Medizin für die Demokratie Part 6

Episode 6: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Also immerhin DAS weiß ich! – Über das Aushalten von unübersichtlichen, komplexen Situationen und die Fähigkeit DENNOCH Regie über das eigene Leben zu führen

In der vorerst letzten Folge dieser kleinen Krisen-Staffel (erscheint demnächst bei YouTube unter „Rede mal ordentlich, Frau Plath!“) kehre ich jetzt zum Kern des Mischpult-Prinzips zurück und fasse quasi zusammen:

Unsere Gesellschaft ist in vielen Bereichen von hierarchischen Strukturen geprägt. Gleichzeitig wächst die Sehnsucht nach Überwindung ungleicher Machtverhältnisse, was sich unter anderem in polarisierenden Debatten um Rassismus oder Sexismus zeigt. An vielen Stellen herrscht Ratlosigkeit darüber, wie wir Beziehungen, Klassenräume oder Organisationen so aufstellen und schützen können, dass Würde, Freiheit und Sicherheit jedes einzelnen Menschen gewahrt werden. Genau dort setzt die Arbeit mit dem Mischpult-Prinzip an.

Der Grundgedanke des Mischpult-Prinzips entstand in einer Situation, die ich als ausweglos empfand. Nämlich in einer persönlichen Krise. Ich fühlte mich damals als Lehrerin in Neukölln ohnmächtig und war im wahrsten Sinne des Wortes ent-setzt: Orientierungslos, hilflos, panisch, auf dem Weg in die Depression. Alles, was ich bis dahin gelernt und geglaubt hatte, stimmte nicht mehr. Ich fühlte mich ohnmächtig und wie ein Opfer äußerer Umstände, die ich glaubte, nicht ändern zu können. 

Womit ich es in Wahrheit zu tun hatte, war eine komplexe Situation, die sich weder mit autoritärer Führung noch mit einem Festhalten an norm-orientierten Lehrplänen in etwas Konstruktives verwandeln ließ. 

Komplexe Situationen zeichnen sich dadurch aus, dass wir nicht alle Faktoren kennen, die diese Situation bestimmen, dass es nicht EINE richtige Lösung dafür gibt und dass alle bisher bekannten Denkmuster und Regelsysteme hier unzureichend sind. 

Was ich dem entgegengesetzt habe und was jetzt über zehn Jahre lang immer wieder ausweglos erscheinende Situationen ins Konstruktive wenden konnte, war der zentrale Gedanke: Führe Regie über dein Leben! 

Aus diesem Gedanken entstand das Mischpult-Prinzip: Ein Konzept, das transparent Strategien der Führung und der Selbstführung vermittelt. 

Wie genau das Schritt für Schritt umgesetzt werden kann – dafür ist das Mischpult-Prinzip ein konkretes Instrumentarium, das uns hilft, erstens die dementsprechende Haltung zu entwickeln, die dafür notwendig ist und zweitens zu wissen, wie genau ich immer wieder Führung und Selbstverantwortung übernehmen kann und mich also in der Folge NICHT mehr wie ein Opfer der Umstände fühlen muss. UND wie gleichzeitig ANDEREN transparent vorleben kann, wie SIE wiederum aus Ohnmachtsgefühlen herauskommen und selbst Führung übernehmen können. Dadurch entsteht bei allen Beteiligten Sinn und ein Gefühl von Selbstwirksamkeit. Die Basis für Selbstwertgefühl. 

Führe Regie über dein Leben! ist die Quintessenz all dessen, was ich zur Bewältigung von Krisen und Ohnmachtsgefühlen sagen kann. Meiner persönlichen Erfahrung nach ist die Selbstermächtigung aller Beteiligten das einzige, was uns in scheinbar aussichtslosen Lagen wirklich helfen kann. 

Die Ausbildung von echtem Selbstwertgefühl ist die Basis für mentale und psychische Stärke – eine immer wichtiger werdende Ressource, um komplexe Situationen, mit denen wir es zunehmend zu tun haben, aushalten zu können. 

