„12 Jahre ein Untertan?“ – Warum Bildung die nächste Emanzipationsbewegung braucht.

Filmpremiere am 12. August 2019 (20 Uhr) im Moviemento Kino: „12 Jahre ein Untertan?“

Im vergangenen Jahr habe ich einen Dokumentarfilm gedreht, in dem ich unsere ehemaligen Spieler*innen Walid, Hala, Hussein, Olga und Sinan beim Anleiten ihrer eigenen Gruppen und Projekte begleitet habe. Alle fünf sind seit Jahren Spieler*innen bei ACT. Walid, Hala und Hussein sind darüber hinaus auch ehemalige Schüler*innen von mir – noch aus Neuköllner Schulzeiten.

Im Rahmen des ACTeure-Programms sind die fünf im vergangenen Schuljahr in die Rolle der Lehrkraft gewechselt und leiten nun selbst Kinder und Jugendliche an. Im entstandenen Film „12 Jahre ein Untertan?“ erzählen sie auf der Basis ihrer eigenen Erfahrungen, was es ihrer Meinung nach braucht, wenn mensch ein*e gute Lehrer*in sein will. Sie haben sich die Fragen gestellt: Was bedeutet gute Führung? Was bedeutet „Menschliche Führung“?

Ihre Erfahrungen und Gedanken zum Thema „Lehrer*in sein“ werden darüber hinaus eingerahmt von Reflektionen verschiedener Jugendlicher und Erwachsener bei ACT e.V., die den Mut haben, anzusprechen, was ihnen beim Thema „Bildung“ ein ungemütliches Gefühl bereitet. Das klingt für manchen vielleicht erstmal wie Kritik am Bildungssystem, ist aber in Wahrheit hoffentlich der „Beginn einer wunderbaren Freundschaft“ (Zitat „Casablanca“), und vor allem: Der Beginn eines emanzipatorischen Prozesses. 

Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft deshalb, weil dieser Film hoffentlich dazu ermutigt, gemeinsam und hoffnungsvoll über die Baustelle „Bildung“ zu sprechen. Denn ich nehme wahr, dass so viele Lehrkräfte und Schul-Beteiligte jeden Tag ihr Bestes, teilweise auch ihr Letztes geben, und einen wahnsinnig guten Job machen – und es trotzdem eine große Sehnsucht nach Veränderung, ja, nach Befreiung, gibt.

Deshalb ist es, glaube ich wichtig, dass wir uns nicht gegenseitig kritisieren bzw. uns in Schuldfragen verheddern – denn das erzeugt Frustrationen und eben gerade KEINE Motivation – sondern dass wir uns zusammentun und uns gemeinsam fragen: Was können wir realistisch verändern, damit es uns bessergeht?

Um das zu erreichen, brauchen wir Gleichwürdigkeit zwischen allen Beteiligten. Das System Schule ist aber auf struktureller Ebene noch immer von ungleichen Machtverhältnissen geprägt, unter denen wir alle leiden, sowohl die Jungen als auch die Erwachsenen.

Mein Vorschlag lautet daher, dass wir zunächst einmal – unabhängig von bestehenden Hindernissen – gesellschaftliche Gleichwürdigkeit als gemeinsames Ziel anstreben sollten – und von dort aus darüber nachdenken, was es dazu braucht.

Das klingt alles erstmal gut und einfach, ist aber nicht so ohne weiteres umzusetzen. Denn was bedeutet das überhaupt: Gleichwürdigkeit?

Jesper Juul hat für den Bereich der Elternerziehung den Begriff der „Gleichwürdigkeit“ geprägt, um deutlich zu machen, dass es bei der Erziehung von Kindern weder hilfreich ist, autoritär zu agieren, noch – vermeintlich demokratisch – ihnen alles durchgehen zu lassen. Stattdessen sprach Juul von „autoritativer“ Erziehung auf der Basis einer gleichwürdigen Beziehung zwischen Eltern und Kind.

Autoritativ bedeutet: Auf der Basis der eigenen Integrität und Werte und einem Bewusstsein für die eigenen Grenzen klar zu führen, in deutlicher Abgrenzung zum Dominieren oder Herrschen (hierarchisch), aber auch in klarer Abgrenzung zur antiautoritären Erziehung, denn jedes Kind braucht Führung.

