alle wieder bei SICH und ihren echten Bedürfnissen ankommen dürften, würde das ein Feuerwerk an Ideen und Kooperations-Lust entfachen und etwas VÖLLIG NEUES könnte entstehen! Nicht mehr Wissensvermittlung und Noten wären im Vordergrund, sondern die Ausbildung und Weiterentwicklung der vorhandenen unterschiedlichen Talente, Perspektiven und Fähigkeiten.

Und all das könnte dazu führen, dass Schule demnächst DER Ort für Innovation wäre, wo alle anderen hinpilgern, um zu lernen, wie Zukunft wieder etwas Hoffnungsvolles sein könnte…

Nur so ne Idee. Aber klar. Wir können auch alle einfach so weiter machen wie bisher. Bis wir umfallen, krank oder verrückt werden – oder tot sind. Geht auch!

ODER aber – Kleine Gedankenanregung: Alle machen Veto und fangen an, für ihre Grenzen und ihre Gesundheit einzustehen – und damit zugleich auch für die Grenzen und Bedürfnisse aller anderen Leidtragenden dieses menschenverachtenden Systems! Immer mehr Menschen gehen in Richtung Selbstverantwortung und werden ermutigende Vorbilder für andere… In neue gleichwürdige „Räume“, in denen ALLE Veto machen dürfen! Und DANN fängt etwas NEUES an.

Meine fünf Thesen, warum kein Mensch mehr Lust auf Schule hat:

1 Das Schulsystem ist nicht mehr zeitgemäß:

Es hat den Anschluss an die Gegenwart verpasst. Es wird derzeit immer mehr Menschen schmerzhaft bewusst, dass das Schulsystem im Denken und Handeln und in der gesamten Struktur in der Vergangenheit stecken geblieben ist.

2 Sogenannte „Unterrichtsstörungen“ sind eine gesunde Reaktion auf ein krankes System – und eine natürliche Reaktion auf autoritäres Verhalten. Das derzeitige Schulsystem verletzt die Integrität von Kindern und Jugendlichen und wirkt dadurch langfristig gesundheitsschädigend.

Statt die heranwachsende Generation stark zu machen für die Herausforderungen der Zukunft, ignoriert sie deren Interessen, Fragen, Bedürfnisse und Potentiale und verursacht dadurch neben Frustration langfristig auch gesundheitliche Schäden: Die heranwachsende Generation reagiert auf den ständigen Widerspruch zwischen den Anforderungen der Schule und ihrer eigenen Lebensrealität (samt Lebensgefühl) mit allen möglichen Facetten der Vermeidung und Verweigerung von leisem Widerspruch über laute Proteste bis hin zu Rückzug, großer Erschöpfung, innerer Emigration und Depression.

3 Lehrpersonen werden in diesem Schulsystem weder als pädagogische Fachkräfte mit eigenem Urteilsvermögen noch als Menschen mit eigenen Wahrnehmungen und Haltungen ernst genommen, sondern stattdessen mit autoritärem Druck zu Gehilfen eines fragwürdigen Systems gemacht und dabei menschlich ausgebeutet.

Auf Lehrer:innen wird durch dienstliche Anordnungen und ständig zunehmende Arbeitsbelastung Druck ausgeübt, die eigenen Grenzen ständig zu missachten und nicht für sich und die eigenen Wahrnehmungen einzustehen. Lehrpersonen werden durch Vorschriften zur “korrekten” Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit (überbordende, bürokratische und sich zunehmend als sinnlos erweisende Arbeits- und Dienstanweisungen) daran gehindert, sich selbst und ihre Situation wahrzunehmen, ihre gesundheitlichen Grenzen zu achten, vor allem aber auch daran, gelingende Beziehungen und vertrauensvolle Kommunikation mit ihren Schüler:innen aufzubauen und damit sich selbst und andere aus der ausweglosen Lage zu befreien und für sich und andere Verantwortung zu übernehmen.

4 Das Schulsystem hat gesundheitsschädigende Wirkung auf ALLE Beteiligten:

Das Schulsystem wirkt auf der Beziehungsebene (dem wichtigsten Kanal gelingender Kommunikation) strukturell und institutionell trennend: Die Kommunikation kann durch die bestehenden normativen Vorgaben nie gleichwürdig geführt werden und wirkt daher ununterbrochen integritätsverletzend. Das erzeugt bei ALLEN Beteiligten unnötige Emotions- und Kommunikationsblockaden, die zu psychischem Stress führen und sich langfristig gesundheitsbelastend auswirken. Auf ALLE Beteiligten – die Eltern, Schüler:innen und Lehrpersonen.

5 Das System Schule basiert gedanklich und strukturell auf einem autoritär geprägten Weltbild des vergangenen Jahrhunderts:

Es ist hoffnungslos veraltet und gedanklich, architektonisch und institutionell auf autoritären Strukturen des vergangenen Jahrhunderts aufgebaut. Es ist menschenverachtend, wirkt auf alle Beteiligten entmündigend und hat keinerlei Antworten parat auf die Fragen, die sich der heranwachsenden Generation immer dringlicher stellen.

Fazit: Ein zukunftsrelevantes und innovatives Schulsystem muss sich von autoritären, normorientierten und patriarchal-geprägten Denkmustern endgültig lösen, sich von entsprechend autoritär-basierten Abläufen und Strukturen verabschieden – und stattdessen von der Integrität jedes einzelnen Menschen ausgehen. Dafür braucht es als allererste Maßnahme ein grundsätzliches Veto-Recht für ALLE an Schule Beteiligten. Erst, wenn jede:r Mensch in diesem Schulsystem seine eigenen Bedürfnisse äußern und seine Grenzen schützen darf und dies selbstverständlich geachtet und gewertschätzt wird, stellen sich die SINNVOLLEN Fragen, wie gelingendes Lernen und Gestalten auf DIESER Basis weiter gehen kann.

Zum Beispiel mit dem Veto-Prinzip, das sich seit 15 Jahren in der Praxis bewährt und den Beweis erbringt, dass nicht WENIGER gelernt und gearbeitet wird, wenn alle auf ihre Bedürfnisse und Grenzen achten dürfen – sondern bei weitem MEHR. – Aber das wisst ihr längst alles selbst. Nur sollten wir diesem Wissen endlich Taten folgen lassen!


ACT e.V.und auch ich selber bieten seit vielen Jahren Workshops, Vorträge, Weiterbildungen und andere Formate zum Veto-Prinzip an – und begleiten „Wege in`s Land der inneren Freiheit“. Da empowernde Prozesse nicht mal eben kurz und „1-2-3“ erledigt sind, bieten wir dieses umfangreiche Fort- und Weiterbildungsprogramm an – sowohl in Berlin als auch in Zürich und darüber hinaus – über unsere ausgebildeten Veto-Trainer:innen – überall dort, wo Interesse besteht. Alle Informationen und ebenso die Kontakte der Veto-Trainer:innen für die Buchung von Veranstaltungen findet ihr unter „Weiterbildung“ auf der Seite www.act-berlin.de.

Möge die Macht des Veto‘s mit dir sein! 😊


05.02. 2023 Maike Plath