Es besteht aber ein Zusammenhang zwischen unseren Lebensbedingungen und Bildungschancen in einem wettbewerbsorientierten System und der Möglichkeit, mentale und psychische Stärke ausbilden zu können. Wer zu lange Anpassung als Voraussetzung für Anerkennung erlebt, verlernt den Zugang zur eigenen Persönlichkeit und eigenen Fähigkeiten und kann irgendwann auch durch die best-gemeinten herkömmlichen Hilfs- und Bildungsangebote nicht mehr selbstbestimmt denken, handeln und fühlen. 

Auf Anpassung und Gehorsam setzende Führungskonzepte, wie sie in Schulen, Hochschulen und Ämtern noch immer Gang und Gebe sind, verstärken die Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit bei all denjenigen, die den zugrunde gelegten Normen nicht entsprechen können und machen diejenigen, die ihnen entsprechen KÖNNEN zu fremdbestimmten Effizienzmaschinen. Beides sehr schlechte Voraussetzungen, um auf komplexe Anforderungen zuversichtlich, stark und selbstverantwortlich reagieren zu können. 

Daher ist der Blick auf die noch immer hierarchisch geprägten Strukturen in unserer Gesellschaft und wie wir sie verändern können, wichtiger denn je.

Das Problem, das ich auch jetzt wiedersehe, ist, dass alles immer noch stark von der Perspektive DER Menschen aus gedacht ist, die über die entsprechenden psychischen und grundsätzlichen Ressourcen verfügen, um in den bestehenden normierten Kontexten (vermeintlich) funktionieren zu können. Diese Perspektive reicht zur Bewältigung komplexer Situationen und globaler Krisen aber nicht mehr aus. 

Wir brauchen konkrete Instrumentarien, die ALLE Menschen zum eigenständigen HANDELN ermächtigen. Weder autoritäre, normbasierte Führung auf der einen Seite noch gutgemeinte Strategien des Helfens und Unterstützens auf der anderen Seite, bewirken bei anderen Menschen die Ausbildung von Selbstwert und Selbstwirksamkeit – als Grundlage für selbstverantwortliches Handeln. 

Ganz im Gegenteil verstärken diese herkömmlichen Konstrukte in den Menschen das unmündige Kinder-Ich: Entweder das angepasste oder das rebellische innere Kind. In den verantwortlichen Erwachsenen-Modus kommt auf diese Weise niemand. Auf Anpassung abzielende Führung – oft gepaart mit einer angeblichen Helfer-Absicht – impliziert immer, dass das Gegenüber irgendwie Leitung und Hilfe braucht, demnach also schwach bzw. nicht vollwertig ist. Das Gefühl, das entsteht, wenn wir so angesprochen werden, bewirkt das Gegenteil von Selbstwert und Selbstwirksamkeit. Es erzieht uns massenweise zu angepassten oder rebellischen Kindern, die es gewohnt sind, zu folgen oder zu rebellieren. 

Jetzt befinden wir uns in der größten Krise, die die meisten von uns wahrscheinlich je erlebt haben. Und ich persönlich bin davon überzeugt, dass das, was ich damals im Kleinen verstanden habe, jetzt im Großen erst recht gilt: 

Wenn alles den Bach runter geht, es keine Gewissheiten mehr gibt und wir den Boden unter den Füßen verlieren, dann ist das einzige was wirklich ALLEN helfen kann: Zu lernen, wie ich mich Schritt für Schritt als selbstwirksam und sinnvoll erleben kann. Und zwar in unübersichtlichen, chaotischen Feldern, in denen es viel mehr als nur eine Wahrheit gibt. 