Führung bedeutet bei Juul: Deutlich machen, was für mich selbst – als individueller Mensch – geht und was nicht, und genau das vorzuleben. Es geht darum, die eigenen Bedürfnisse und Grenzen kennen und klar vertreten zu lernen, dabei aber immer die Grenzen und Bedürfnisse des Gegenübers als gleichwürdig zu betrachten und in einem ständigen, von Respekt getragenen Ausloten vorzuleben, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst und für die Situation.

Der Erwachsene muss insofern führen, als er dem Kind vorlebt, wie das geht: Dieses Ringen um ein konstruktives Miteinander, um eine gelungene Kommunikation und den konstruktiven Umgang mit Konflikten. Die Basis für dieses Ringen um das Gemeinsame ist immer die eigene Integrität (Treue zu sich selbst). Dann entsteht im besten Fall „Reibungswärme“ (Juul). Konflikte werden nicht ausgeblendet oder vermieden, sondern als etwas vorgelebt, das sich zwischendurch auch mal blöd anfühlt, dann aber lösbar ist und sowohl zu größerem Vertrauen in sich selbst als auch in den jeweils anderen führt (Vertrauen, Selbstvertrauen, Integrität).

Das Neue dabei war die Erkenntnis, dass es kein hierarchisches Verhältnis braucht und der Erwachsene nicht die „recht-habende-Instanz“ sein muss, sondern als Mensch vollkommen gleichwürdig mit dem Kind ist.

Und dass der Erwachsene andererseits aber eben nicht völlig ohne inneren Auftrag ist, also nicht „alles durchgehen lassen muss“, sondern stattdessen seine eigenen Grenzen als Mensch offen thematisiert. Die Aufgabe des Erwachsenen ist es quasi, Verantwortung für sich SELBST zu übernehmen, und dies in großer Klarheit und Authentizität vorzuleben, also auf der Basis der eigenen Integrität zu denken und zu handeln. Und nicht zuletzt: Sich selbst und anderen immer wieder „Fehler“ oder Rückschläge zu verzeihen. Denn nichts kann immer perfekt sein. Der Mensch schon gar nicht.

Integrität ist auch über das Erziehungsthema hinaus eine grundlegende Basis für gelingende, weil gleichwürdige Beziehungen. Denn nur, wer sich selbst kennt und den Mut aufbringt, die eigenen Bedürfnisse und Grenzen anderen Menschen gegenüber offen und klar zu kommunizieren, entwickelt die Fähigkeit, andere Menschen in ihren Bedürfnissen und Grenzen zu respektieren und sich anderen Menschen gegenüber zu öffnen. 

Beispiel: Stellen wir uns eine WG Situation vor. Vier gleichaltrige Menschen leben zusammen. Wenn ich mich selbst in meinen Bedürfnissen und Grenzen kenne, muss ich keine Angst vor Stress-Situationen mit den anderen haben. Ich kann deutlich machen, was ich brauche und was für mich unerträglich ist und diese Klarheit ist für alle erleichternd. Denn es ist viel angenehmer mit einem Menschen zu leben, der seine eigenen Bedürfnisse kennt und im Umgang mit anderen Menschen diesbezüglich klar und offen kommuniziert, als ständig in diffusen Beziehungs- und Kommunikationssituationen herumzutasten.

Diffuses Herumtasten erzeugt ununterbrochenen mindfuck und unbeabsichtigte gegenseitige Grenzüberschreitungen bei allen Beteiligten. Wie schön, wenn jemand erklären kann, wer sie ist und was sie braucht und ich mich als Mensch unter Berücksichtigung meiner eigenen Bedürfnisse gleichwürdig MIT meinem Gegenüber darauf einstellen kann. (Hilfreich für diese herausfordernde Baustelle menschlicher Kommunikation ist das Konzept der „Menschlichen Führung“, basierend auf der Statuslehre, auf dessen Grundlage wir bei ACT e.V. genau dieses komplexe Feld immer wieder neu auf lustvolle und gleichzeitig produktive Weise erproben).

