Warum die Schildkröte? – Zur neuen Konzept-Staffel von Rede mal ordentlich, Frau Plath!

Alle Infos zur neuen Konzept-Staffel und was euch dabei erwartet, findet ihr im vorherigen Blog Eintrag. Hier geht es jetzt um das Bild der Schildkröte – und was das eigentlich soll…

Warum die Schildkröte???

Wir haben es immer mit diesem scheinbaren Paradox zu tun, dass wir Jugendliche zum selbständigen Denken und Handeln bringen wollen und gleichzeitig feststellen , dass aber geordnete Prozesse – platt ausgedrückt – nur dann funktionieren, wenn wir klare Ansagen machen und – wie die Jugendlichen es formulieren – streng sind. Streng sein wird aber oft verwechselt mit autoritär bestimmen, was gemacht wird. Wenn ich autoritär bestimme, was gemacht wird, richten sich Jugendliche in einer Nehmer-Haltung ein. Das heißt: Sie übernehmen keine Verantwortung und lernen gerade NICHT selbständig zu denken und zu handeln. Weil sie sich immer nach den Erwartungen der Mutti ausrichten und dann entweder dagegen rebellieren, oder sich selbst bemitleiden und still schmollen oder aber sich brav den Erwartungen anpassen.

Wenn wir auf der anderen Seite sagen: Los jetzt. Ihr sollt selber denken, selber Entscheidungen treffen, selbst euren Arbeitsprozess steuern, dann erleben wir oft, dass der Raum im Chaos versinkt.

Die Herausforderung ist also, es zu schaffen, dass sie selbstdenkende und selbst handelnde Individuen sind – aber wir vergessen oft, dass das ein Weg mit vielen verschiedenen Stufen ist, den wir ermöglichen müssen. Ich halte das für die allergrößte Kunst überhaupt.

Ich habe schon oft die Beobachtung gemacht, dass diese hohe Kunst in unserer Gesellschaft entweder gar nicht gesehen oder nicht ernst genommen wird (erlebt ihr bestimmt ja auch tagtäglich). Beispiel: Wenn eine ganze Klasse am Ende eines Jahres selbständig eine eigene Theaterproduktion präsentiert, und dabei alles alleine hinkriegt und einen Erfolg einfährt, dann sagen alle: Da hatte die Lehrkraft aber Glück, dass sie so tolle Jugendliche hatte.

Wenn die Klasse aber scheitert, dann sagen alle: Na, da konnte sich die Lehrkraft wohl nicht durchsetzen, so ein Chaos. Also was nun? Wo liegt die Ursache für das Gelingen eines solchen Prozesses?

Ich würde sagen: IMMER bei der Lehrkraft. Das heißt: Wenn die Klasse einen Riesen-Erfolg einfährt und alles alleine macht, dann hat die Lehrkraft eine Wahnsinns-Leistung hingelegt. Denn 24-28 Kinder und Jugendliche werden nicht von alleine genial selbständig. Und es gibt auch keine ganzen Klassen, wo zufällig alle Kinder genial, kreativ und selbständig sind. Das ist erstaunlicher Unsinn. Wisst ihr selbst.

Was also ist das Geheimnis, wie wir das schaffen können? Also insbesondere dort, wo eben alles aus dem Ruder zu laufen scheint, also dort, wo wir das mit dem „Selbständig lernen“ und „selbst künstlerisch arbeiten“ eben NICHT einfach so hinkriegen? Wie schaffen wir das dann, wenn wir  NICHT alles bestimmen wollen, wenn wir den Kindern NICHT alles abnehmen bzw. sie durch unsere Bewertungen dahin schubsen wollen, wo wir denken, wo sie hin sollen (auch das verhindert nämlich, dass sie selbst denken). Was tun, wenn wir auf der anderen Seite aber eben auch nicht alles chaotisch laufen lassen wollen, und wenn der Gedanke: „Ihr sollt jetzt mal selbst entscheiden und selbst denken!“ einfach gar nicht umsetzbar ist? (Für diese Haltung: „Ihr schafft das schon alleine“ habe ich immer das Bild meines Sportlehrers früher vor Augen, der am Anfang der Stunde in die Turnhalle kam, einen Ball rein schmiss, „Brennball“ rief und dann wieder verschwand. Die Stunden waren das reinste Chaos und die starken, sportlichen und beliebten Schüler*innen dominierten alle anderen, wobei Mobbing an der Tagesordnung war).