Das Beruhigendste, was ich selbst je erlebt habe, war die Erfahrung, dass ich mit dem Drei-Schritt, dem Skalen-Prinzip und dem übergeordneten Ziel der Kooperation (also mit den zentralen Mischpult-Prinzipien) in JEDER noch so unkontrollierbaren Situation das Gefühl hatte, dass ich irgendwie klar kommen kann. Dass ich NICHT untergehe. Dass ich mir SELBST eine Perspektive schaffen kann. Und dass ich NICHT einer feindlichen Welt hilflos ausgeliefert bin. 

Bei allem, was durch das Mischpult-Prinzip darüber hinaus dann alles möglich wird, ist es DIESER Grundgedanke die Basis: Dass jeder Mensch auf der Basis dessen, was er sie es mitbringt zu jeder Zeit Entscheidungen treffen und dadurch das eigene Leben selbst bestimmen kann. Das fängt im ganz Kleinen an. Aber jede einzelne, noch so kleine Erfahrung der Selbstwirksamkeit sichert den Boden weiter, auf dem wir stehen – und irgendwann wieder gehen (– vielleicht auch irgendwann wieder tanzen) – können. 

Wenn uns jetzt auch alles andere um die Ohren fliegen mag: Es macht unbedingt Sinn, auf Selbstwert, Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung zu setzen und zwar sowohl bei uns selbst, als auch bei anderen. Nur, wenn wir merken, dass uns nicht ALLES entgleitet, können wir auch solidarisch mit anderen sein und erleben genau durch diese Verbindung und Nähe mit ANDEREN wiederum Sinn und Motivation, weiter zu machen und Lösungen für komplexe Situationen zu finden. 

Übergeordnete Fragen, die wir uns jetzt beispielhaft anhand des Drei-Schritts in Bildungs- und Führungskontexten stellen sollten sind: 

Wer wollen wir sein? (Ziel) 

Wie kommen wir dahin? (Erfahrungsspielraum) 

Wofür entscheiden wir uns in jedem einzelnen Augenblick auf das übergeordnete Ziel bezogen? (Orientierung an Skalen). 

Was erfahren wir im offenen und authentischen Austausch mit anderen? (Reflexion) 

Und wie können wir uns miteinander verbinden, um uns zusammen jeweils selbstwirksam und sinnvoll zu fühlen und dabei gemeinsame Ziele erreichen? (Kooperation)

Spätestens in einer Welt nach der Corona Krise müssen wir einsehen, dass die wichtigste Fähigkeit, die es zu vermitteln gilt, die Kompetenz ist, unsichere, mehrdeutige und komplexe Situationen auszuhalten und konstruktiv, kreativ und eigenverantwortlich darauf zu reagieren. 

Das heißt: Unsere Welt wird besser, je mehr Menschen die Stärke besitzen, das Unsichere und Mehrdeutige auszuhalten und beherzt Entscheidungen zu treffen. 

Ich bin NICHT besonders optimistisch, dass unsere Welt oder auch nur unsere Gesellschaft in Deutschland „einfach so“ besser und solidarischer wird. Das kann sie nur werden, wenn sich auch die Strukturen ändern. Und das wiederum passiert nur, wenn sehr viele Menschen stark, zuversichtlich und handlungsfähig bleiben und gezielt darauf hinleben. Auch im ganz Kleinen. 

Es kommt auf dich an und auf mich und auf möglichst viele andere, die jetzt nicht in Angst, Wut oder Hilflosigkeit versinken, sondern den nächsten kleinen Schritt in Richtung Selbstbestimmung tun. Ins sogenannte Erwachsenen-Ich. In Richtung: Führe Regie über dein Leben! 

Nur dadurch können wir Orientierung und Ermutigung für andere sein, dasselbe ebenfalls zu versuchen. Und nur dann gibt es eine Chance, dass sich die Dinge in eine positive Richtung entwickeln. Die Demokratie lebt vom Gestaltungswillen und der Zuversicht der vielen. Und vom Vertrauen in sich selbst und andere, und darin, dass wir in Kooperation miteinander einen Unterschied machen können. Hin zu einer menschlicheren Gesellschaft. Hin zu einer menschlicheren Welt.