Das WG Beispiel macht deutlich, dass Führung nicht „Anleitung“ bedeutet. Sondern viel mehr: Ich übernehme die Führung/Verantwortung für mich selbst, bin darin klar und transparent und kann auf dieser Basis in gesunde Beziehungen mit anderen gehen.

Wenn wir diese Gedanken zur Elternerziehung auf den Kontext Schule übertragen, scheint auf den ersten Blick alles schon bekannt zu sein:

Augenhöhe: Sowohl in der Pädagogik als auch durch die Statuslehre des Theatermachers Keith Johnstone bekannt, gelingt Kommunikation dort, wo eine Beziehung gleichwürdig ist. Je größer die hierarchischen Abstände, desto schlechter wird die Kommunikation. Wissen wir. Check.

Kommunikation: Kommunikation ist der Schlüssel zu gelingenden Beziehungen. Je gleichwürdiger die Kommunikation, desto besser die Beziehung. Wissen wir. Check.

Und warum ist das nun wichtig für den Bereich Bildung?

Beziehung: Alles Lernen gelingt über Beziehung. Wissen wir. Check.

Was wir also brauchen sind gleichwürdige Beziehungen. Auch und gerade in Schulen. (Und eigentlich: Überall). Wissen wir. Check.

Was ist also das Problem? Gibt es ein Problem?

Gelingt Gleichwürdigkeit im Sinne von Jesper Juul an Schulen? – Meiner Erfahrung nach: Viel zu selten.

Und wenn, dann nur, weil einzelne Lehrpersonen sich weit über die formalen Anforderungen hinaus persönlich engagieren – und in der Folge dann oft mit den systemischen Vorgaben in Konflikt geraten.

Genau diese Situation war Ausgangspunkt für die Entwicklung des Mischpult-Prinzips und die Weiterentwicklung der Statuslehre von Keith Johnstone zum Konzept der Menschlichen Führung.

Ziel all meiner Bemühungen ist es, Gleichwürdigkeit auch im Bildungskontext zur Selbstverständlichkeit zu machen.

Meine These: Dies ist derzeit noch nicht der Fall.

Und zwar aus zwei Gründen.

Erster Grund: Weil Lehrpersonen Noten geben müssen und damit ein ungleiches Machtverhältnis entsteht, das echte Gleichwürdigkeit verhindert.

Und zweiter Grund: Weil es einen blinden Fleck gibt, der mit unserer Haltung und unserer Perspektive zusammenhängt.

 Der zweite Grund, nämlich der blinde Fleck, ist etwas, das wir ändern können und deswegen sollten wir damit anfangen. Das wäre der Beginn einer Emanzipation. Und dass Emanzipationsbewegungen sich langfristig auch auf gesellschaftliche Strukturen auswirken, ist bekannt. Um die Noten müssen wir uns also erstmal nicht kümmern. Sondern um den blinden Fleck.

Der blinde Fleck: Wo entstehen Statusabstände, die wir nicht sehen und die das verhindern, was wir EIGENTLICH wollen, nämlich Gleichwürdigkeit? Wie schauen wir auf die Situation in der Schule? Aus WELCHER PERSPEKTIVE?

Dazu eine kleine Geschichte:

Ich bin als Referentin bei einer Veranstaltung in der Schweiz und dort in einem Hotel untergebracht. Das Hotel liegt in einem typischen Touristenort, in dem auch viele einheimische Schweizer Urlaub machen. An diesem Wochenende findet im Ort eine Sportveranstaltung statt, eine Woche „Orientierungslauf“, was Fahrradfahren, Wandern und Laufen beinhaltet. Im Hotel sind zahlreiche andere einheimische Menschen, Durchschnittsalter 50-60 Jahre, alle Schweizer, die als Teilnehmende der Sport-Veranstaltung eine Gruppe bilden. Sie haben Wanderstöcke dabei, tragen sportliche Funktionskleidung und sprechen Schweizerdeutsch. Das Personal im Hotel besteht aus einer Handvoll höflicher, ruhiger Frauen in schlichten, langen Dirndlkleidern. Um das Hotel herum grüne Wiesen, blauer Himmel, dunkelbraune Holzhütten und – Berge.