Mit dem Satz: „Ohne die Schildkröte geht es nicht“ will ich darauf hinaus, dass die Lehrkraft Führung übernehmen muss. Das ist ihr Job. Das heißt aber eben NICHT bestimmen oder durch Notendruck und Bewertung (heimlich) lenken, sondern einen Prozess kleinschrittig aufbauen und mit großer Konsequenz begleiten, der nach vielen einzelnen Erkenntnis-Stufen die Jugendlichen irgendwann dahin bringt, dass sie selbst führen können, dass sie selbst die Augaben der Schildkröte übernehmen können.

Dieser Prozess passiert auf keinen Fall von ganz allein. Dieser Prozess ist harte Arbeit. Und er gilt überall. Auch bei erwachsenen Menschen. Das ist das Thema Führung. Bin ich ein Chef, der seine Mitarbeiter zu eigenständigem kreativen Denken und Handeln bringt oder führe ich ein hierarchisches System, in dem alle sich an meiner Erwartung ausrichten? Wir wissen heute, dass selbständig denkende und handelnde Teams wesentlich mehr Qualität erzeugen, als Mitarbeiter, die sich in allem nach den Erwartungen ihres Chefs ausrichten. Denn solche Mitarbeiter können keine eigenen Entscheidungen treffen und ihr ganzes eigenes Potential, das sie einbringen könnten, bleibt ungenutzt. Dennoch braucht es auch da jemanden, der diesen Prozess verantwortet! Ohne eine Schildkröte klappt es nicht. (Das sehen wir auch bei schein-demokratischen Gruppen, wo alle „alles gemeinsam entscheiden wollen“, aber in Wahrheit jeder einzelne nur an sich selber denkt und eigene Ziele verfolgt, die nichts mit dem GEMEINSAMEN Anliegen zu tun haben). Es braucht immer mindestens einen Menschen, der nicht an sich selber denkt, sondern an das gemeinsame Ziel, und der sich nicht zu schade ist, Verantwortung zu übernehmen. Und je mehr davon, desto besser.

Aber bleiben wir vorerst beim Thema Bildung, wo das alles ja seinen Anfang nimmt. Der Anfang besteht darin, dass ungleiche Machtverhältnisse gesehen und ausgehebelt werden, damit eine gleichwertige und produktive fließende Kommunikation entsteht und alle Selbstwert entwickeln und dann schrittweise auf dieser Basis auch Verantwortung und Führung übernehmen können.

Das Bild der Schildkröte habe ich deshalb gewählt, weil damit bestimmte Assoziationen verbunden sind, die für dieses Ziel, also Aspekte einer guten Führung, stehen:

Die Schildkröte setzt auf Zeit und denkt und handelt auf ein übergeordnetes gemeinsames Ziel bezogen und im Sinne aller Mitglieder der Gruppe. Sie erwartet keine kurzfristigen Erfolge. Die Schildkröte bleibt äußerlich meistens im Hintergrund, sie scheint „nichts zu tun“, bewirkt aber langfristig sehr viel mehr als andere Führungstypen. Sich zunächst einmal an diesem Bild zu orientieren, weist in die richtige Richtung, und hilft dabei, sich zu disziplinieren, wenn wir mal wieder aus dem Anzug hüpfen wollen oder beleidigt sind, weil wir nicht genug Anerkennung bekommen (das wäre nämlich innen tief, Eine Kläffer-Haltung).

Das ist der erste Schritt. Die Schildkröte ist ein Bild für den sogenannten vierten Statustyp in der Statuslehre, der innen hoch ist und außen meistens tief agiert. Innen hoch heißt: Zu wissen, ich bin verantwortlich für diese Menschen und dafür, dass sie erfolgreich sein können. Niemand sonst. Wenn was schief geht, ist es MEINE Verantwortung. Ich muss den Prozess so planen, bauen und halten, dass „sie alle Glückskinder werden“.

Ich begegne auf der Reise dahin vielen vielen Hindernissen und Ungerechtigkeiten aber das halte ich aus und verliere nicht meine grundsätzlich Haltung zum Ganzen: Ich jammere nicht und rechtfertige mich nicht nach außen. (Da wäre dieser Satz der Queen hilfreich: Never complain, never explain).