Schon nach wenigen Minuten an der Rezeption muss ich einsehen, dass meine ganz normale Erscheinung, Sommerkleid, die üblichen Cowboystiefel, blonder Zopf, Mütze und Sonnenbrille in diesem Setting eine höchst seltsame Wirkung entfaltet. Ich komme mir vor wie in einem Faschingskostüm – aber ohne Fasching.

Was in Berlin mein Normalo-Outfit ist und nirgends Aufmerksamkeit erregt, ist in diesem Setting ganz offensichtlich der Anlass zu leichter Irritation. So lange mein Gastgeber, Ausrichter meiner Lehr-Veranstaltung und einheimischer Schweizer, an meiner Seite ist, verhalten sich die Gäste des Hotels und insbesondere das Hotel-Personal, die Frauen in den langen Dirndl-Kleidern, sehr freundlich mir gegenüber.

Als ich am nächsten Morgen aber alleine auf der Sonnenterrasse frühstücke, fühlt sich die Gesamtlage dramatisch anders an. Die Leute starren mich entweder ungeniert an, um sofort wieder weg zu schauen, sobald ich ihrem Blick begegne – oder ignorieren mich mit offensichtlich zur Schau gestellten Kühle. So als wäre ich per se eine peinliche Angelegenheit, die leider ausgehalten aber keineswegs gutgeheißen wird.

Als ich dann auch noch die Gepflogenheiten des Frühstücks offenbar nicht kenne und ein Frühstücksei köpfe, aus dem sich dann augenblicklich die rohe, glibbernde Masse ergießt, ist es endgültig vorbei. Das Hotel-Personal mustert mich pikiert, während eine von ihnen mich mit vorwurfsvollem Blick auf den Wasserkocher hinweist, mit dem sich die Gäste ihre Eier selbst zu kochen pflegen.

Ich stehe ratlos vor dem Gerät und versuche zu erfassen, wie die Sache funktioniert. Eine der Frauen steht mit leblosem Gesicht schweigend daneben. Ich fühle mich an meine ehemalige Grundschullehrerin erinnert, die uns mit steinerndem Gesicht vom Pult aus musterte, um jeglichem Abschreibversuch vorzubeugen. Ich friemel mit dem Wasserkocher herum und komme Schritt für Schritt vorwärts, aber die Blicke, die sich in meinen Rücken bohren sind schwer auszuhalten, ich möchte eigentlich am liebsten zurück in mein Zimmer fliehen. Was sehr offensichtlich ist: Ich bin hier nicht willkommen. Alles, was ich repräsentiere ist hier falsch. So ein „Aufzug“ und dann bin ich auch noch Deutsche und kann mein Frühstücksei nicht ordnungsgemäß kochen.

Das könnte jetzt alles zum Lachen sein. Fühlt sich aber in der Situation selbst erstaunlich scheiße an.

Ich ertappe mich in den beiden folgenden Tagen dabei, dass ich mich überwinden muss, alleine auf der Terrasse zu sitzen und einen Kaffee zu bestellen, weil es mich unglaubliche Energie kostet, das unangenehme Gefühl des „Abgelehntwerdens“ mit äußerer Gelassenheit zu ignorieren und mich innerlich nicht aus der Fassung bringen zu lassen. Immer wieder denke ich: Ach, bleib doch einfach gemütlich auf dem Hotelzimmer… Im Ernst?? Maike versteckt sich im Hotelzimmer??

Ja, und was passiert hier EIGENTLICH? Obwohl niemand irgendetwas böse meint, erlebe ich eine Verunsicherung. Ich spüre quasi einen mini-mini-kleinen „Mü“ Ausgrenzung. Mein sonstiges soziales, geistiges, menschliches, kulturelles Kapital ist hier wertlos. Ich werde nur über meine äußere Erscheinung bewertet und in einer Schublade wahrgenommen:

Die nicht ganz so gern gesehene, blonde DEUTSCHE Touristin, die durch ihre Erscheinung und offensichtliche Nicht-Teilnahme an der Sportveranstaltung das gemütliche, homogene Gesamtbild stört.

Ich erlebe im absoluten Minimal-Bereich etwas, das andere Menschen ununterbrochen erleben. Und sogar in dieser Minimal-Variante fühle ich mich schon unsicher, unauthentisch, habe keinen Zugriff mehr auf meine natürlichen Ressourcen. Es fällt mir unglaublich schwer, einfach „normal zu sein“, einen small-talk zu beginnen, ich fühle mich, wie ins Stolpern geraten, nichts fließt mehr einfach von allein.

Und warum erzähle ich das? Dieses Gefühl haben unendlich viele Jugendliche in unseren Schulen. (Und unglaublich viele Menschen in unserer Gesellschaft). Denn das Schweizer Hotel ist quasi unser deutsches Schulsystem. Auch dort meint niemand irgendetwas böse oder hat gar die Absicht, aktiv auszugrenzen. Es geht einfach nur um den Blick der weißen, akademischen Lehrerin auf das arabisch oder sonst wie „abweichend aussehende“ Kind.

Jede*r Schüler*in, die keine „Kartoffel“ mit bildungsbürgerlichem Hintergrund ist, erlebt tagtäglich, ununterbrochen Abstufungen dieses Gefühls, das mich bereits als selbstbewusste und privilegierte weiße Frau schon in einen „Ich-versteck-mich-dann-mal-besser-im Hotelzimmer-Zustand“ versetzt.

Und worauf ich hinaus will: Ich WEISS, dass dies ohne Absicht geschieht. Ich hatte SELBST diese Wahrnehmung, als ich von Schleswig-Holstein nach Berlin kam, und sie war mir nicht bewusst.

Was ich versuchen möchte ist nur, dass DIESE Tatsache einfach mal erspürt, nachvollzogen und anerkannt wird. Wie fühlt sich jemand, der nicht weiß und nicht akademisch aussieht in unserem Schulalltag? Welches soziale, geistige, menschliche und kulturelle Kapital ist in unseren Schulen wertlos, weil es dort keine Rolle spielt und deswegen unter den Tisch fällt? Und was macht das mit denen, die jahrelang solche Gefühle kompensieren müssen?

Was wäre meine eigene Reaktion im Schweizer Hotel? Wenn ich hierbleiben müsste?

Wir wissen alle, dass die meisten den Weg der Anpassung wählen… Das ist die „I-can-pass-Variante“. Und auch hier bin ich im Vorteil. Ich würde mit der Zeit andere Kleidung wählen, Schweizerdeutsch lernen, versuchen, „so zu sein, wie die anderen“, damit ich nicht mehr „der Alien“ bin. Ich würde versuchen, über Anpassung soziale Anerkennung zu erhalten, um damit mein Selbstwertgefühl zurück zu erhalten. Aber zu welchem Preis? Dennoch KANN ich wenigstens über Anpassung Anerkennung zurückgewinnen, weil es nur um äußere Merkmale und Verhaltensweisen geht, die ich ändern KANN. Andere können ihre Hautfarbe nicht ändern. Das heißt übersetzt: Ich wäre dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit der DEUTSCHE Alien mit den Cowboystiefeln auf der Schweizer-Hotel-Terrasse zu sein.

Ich möchte hier nichts vergleichen. Mir ist vollkommen klar, dass sich meine Situation nicht im Ansatz mit der Situation von Menschen vergleichen lässt, die aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts oder ihrer Herkunft diskriminiert werden. Aber ich mache den Versuch, ein Beispiel aus meinem eigenen Erleben zu beschreiben, dass eventuell für das größere Problem sensibilisieren könnte. Und zwar diejenigen sensibilisieren könnte, die bisher das Problem gar nicht wahrnehmen.

Wie auch immer ungerecht die Möglichkeiten der Anpassung sind:

Anpassung widerspricht dem Gedanken der eigenen Integrität und führt uns weit weg von Gleichwürdigkeit. 

Was wäre also der andere Weg?

Noch einmal zurück zur Frühstückssituation im Hotel: Ich könnte in die Offensive gehen. Mein Gefühl ansprechen. Mich erklären. Erklären, woher ich komme, wer ich bin, wie ich diese Situation empfinde. Nicht als Vorwurf, sondern als menschliche Brücke. Und das wäre nämlich dann nichts anderes als der Versuch, Gleichwürdigkeit wiederherstellen. Ein Statusplateau. Eine menschliche Begegnung auf Augenhöhe. Und das Interessante ist: Damit würden sich ALLE besser fühlen.