Ob ich erfolgreich mit meiner Aufgabe bin, lässt sich alleine daran ablesen, wie selbständig und frei die Gruppe miteinander wird und wie sehr die einzelnen zu ihrer jeweiligen Hochform auflaufen.

Ich erlaube mir Fehler und Rückschläge, denn die gehören dazu. Und das lebe ich auch den Jugendlichen vor. Kurz: Ich lebe ihnen vor, wie es ist, Verantwortung zu tragen und bin darin vollkommen transparent. So dass sie das eines Tages auch selbst können.

Ich stelle mich zur Verfügung und bin stark genug, wirklich in ihre Bedürfnisse und Voraussetzungen einzusteigen, mich auf sie einzulassen und Risiken einzugehen. Risiken, selbst auch mal zu scheitern und nicht zu wissen, wo es jetzt hingeht, denn es ist wichtig, dass mein eigenes Wissen und meine eigene Perspektive auch übertroffen, überschritten werden kann:

Nicht ich allein besitze das Wissen der Welt, sondern nur eine winzige kleine Wissensecke davon. Wenn ich gut führe, erfahre ich eine Menge und kann die Grundlage dafür schaffen, dass im Raum sehr viel mehr entsteht, als was ich mir nur alleine ausdenken könnte.

Wichtig aber ist, dass ich eine menschliche Kultur gegenseitiger Wertschätzung etabliere und gegen alle Widerstände halten kann. Und dafür muss ich auch Grenzen setzen und streng sein. Dafür muss ich auch den Mut haben, mich unbeliebt zu machen und Widerstände auszuhalten. Aber niemals im Sinne von Dominanz oder Protektionismus. (Das habe ich jetzt alles mit „ich“ formuliert, aber ich meine nicht, dass ICH das jetzt alles so toll hinkriege, sondern das ist sprachlich die Vermeidung der „man-Sätze“. Ich glaube, dass dies die Anforderungen sind und bin selbst tagtäglich nur immer wieder auf dem Weg dahin!)

Innen hoch heißt:

Die schwerste und gleichzeitig bescheidenste Aufgabe zu übernehmen, die es gibt: ANDERE dabei zu unterstützen, groß zu werden und mich irgendwann nicht mehr zu brauchen.

Ich habe persönlich die Erfahrung gemacht, dass ich im Referendariat nicht gelernt habe, WIE ich einen solchen Prozess plane, baue und halte. Ich habe nur gelernt, wie man Inhalte vermittelt und eine Horde von Kindern zur Anpassung bringt (zwingt). Und daran glaube ich nicht mehr.

Deswegen habe ich Strategien entwickelt, die sehr konkret dazu führen können, dass das Wunder von selbständigem Denken und verantwortungsvollem Handeln gelingen kann. Nicht immer, aber immer öfter. Diese Strategien möchte ich vermitteln und transparent machen. Ich habe sie in Publikationen beschrieben, weiß aber, dass das nicht reicht und alles Wissen beweglich ist:

Jeder muss diese Strategien selbst für sich erfahren, individuell anwenden und eigene Vorgehensweisen damit entwickeln. Dafür ist dieses Tutorial (Konzept-Staffel „Rede mal ordentlich, Frau Plath“) gedacht – meine Bücher und die Karten und die Workshops, usw. Alles Angebote, um einen eigenen Weg damit zu finden.

Das Bild der Schildkröte ist eine Abkürzung ins Gehirn, um die Haltung, die hinter diesem Ansatz steht, zu veranschaulichen. Wir haben schon genügend Löwen im Bildungssystem – oder Löwenbändiger*innen – ich bin aber ziemlich sicher: Wir brauchen viel mehr Schildkröten. Die auf Zeit setzen, nicht aufgeben, vieles erleben und ertragen, von außen drauf schauen können, liebevoll auf den Menschen blicken und trotz aller Schwierigkeiten vergnügt und gelassen bleiben. Denn die Welt ist so, wie sie ist, und was wir nicht ändern können, können wir eben nicht ändern. Aber langfristig wird die Welt besser – und zwar nicht unwesentlich durch mehr Schildkröten….

Und hier die ersten beiden Folgen zur neuen Konzept-Staffel „Rede mal ordentlich, Frau Plath!“:

Folge 1 

https://youtu.be/UeBBH0Nbce4

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Folge 2 

https://youtu.be/5Uj-4zviqj8

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