Denn so eine seltsame Trennlinie fühlt sich ja auch für diejenigen, die sie unbewusst ziehen, nicht gut an. Jedenfalls nicht in der direkten Begegnung. Es löst auf BEIDEN Seiten Verunsicherung aus.

Ein menschlich offenes „Gespräch unter Freunden“ dagegen ist für alle Beteiligten angenehmer und bereichernder! Wir würden voneinander erfahren. Und nichts interessiert ja einen Menschen mehr als der andere Mensch.

Wir würden herausfinden, was jeweils die andere, der andere macht, denkt, fühlt, wie wir jeweils unsere Leben leben, was uns unterscheidet, vor allem aber, was uns verbindet. Denn Beziehungen zu anderen Menschen haben wir alle, die Grundthemen eines Menschen sind im Großen und Ganzen immer dieselben. Es ist tröstlich zu erfahren, wie ähnlich wir uns am Ende doch alle sind.

Was hindert mich also, im Schweizer Hotel, diesen Schritt zu machen? Den Kopf zu heben, zu lächeln und ein menschliches Gespräch zu beginnen? Das Eis zu durchbrechen? Die menschliche Führung für die Situation zu übernehmen? Innen hoch, außen tief zu agieren (Schildkröte, Statuslehre). Was hindert mich??

Ich stelle fest, dass es unglaubliche Überwindung und Kraft kostet, diesen Schritt aus dieser unsicheren Situation heraus zu machen. 

Was ich anregen möchte, ist, diesen Perspektivwechsel zu vollziehen, als ersten Schritt hin zu gesellschaftlicher Gleichwürdigkeit. Denn wenn diejenigen, die sich im Großen und Ganzen sicher fühlen können, VERSTEHEN, dass diese Sicherheit nur auf einem (ungerechten) Zufall beruht, dann können sie im positiven Sinne Demut empfinden und ihre Perspektive zum anderen MENSCHEN hin öffnen. Dann könnten SIE den ersten Schritt hin zu einer menschlichen Kommunikation machen.

Also WIR. Diejenigen, die in dieser Gesellschaft den zufälligen Vorteil haben, nicht wegen Hautfarbe, Geschlecht oder Herkunft ausgegrenzt zu werden.

Dann könnten wir Ungleichheit anerkennen und anfangen darüber zu sprechen. Und ohne etwas vergleichen zu wollen im Sinne von gleichmachen, könnten wir herausfinden, dass wir als Menschen ähnliche Bedürfnisse und ähnlichen Schmerz haben. Gerade WEIL wir den Schmerz der Ausgrenzung oder Abwertung in ANDEREN Kontexten kennen, könnten wir anfangen, MIT ZU FÜHLEN und bestehende Ungleichheit nicht mehr zu leugnen!

Wir müssten nicht immer wieder – wie im Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ von vorne anfangen, die Tatsache von Rassismus und Ausgrenzung anzuzweifeln. Wir „Weißen“ würden uns z.B. nicht mehr angegriffen fühlen (Was?? Es gibt Rassismus? Aber ich bin doch nicht rassistisch?) – sondern wir könnten die strukturelle Dimension sehen und uns als Menschen verbinden, um der Unmenschlichkeit endlich etwas entgegen zu setzen.

Das wäre so wichtig, denn im Moment ist es so: Diejenigen, die sich auf der „Hotelterrasse“ unwohl fühlen, haben sowieso schon den Nachteil, ausgegrenzt zu werden mit all der fatalen Unsicherheit, die das erzeugt. Und ausgerechnet diejenigen müssen derzeit auf dieses Problem hinweisen, wenn sie es ändern wollen. Und dann stoßen sie oft noch auf Widerwillen und Abwehr. Waaas?? Was will die denn jetzt?? In Deutschland kann doch jede*r Abitur machen! Hier kann doch jeder frei sein und tun und lassen, was er/sie/es will!

Theoretisch schon. Praktisch aber nicht.

Sich selbst befreien und der Mensch sein zu können, der ich selbst sein will, also INTEGRITÄT, ist ein Privileg. Die einen starten in diesen Emanzipationsprozess von einem anderen Startpunkt aus, als die anderen. Niemand kann befreit WERDEN. Wir alle müssen dies selbst und aktiv tun. Den Weg zur Integrität und zur Selbstbestimmung erkämpfen. Das ist ein emanzipatorischer Akt. 

Aber die einen haben Vorteile und es wäre der erste wichtige Schritt, dies zu sehen und es zu thematisieren. Damit es nicht immer nur diejenigen tun müssen, die es sowieso schon erheblich schwerer haben.

Deswegen sprechen im Film „12 Jahre ein Untertan?“ diejenigen, die „im Hotel zur Einheimischen-Gruppe gehören“ ZUERST die Problematik an. Damit machen sie den Weg frei, damit allen anderen der Weg zur Erarbeitung der eigenen Integrität offensteht und sie endlich über SICH sprechen können. (Und nicht immer zuerst durch den Walk-of-shame des „Erklärbären“ durchmüssen).

Das wäre so beglückend für alle. Denn wir alle befinden uns irgendwo auf dieser Skala zwischen Anpassung und Entfremdungsgefühlen auf der einen Seite und Integrität und Selbstbestimmung auf der anderen Seite. Wir alle müssen uns Integrität und innere Freiheit erarbeiten. Denn Integrität ist der Schlüssel, um anderen menschlich und gleichwürdig begegnen zu können. 

Und DESHALB müssen wir uns fragen, inwieweit unser Schulsystem „Untertanen“ heranzieht. 

Im Moment ist es so: Diejenigen, die in der „Einheimischen-Sportler-Gruppe“ sind, erkennen das Problem nicht an, weil sie es selbst nicht erleben, leiden aber selbst unter systemischer Fremdbestimmung, weswegen sie andere, die frei sind oder darum kämpfen, freie Menschen zu sein, argwöhnisch beäugen.

Für einen Menschen, der seine eigenen Bedürfnisse und Werte nicht kennt, bzw. diese nicht klar kommunizieren kann, ist ein Mensch, der genau dafür kämpft, eine unangenehme Provokation. Ein Schmerz, der ans Eingemachte geht. Auch DAS ist nämlich ein Teil des blinden Flecks:

Diejenigen, die im Schulsystem zur „Einheimischen-Gruppe“ gehören, fühlen sich derzeit auch nicht gut. Auch sie erleben – ohne es vergleichen zu können! – Fremdbestimmung und haben keine Ahnung, was es bedeutet, für die eigenen Bedürfnisse und Grenzen wirklich einzustehen.

Es fehlt vielen Lehrpersonen an Integrität und innerer Selbstbestimmung und auch deswegen fehlt die Basis für Gleichwürdigkeit. 

Lehrpersonen, die sich im Schulsystem wie Aliens fühlen und eine Sehnsucht danach haben, das zu tun, woran sie glauben und wofür sie einstehen, müssten den Mut und die Kraft entwickeln, DARÜBER zu sprechen und sich „zu befreien“. Das wäre die Brücke, um sich mit allen anderen zu soldarisieren, die ebenfalls – unter noch viel schwierigeren Bedingungen – für IHRE Integrität kämpfen.

Denn: Wer selbst nicht frei ist, kann in anderen keine Freiheit ermöglichen. 

Der erste Schritt wäre daher, den eigenen Schmerz ernst zu nehmen, statt ihm auszuweichen und sich zu fragen: Warum fühle ich mich nicht gut? Bin ich der Mensch, der ich sein will? Und wenn nicht: Was hindert mich daran? Dies ist die Initialzündung aller Emanzipationsbewegungen. (Beispiele: Harvey Milk, Billy Elliot).

Und dann könnten wir erkennen, dass wir aufbrechen sollten: Vom „Dorf in die Stadt“ und alle miteinander reden sollten – auf der Basis von gesellschaftlicher Gleichwürdigkeit (Vom „Dorf in die Stadt“ ist als Bild gemeint: Im Sinne des im Heimatdorf gemobbten „Freaks“, der in die Großstadt flieht und dort erkennt, dass er gar nicht der „Freak“ ist, sondern ein Mensch unter vielen Gleichgesinnten, die erkannt haben, dass ihr Fremdheitsgefühl nicht an ihnen selbst liegt, sondern an Strukturen, die sie zum „Freak“ MACHEN).

Übersetzt auf den Bildungskontext wäre das „Dorf“ das Lehrerzimmer, in dem sich die einzelne Lehrperson mit ihren Frustrationen vorkommt, wie ein Freak. Und „in die Großstadt aufbrechen“ würde bedeuten, zu SPRECHEN und sich mit all denen zu verbinden, denen es genauso geht. Denn das sind viele. Sowohl Lehrpersonen, als auch Eltern, als auch Heranwachsende.

Wer ALLEINE in der „Freak“-Position auf „der Hotel-Terrasse“, im „Dorf“ oder im Lehrerzimmer für den Mut zur Freiheit eintritt, hat kaum eine Chance. Der Schmerz der Scham und der Ausgrenzung ist zu groß. Wir müssen uns deswegen zusammentun.

Dann könnten wir gemeinsam formulieren, was uns stört und was uns verunsichert und was wir eigentlich brauchen. Wir könnten eine „große WG“ sein, in der jeder Mensch derjenige sein kann, der er wirklich ist. Das ist nicht pathetisch, denn genau genommen sind wir rein faktisch eine Menschheitsfamilie.

Und zusammen könnten wir auf dieser Grundlage Schritt für Schritt herausfinden, was eine Schule (und eine Gesellschaft) von morgen wirklich braucht.

Wir könnten von unseren eigenen menschlichen Bedürfnissen und Grenzen ausgehend GEMEINSAM und MITEINANDER Reibungswärme erzeugen und diese Gesellschaft WEITER entwickeln. So, wie es jede andere Emanzipationsbewegung auch bewirkt hat. Mein Konzept zur Menschlichen Führung ist EIN Vorschlag, der uns dabei helfen kann, diese Aufgabe gemeinsam zu bewältigen. Die ACTeure im Film „12 Jahre ein Untertan?“ machen es vor.

Und abschließend bleibt mir nur noch folgendes zu sagen:

This is a wake up call to a school system and a society in denial:

Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem mangelnden Bewusstsein für die eigene Integrität und die der anderen, der Verneinung von Rassismus in unserer Gesellschaft und der (unbewussten) Verhinderung von wirklicher Vielfalt und Empowerment in unseren Schulen.

Lasst uns damit anfangen, unsere EIGENEN Bedürfnisse und Grenzen ernst zu nehmen, damit wir die Bedürfnisse und Grenzen der anderen sehen und einander menschlich begegnen können.

Erkenne dich selber, frage dich, woher das kommt, dass du dich fremdbestimmt fühlst, suche die anderen, denen es auch so geht und fang an zu sprechen! Bildung braucht die nächste Emanzipationsbewegung. Und also auch dich.

Emanzipation stammt von dem lateinischen emancipatio, was „Entlassung des Sohnes aus der väterlichen Gewalt“ oder auch die „Freilassung eines Sklaven“ bedeutet.

Im 17./18. Jahrhundert erfolgte eine Bedeutungsverschiebung: Aus dem Akt des Gewährens von Selbstständigkeit wurde eine Aktion gesellschaftlicher und insbesondere politischer Selbstbefreiung (siehe auch Mündigkeit (Philosophie)). Neben die äußere tritt die innere Emanzipation: als Befreiung aus eigener Unmündigkeit und den Fesseln von Tradition, gesellschaftlichen Normen und vorgegebener Weltanschauung. Ziel emanzipatorischen Bestrebens ist ein Zugewinn an Freiheit oder Gleichheit (im Sinnevon Gleichberechtigung oder Gleichstellung), meist durch Kritik an Diskriminierung oder hegemonialen z. B. paternalistischenStrukturen, oder auch die Verringerung von z. B. seelischer, ökonomischer Abhängigkeit, etwa von den Eltern.

(Wikipedia) 

Maike Plath, 12. August